Drittes Kapitel

Mit ausdrucksloser Miene sah Nomi zu, wie sie den Flötenspieler davontrugen. Würdelos und steif wie ein Brett hing der Gebannte zwischen Kavi und dem Mann, der auch vor ein paar Tagen schon Meister Hemon zur Seite gestanden hatte und ließ sich zur Halle der Wirker schleppen - er konnte sich nicht wehren. Gebannt war gebannt. Für Nomi war es ein ungewohnter Anblick. Dafür wußte er aber genau, wie sich der Fremde jetzt fühlen mußte, und wie, wenn er wieder zu sich kam. Er tat ihm leid. Nomi wünschte niemandem, auf diese Weise gebannt zu werden. Aber es war soviel einfacher, einen Zauber einzusetzen als Worte - niemand konnte von einem Wirker erwarten, daß er sagte ‘Entschuldige, aber du mußt jetzt mit uns kommen’ - es sei denn, er hatte niemanden zum Tragen dabei. Noch ein Grund, warum Wirker niemals allein auftraten…
Nomi ging hinter ihnen her, ungefragt, aber sie schickten ihn nicht fort. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn er jetzt versucht hätte wegzurennen? So folgte Nomi ihnen lieber, wortlos, mit langsamen Schritten. Zumindest war es tröstlich, daß er einmal nicht selbst der Schuldige war. Da sollten sie doch lieber den Flötenspieler bannen.
Meister Hemon blieb kurz stehen und wartete auf Nomi, um ihm dann eine Hand auf die Schulter zu legen. »Du mußt keine Angst haben, Nomi. Er kann dir nichts mehr tun.«
Nomi hätte ihn gerne abgeschüttelt, aber er wagte es nicht. Zu viele Wirker, und zu viele Leute, die neugierig in ihren Fensten hingen und sich das Schauspiel nicht entgehen ließen. Manche ließen die Prozession vorüberziehen, um dann in sicherem Abstand hinterherzuschleichen - das war ein Schauspiel, das sich niemand entgehenlassen wollte. Da hätten sie den ganzen Tag lang Zeit gehabt, sich den geheimnisvollen Fremden anzusehen, als er noch auf den Schulstufen saß - aber da wollte ihn ja niemand bemerken, und jetzt galt es das nachzuholen. Nomi seufzte.
»Er hat mir nichts getan«, sagte er ruhig. »Er hat es nicht einmal versucht. Er hat sich nur mit mir unterhalten. Und ich habe damit angefangen.«
»Es ist in Ordnung«, erwiderte Meister Hemon mit väterlicher, beruhigender Stimme, als spräche er mit einem verschüchterten kleinen Jungen, der Nomi schon lange nicht mehr wahr. »Du mußt dich nicht rechtfertigen. Niemand macht dir irgendwelche Vorwürfe. Du warst sehr tapfer.«
Nomi wandte den Kopf zur Seite und blickte dem alten Mann direkt in die Augen. Sie waren blau, aber nicht funken sprühend wie die des Flötenspielers - ein sanft glitzerndes helles blau, wie müdes Wasser. Seine Pupillen schwammen irgendwo in der Mitte, farblich kaum noch vom Rest zu unterscheiden. »Meint Ihr - jetzt?« fragte er leise. »Oder meint Ihr - damals?«
Hemon zwinkerte und brach Nomis Blick. »Ich weiß nicht, was du meinst«, antwortete er.
»Doch, das wißt ihr.« Nomi zwang ihm wieder seinen Blick auf, und diesmal sollte er nicht ausweichen können. »Meine Mutter hat mir alles erzählt. Ihr könnt aufhören zu lügen.«
Meister Hemon lächelte, verlegen oder unsicher. »Was hat sie dir denn erzählt?«
»Meine Eltern«, antwortete Nomi knapp. »Der Schatten. Die Sha-ura. Ihr habt mich gerettet. Schon vergessen?« Er lächelte böse. »So wie Ihr dafür gesorgt habt, daß ich alles vergessen habe.«
»Bitte, Nomi, nicht jetzt.« Der alte Mann ließ Nomis Schulter los und entwand sich auch des Blickes. »Wir können ein andermal darüber sprechen, nicht jetzt.«
Mit dem Kinn wies Nomi auf den reglosen Flötenspieler. »Nein? Meint Ihr nicht, daß dieser Mann etwas damit zu tun haben kann, oder mit mir?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Meister Hemon. »Das können wir unmöglich sagen. Mach dir keine Sorgen, Nomi. Es wird alles gut.«
»Ich habe mir keine Sorgen gemacht«, sagte Nomi. »Ich habe mich einfach nur mit einem interessanten Mann unterhalten, der ein wandernder Flötenspieler ist, bis Kavi einen Papierbann auf ihn schleudern mußte, ohne jeden Grund. Der Mann hat nichts getan, wirklich nichts. Wenn Ihr nicht alle viel mehr wißt als ich und er etwas damit zu tun hat - warum habt Ihr ihn dann gebannt? Und was werdet Ihr jetzt mit ihm tun?«
Meister Hemon seufte und lächelte dann. »Das ist alles nur zu deinem Schutz, Nomi. Wir können nicht vorsichtig genug sein. Und solange wir nicht wissen, was dieser Mann ist -«
»Ihr hättet fragen können!« fiel ihm Nomi ins Wort.
»Ja, aber sagt er die Wahrheit? Das können nicht wissen. Noch nicht. Bald… bald können wir sicher sein.«
»Was werdet Ihr mit ihm machen?« fragte Nomi. »Wenn er sich entscheidet, Eure Fragen nicht zu beantworten - werdet Ihr ihn dann foltern?«
Hemon hob eine Hand, und einen Moment lang sah es so aus, als wolle er Nomi den Kopf tätscheln, doch er war noch genug bei Verstand, um das nicht zu tun. »Keine Angst, Nomi, es wird alles mit rechten Dingen zugehen. Niemand wird gefoltert im Namen des Lichts.«
»Aber vielleicht in einem anderen Namen?« fragte Nomi. Sie waren jetzt bald an der Halle angekommen. Es war an der Zeit, diese Unterhaltung zu einem Ende zu bringen, denn sonst würde Hemon sie gleich abbrechen, sich entschuldigen und Nomi stehen lassen. »Was immer Ihr tut, ich will dabei sein.«
»Das geht nicht!« antwortete Meister Hemon, ein wenig zu schnell und ein wenig zu heftig. Und er merkte es selbst, denn er setzte bedächtig und väterlich hinterher: »Schau, Nomi, es kann gefährlich werden. Wir werden vielleicht gezwungen sein, mächtige Magie einzusetzen, und weder wollen wir auf dich Rücksicht nehmen müssen, noch riskieren, daß dir etwas zustößt.«
»Ich glaube, Ihr versteht mich nicht«, sagte Nomi. »Das war keine Frage und keine Bitte. Es war eine Feststellung. Ich werde nichts tun. Ich werde Euch nicht unterbrechen und Euch gewähren lassen, was auch immer Ihr mit diesem Mann tut. Aber ich will alles mitansehen und alles mitanhören. Ich werde für die Wahrheit kämpfen. Aber ich bin mein Leben lang angelogen worden - von allen, auch von Euch. Ich weiß nicht, ob das Licht wahr ist oder das Dunkel. Ich werde es herausfinden. Aber nur mit meinen eigenen Augen und Ohren. Sonst traue ich niemandem mehr.« Er lächelte. »Und ich traue auch dem Flötenspieler nicht, falls es das ist, was Ihr befürchtet. Aber ich will hören, was er sagt, und mir meinen eigenen Reim darauf machen. Ihr könnt es mir nicht verbieten. Ihr könnt es versuchen, aber dann… riskiert Ihr mehr, als Ihr gewinnen könnt.«
Meister Hemon zögerte. Das hieß, er nahm die Drohung zumindest ernst genug. Dann sagte er: »Nomi…«
»Was ist mit Euch, Hemon?« fragte der Wirker, dessen Name Nomi immer noch nicht kannte. »Was steht Ihr hier mit dem Jungen herum?« Er klang ungeduldig, und daß er das gegenüber seinem Großmeister zeigte, war interessant.
Nomi blickte Hemon mit schiefgelegtem Kopf an, abwartend, lächelnd, böse. Er tippte leicht seine Fingerspitzen gegeneinander. Nun kam es ganz drauf an…
»Nomi wird dem Verhör beiwohnen«, sagte Meister Hemon mit seiner ganzen väterlichen Autorität. »Er ist ein wichtiger Zeuge, falls dieser… Fremde nicht sprechen will.«
Der andere Mann schüttelte den Kopf. »Falls er nicht sprechen will, gibt es andere Möglichkeiten.«
»Das habt nicht Ihr zu entscheiden!« schnappte Hemon. »Achtet auf Eure Worte, Andor, und stellt nicht die meinen in Frage.«
Andor. Ein Name, den Nomi sich vielleicht merken sollte. Er nickte dem Mann zu, als er den Wirkern in die Halle folgte.

Es gab zwei wirklich bemerkenswerte Gebäude in Tolai: Das eine war der Turm, zweifelsohne. Die Stadt war in Ringen um ihn herum gebaut, die Strahlstraßen gingen von ihm aus, und wenn man ihn nicht einfach nur ‘Turm’ nannte, weil man es nicht mehr anders kannte oder einfach nur an ihn gewöhnt war, hieß er Shil-ethey, die Lichtsäule. Man konnte keinen Fuß nach Tolai setzen, ohne seiner ehrfurchtsgebietenden Präsenz anheimzufallen, und er war so wichtig wie das Licht selbst, das es ohne ihn in dieser Stadt, sogar im ganzen Land nicht gegeben hätte. Wäre Nomi nicht auf seine Plattform gestiegen, sondern ins die allerheiligste Kuppel eingedrungen, man hätte ihn schwerlich leben gelassen, Auserwählter oder nicht. Das also war das eine bedeutende Gebäude.
Das andere war die Halle der Wirker. Und das wußte kaum jemand. Nur wer einmal darin gewesen war, wer die Wunder kannte, die dort warteten, nannte sie vielleicht sogar noch vor dem Turm, wenn es um die bedeutsamsten Bauwerke der Stadt ging.
Nomi holte tief Luft, bevor er eintrat, und legte eine Hand um seinen Talisman. Er wußte, was ihn erwartete. Und es war das erste Mal seit langer Zeit, daß der diesen Ort freiwillig betrat. Oder daß er ihn überhaupt betrat. Denn für gewöhnlich wurde er die Stufen hoch getragen, im gleichen reglosen Zustand wie der Flötenspieler. Und einen Moment lang hatte er Angst. Schon der Torbogen, aus weißem Sandstein wie die Halle, wie jedes Haus der Stadt, war von oben bis unten verziert mit eingemeißelten Bannzeichen. Und zur Zierde dienten die sicher nicht. Nomi wartete, bis alle anderen im Gebäude waren, den gebannten Mann eingeschlossen, und als der dabei nicht in Flammen aufging, nahm Nomi seinen Mut zusammen und folgte ihnen. Er dachte vielleicht dunkel. Aber der Rest von ihm war Licht.
»Warte hier«, sagte Meister Hemon. »Dir wird nichts entgehen, das verspreche ich dir. Aber wir müssen zuerst einmal… Vorkehrungen treffen.« Nomi entging nicht ohne bittere Befriedigung der säuerliche Tonfall des Wirkers. Es gefiel ihm deutlich besser als die vertrauliche Überheblichkeit, die der Mann sonst an den Tag legte.
»Das werde ich«, erwiderte Nomi. »Aber ich warne Euch - wenn Ihr mich hintergehen solltet, werde ich das erfahren, früher oder später. Und selbst später würde mir noch genügen.«
Er setzte sich neben der Tür auf den Boden. Eine Eingangs- oder Wartehalle gab es nicht. Ein Schritt über die Schwelle, und er war in der Hochburg der Wirker angelangt. Die Decke war hoch, von spitzbögigen Säulen getragen, und mit weiteren Bannzeichen versehen. Der Boden war mit Salz bestreut - es sah aus wie Sand, aber Nomi wußte es besser. Sie zeichneten Muster hinein, und wehe dem, der sich in deren Mitte befand! Im Vergleich dazu waren Papierzauber Gold. Nomi fegte unauffällig etwas von dem weißen Pulver beiseite, ehe er sich setzte. Sicher war sicher. Salz war kostbar - nicht weiter verwunderlich: Es konnte nicht viel übrig bleiben, wenn die Wirker damit ihren Boden ausstreuten, und das mußten sie immer wieder von neuem machen, denn lange blieb es nicht so schön und weiß. Die Halle sauberzufegen und dann mit neuem Salz in gleichmäßiger Schicht auszustreuen, war die Sache der Akoluten. Kavi jammerte jedesmal darüber, und das war der einzige Moment, wo keiner der anderen Jungen mit ihm tauschen wollte… Aber das geschah ihm recht, dachte Nomi.
Und dann wartete er.
Er sah den Wirkern zu, wie sie den reglosen Flötenspieler auf dem Boden ablegten, in der Mitte der Halle. Noch immer hing ein Papierbann vor der Brust des Mannes - der wievielte es war, konnte Nomi sagen: Hemon und Andor schienen einen unerschöpflichen Vorrat davon in ihren Taschen zu haben, und warum erst noch warten, bis die Wirkung nachließ?
Nomi fragte sich, ob es bei ihm auch immer so aussah, lächerlich verrenkt… Das einzig gute war, daß das Opfer nichts davon mitbekam. Es war eine gnädige Bewußtlosigkeit. Er mußte nicht sehen, wie sie einen Kreis um seinen Körper zogen, und dann den Kreis mit ihren Zeichen umgaben. Nomi konnte es nicht aus der Nähe sehen, und wollte es auch nicht. Das war nur ein Teil der Vorbereitungen, von denen Hemon gesprochen hatte. Der andere Teil geschah im Verborgenen: Hemon war verschwunden. Mit wem er sich jetzt beredete - Nomi wußte es nicht. Auf jeden Fall konnte der Bannkreis nicht so wichtig sein, daß Hemon ihn nicht den niederen Wirkern überlassen mochte.
»Gleich wird es richtig spannend.« Kavi war plötzlich an Nomis Seite und ließ ihn erschrocken zusammen zucken. War er allein vom Zusehen so gebannt, daß er den Jungen nicht mehr kommen hörte? Kavi war nun wirklich nicht der meisterlichste aller Schleicher!
Nomi atmete durch. »Ja«, sagte er dann. »Wenn sie versuchen, ihn zu verhören - ich kann dir jetzt schon sagen, daß sie sich die Zähne an ihm ausbeißen werden.«
»Wieso verhören?« fragte Kavi und hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich will sehen, wie er gleich anfängt zu brennen.«
»Brennen?« Nomi wollte aufspringen, doch er blieb sitzen - er hatte versprochen, sich nicht einzumischen, und es war unklug, jetzt einen Aufstand zu veranstalten, wo so viele Wirker auf einem Fleck versammelt waren und schon Kavi bewiesen hatte, wie locker ihm die Papierzauber saßen. »Aber - Hemon sagte mir…«
Kavi lachte. »Wir können ihn immer noch verhören. Keine Angst, den lassen wir doch nicht ganz verbrennen, erst müssen wir wissen, wie viele von der Sorte hier noch unterwegs sind.«
»Keine«, antwortete Nomi ohne nachzudenken. Er war durch die ganze Stadt gelaufen. Es gab sonst keine Männer mit Hüten. Aber das ging Kavi nichts an. »Und was meinst du jetzt mit brennen? Ihr - ihr könnt doch keinen Menschen anzünden! Ihr kämpft für das Licht!«
Kavi klopfte ihm auf die Schulter. »Keine Angst, wirklich nicht. Wir zünden hier niemanden an. Wir sind die, die ihn retten, bevor ihm zuviel zustößt. Nein, brennen wird er gleich ganz von selbst.«
»Wegen des Bannkreises?« fragte Nomi vorsichtig. Wenn er sich nun geirrt hatte - wenn es ein anderer Kreis wurde als der, den sie sonst immer bei ihm verwendeten?
»Ach, nein.« Kavi schüttelte den Kopf und hockte sich im Schneidersitz neben Nomi. »Die brauchen mich da ohnehin gerade nicht, da kann ich es dir ruhig erzählen - aber ich bin hier weg, wenn es da drüben losgeht. Es ist das Salz, weißt du?«
Nomi zuckte die Schultern, bemüht achtlos, während er sich unauffällig vom Boden abstützte. »Das ist Salz, und?«
Kavi lächelte. »Du solltest es doch wissen. Du bist hier doch schon ein paarmal gebannt worden, oder? Du hast auch in einem Kreis im Salz liegen müssen.«
»Erinner mich nicht daran«, sagte Nomi. »Es…« Nein, er wollte wirklich nicht dran denken.
»Es brennt auf der Haut, ich weiß«, vollendete Kavi den Satz für ihn. »Du hast es mal erzählt. Das Salz ist gebundenes Licht. Darum ist es hier drin auch soviel heller als anderswo. Der Sand ist schon hell, aber nichts schlägt Salz, wenn es darauf ankommt. Das macht dir und mir nichts, und wir müssen hier drin immer barfuß laufen, damit wir zeigen können, daß das Licht mit uns ist. Aber das Tien, das verträgt kein Licht. Bei dir brennt es nur auf der Haut, aber ich sag mal, das was dein Schatten dir an Tien macht, das ist nicht so viel.«
Nomi lachte kurz auf, das konnte er sich nicht verkneifen. Für dieses ‘Nicht so viel’ mußte er schon genug erdulden! »Du hast gut reden!« sagte er.
»Ich meine das ernst«, sagte Kavi. »Das ist das Dunkel. Jemand, der sein ganzes Leben dort verbringt - ich will am liebsten das gar nicht Leben nennen - den durchdringt es so tief, durch und durch, daß er am Ende selbst nur noch wandelndes Tien ist. Und wenn du so einen ins Salz legst - dann fängt er an zu brennen. Ganz von selbst.«
»Und der Bannkreis?« Nomi mußte die Worte hervorwürgen. Ihm war schlecht, und etwas schnürte ihm die Kehle zu.
»Der ist nur, damit er nicht wegläuft.«
Nomi mußte lachen, kein gutes Lachen: Krampfhaft, ein Lachen wie Husten. »Das liebe ich so am Licht!« brachte er dann heraus. »Wir sind lieb, wir sind gut, und wir legen es drauf an, daß ein Mensch verbrennt.«
»Nomi, versteh doch! Das ist keine Folter, das trifft ja nur die, die es verdient haben.«
»Und wenn er nicht aus einem Dunken Land stammt?« fragte Nomi. Er konnte sehen, wie sie dort drüben den Flötenspieler entkleideten - sie zogen ihn vielleicht nicht nackt aus, aber sie nahmen ihm den Mantel ab und lösten seine Roben - Nomi brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß der Mann dabei einen halben Schritt über dem Boden schwebte. Sicher nicht, um ihn vor dem Salz zu schützen, aber damit sie besser dran kamen. Nomi sah auch die vier, die am Rand standen und ihre Finger in Richtung des Flötenspielers ausstreckten - das Schweben war also ihre Magie. Ob sie das auch selbst nutzen konnten, wenn sie barfuß übers Salz laufen mußten, obwohl Tien an ihnen war, von dem niemand wissen durfte? »Wenn er nur durch ein Dunkles Land hindurchgereist ist? Er ist ein Wanderer, du kannst in kein Helles Land kommen, ohne ein Dunkles zu durchqueren!«
»Ach, dann verbrennt er auch nicht.« Kavi winkte ab. »Dann brennt es nur, so wie bei dir. Aber dann muß er ja auch gereinigt werden, es ist also auch in Ordnung.« Er zog die Nase hoch. Auch wenn er kluge Töne spucken konnte und sich am liebsten als der Anführer ihrer Gruppe aufspielte - was er natürlich nicht sein durfte; die Ehre gebührte Nomi allein - war er doch immer noch ein Junge, der nicht nur kleiner war als die anderen, sondern auch noch bestimmt ein oder zwei Jahre jünger. So genau wußte Nomi es nicht. Im Moment konnte er nicht einmal sagen, wie alt er in Wirklichkeit war. Dafür wußte er zu wenig über sich selbst. Alle anderen Jungen kamen ihm manchmal so kindisch vor, verglichen mit ihm selbst…
»Aber sie ziehen ihn aus, damit er besser brennt? Oder doch nur aus Freundlichkeit, damit er hinterher noch etwas zum Anziehen hat?«
Aber jetzt hatte es wohl ein Ende mit Kavis Geduld. »Ach, such’s dir selbst aus, du drehst dir ja sowieso alles, wie es dir paßt. Ich geh und schau mir das jetzt aus der Nähe an. Du kannst von mir aus hier sitzen bleiben, wenn es dir so paßt.«
Es paßte Nomi ganz und gar nicht. Ihm war übel, dabei hatte es ja noch gar nicht richtig angefangen. Er suchte Meister Hemon mit den Augen und stellte fest, daß der inzwischen wieder aufgetaucht war. Er stand bei den Wirkern am Bannkreis. Aber außer ihm - und Kavi - war sonst niemand hinzugekommen. Was auch immer der Großmeister getan hatte, oder mit wem gesprochen, war nicht hier. Und auch wenn es auf den ersten Blick nur die große Halle gab, hatte sie doch auch Nischen und Winkel und Orte, an denen man sich unbeobachtete fühlen konnte - aber Nomi kannte sich hier nicht gut genug aus um zu wissen, wo. Die Wirker gefielen ihm immer weniger. In diesem Moment versuchte er gar nicht erst, nicht auf der Seite des Flötenspielers zu sein, und wenn er zehnmal aus dem Dunklen kam, und selbst wenn er Nomi verschleppen wollte, selbst umbringen sollte er ihn wollen dürfen - noch hatte er nichts getan. Noch konnte es ebensogut Nomi sein, der dort lag.
Nomi stand auf und folgte Kavi zum Bannkreis, auch wenn er in ein paar Schritten Entfernung stehenblieb, statt sich direkt zu den Wirkern zu stellen. Die Luft roch nach Rauch, und er bemühte sich, nicht zuviel davon einzuatmen. In der Nähe des Ausgangs war die Luft deutlich besser, und Nomi wollte einen klaren Kopf behalten, aber er war auch neugierig und wollte sehen können.
Inzwischen hatten sie also den Flötenspieler bis auf sein Untergewand entkleidet, daß man seine bleichen Arme und Beine sehen konnte, so erschreckend dünn wie seine Finger. Seine Augen waren geschlossen, und der schulterlange Zopf hatte sich halb gelöst, die Haare hingen unordentlich nach unten, während der Mann immer noch in der Luft hing wie ein Toter. Er sah kläglich aus und würdelos, aber das Schlimmste war nicht sein halboffen stehender Mund, als ob man ihn mitten im Wort aus dem Leben gerissen hätte, sondern die linke Hand, die immer noch eine Flöte hielt, die längst nicht mehr da war.
Langsam ließen die vier Wirker, die wie ein Quadrat um den Kreis standen, ihr Opfer sinken, bis es auf dem Salz lag, mit bloßen Armen und Beinen, daß er auch wirklich gut brennen sollte, doch er brannte nicht. Noch schien auch niemand damit zu rechnen. Erst mußte jemand das Bannpapier von seiner Brust abziehen. Und dann…
Dann traten alle einen Schritt zurück und warteten ab. Es wollte ja niemand riskieren, daß die eigenen Roben Feuer fingen, wenn sich der brennende Mann im Salzkreis hin und her warf. Auch Nomi wartete.
Vom Bannzauber befreit, kam langsam wieder Leben in den Mann. Das erste, was sich bewegte, waren seine Hände - sie lösten sich und schlossen sich wieder, und da es nichts für sie zum Halten gab, ließen sie wieder locker. Dann schloß er den Mund. Einen Moment lang sah es aus wie ein Lächeln. Und dann setzte sich der Flötenspieler auf und öffnete die Augen. Er sah sich um, nach links, nach rechts, er blickte wach und aufmerksam an den Männern, die ihn umringten, hinauf und wieder hinunter. Dann trafen seine Augen Nomis, und sie nickten einander zu, ganz knapp nur und wortlos, aber wissend. Nur eines tat er nicht: Brennen.
In die Wirker kam leichte Unruhe. Das war nicht, was sie erwartet hatten. Nomi unterdrückte ein Lächeln. Und Kavi hatte sich so sehr auf den brennenden Mann gefreut!
Die Wirker waren zu alt, und hatten sich zu gut unter Kontrolle, um zu tuscheln, aber ihre Blicke sprachen Bände. Der Flötenspieler stand in ihre Mitte, im Hemd, aufrecht, barfuß im Salz, und es gab keinen Zweifel daran, daß es ihm nicht ausmachte. Oder zumindest machte ihm das Salz weniger aus als die Blicke.
»Wenn Ihr gesehen habt, was Ihr sehen wolltet«, sagte er, »hätte ich gerne meine Kleider wieder. Und meine Flöte, und meinen Hut.« Sein Blick sagte ‘und meine Würde’, aber zumindest seiner Stimme war davon nichts anzumerken; er sprach genauso bedächtig wie vor der Schule mit Nomi. Er machte einen Schritt vorwärts in Richtung des säuberlich gefalteten Stapels, als der seine Kleidung neben dem Kreis abgelegt war.
»Halt!« rief Hemon. »Ihr rührt Euch nicht, bevor wir es Euch gestatten.«
Der Flötenspieler nickte. »Richtig. Und den Bann habt Ihr soeben entfernt. Darum bewege ich mich jetzt wieder.« Mit einem angedeuteten Nicken und einem deutlichen Lächeln hob er einen Fuß über die Begrenzung des Bannkreises.
Nomi riß vor Erstaunen Mund und Augen auf und mußte sich zwingen, zumindest den Mund wieder zu schließen. Das war ein Bannkreis! Wenn man drin saß, war es unmöglich, sich der Linie und den Symbolen auch nur zu nähern! Nomi fühlte das lähmende Gefühl allein bei dem Anblick am eigenen Leib. Doch den Flötenspieler schien das nicht zu interessieren. Er hob den Fuß, bis er fast über der Linie war - Nomi sah Meister Hemon schon mit einer Hand an seiner Tasche, bereit, den nächsten Bann zu werfen - aber statt dessen machte der Gefangene einen Schritt rückwärts, und lachte.
»Für was haltet Ihr mich?« fragte er.
Nomi atmete erleichtert auf. Jemand, der in der Lage war, einen Bannkreis zu verlassen - der hätte ihm Angst gemacht. Jemand, der mächtiger war als alle Wirker von Tolai zusammen… Aber statt dessen wollte der Flötenspieler doch wohl nur sehen, wie sie reagieren würden.
»Ich sagte, Ihr rührt Euch nicht!« wiederholte Meister Hemon. Seine Stimme hallte laut und ehrfurchtserbietend durch die Halle. Doch die Antwort, die er bekam, weniger als halb so laut, flößte Nomi weit mehr Respekt ein. Denn laut konnte jeder.
»Stellt Eure Fragen. Ob ich nicht antworte, weil ich nicht antworten will, oder weil ich nicht kann, weil gebannt bin, macht vielleicht für Euch keinen Unterschied, aber für mich.« Mit der Spitze seines Zehs zog er eine Linie ins Salz, während er redete. Nur eine Linie, kein Bannzeichen, aber wieder hielten alle für einen Moment den Atem an.
Meister Hemon mochte keine Widerworte, und erst recht keine Drohungen und Andeutungen. Und gegen diesen Fremden konnte er sich auch das väterliche Gehabe sparen. »Ich stelle hier die Fragen!« sagte er fest.
»Dann stellt sie. Aber ich werde sie nicht lieber beantworten, wenn ich nicht nackt vor Euch stehe.« Der Flötenspieler blickte kurz und mit sichtbarem Mißfallen an seinem kläglich dargebotenen Körper hinunter. »Oder muß ich mich erst noch einmal in diesem Salz wälzen, damit Ihr zufrieden seid?«
»Ihr werdet im Salz bleiben, auch wenn es Eure Füße verbrennt«, entgegnete Hemon, nicht ohne zufriedenen Hohn. »Und freut Euch Eures Glücks, daß nicht Euer ganzer Körper in Flammen aufgangen ist!«
»Es brennt nicht«, antwortete der Flötenspieler. »Warum sollte es? Das ist Salz, kein Kalk. Und Ihr seid selbst barfuß.«
»Wir«, sagte Meister Hemon, »sind auch nicht vom Tien durchzogen wie Ihr.«
»Bin ich das?« fragte der Flötenspieler ruhig zurück.
»Unmöglich, daß Ihr es nicht seid.« Man mußte schon Meister Hemon sein, um diesen Satz mit soviel Selbstvertrauen auszusprechen angesichts Tatsachen, die etwas anderes behaupteten.
»Dann schaut her.« Der Flötenspieler bückte sich und nahm mit den Händen einen kleinen Haufen Salz vom Boden auf. Er hielt es eine Weile ruhig, bot die Hände nach links und rechts dar, damit alle, die um den Kreis standen, es sehen konnten, und hob dann die Arme, um das Salz von oben über seinen ganzen Körper rieseln zu lassen, langsam, bedächtig. Danach zeigte er wiederum den Wirkern seine Handflächen. Es klebten noch ein paar Salzkörner daran, doch sie waren unversehrt, ohne Rötungen oder Blasen.
»Aber - das kann nicht sein!« entfuhr es einem der Männer. »Er ist eine Kreatur des Dunkels! Wie kann er ohne Tien sein?«
Der Flötenspieler senkte die Hände und den Blick. »Wer sagt, daß ich eine Kreatur des Dunkels bin?«
»Das behauptet niemand«, antwortete Hemon, jetzt mit deutlich beschwichtigendem Tonfall. »Aber was hatten wir für eine Wahl, als das anzunehmen? Ihr taucht auf wie aus dem Nichts, Ihr schleicht Euch mit einer Tarnkappe in unsere Stadt ein, und hätte dieser Akolut Euch nicht aufgehalten, wer weiß was Ihr mit dem Jungen gemacht hättet? Was hättet Ihr sein sollen als ein Agent des Dunkels?«
»Ihr hättet ihn fragen können«, sagte Nomi laut. Vergessen das Versprechen, sich nicht einzumischen. Die Wirker waren hier im Unrecht, das hob alle Versprechen auf.
Meister Hemon fuhr herum. »Du hältst dich hier raus, Nomi!«
»Nein!« Nomi machte einen Schritt rückwärts - er wußte ziemlich genau, wie weit Hemon seine Papierzauber werfen konnte. »Ich will aussagen. Jetzt.«
»Jetzt nicht«, sagte Meister Hemon. »Später, ja. Erst befragen wir diesen… Mann.« Er nickte seinen Wirkern zu. »Und gebt ihm seine Kleider wieder, um des Lichtes Willen.«
Der Flötenspieler durfte sich wieder ankleiden, langsam und ohne Hast. Was er nicht durfte, war den Kreis verlassen, und alle Augen waren immer noch auf ihn gerichtet. Da zumindest hatte Nomi es besser, er durfte sich immer hinter einem Wandschirm anziehen, wenn man ihn gebannt hatte. Es mußte schrecklich sein, so angestarrt zu werden…
»Wir stellen Euch gleich ein paar Fragen«, erklärte Meister Hemon seinem Opfer. »Aber Ihr werdet in diesem Kreis bleiben, bis wir wissen, woran wir bei Euch sind - oder bis der Zauber verflogen ist, der Euch vor den Auswirkungen des Salzes schützt.« Er allein mochte wissen, woher ein gebannter und so gut wie nackter Mann einen solchen Zauber nehmen sollte. »Hatte er Talismane bei sich?« fragte Hemon die Männer, die den Flötenspieler ausgezogen hatten. »Oder sonst etwas ungewöhnliches?« Keine Frage, der Fremde war noch nicht aus dem Schlimmsten heraus!
»Nur meine Flöte«, antwortete der Mann an Stelle der Wirker. »Und ich hätte sie gerne wieder. Euch nützt sie nichts.«
»So?« fragte Meister Hemon, unschuldig und zugleich berechnend. »Und was wollt Ihr mit ihr?«
»Mich weniger nackt fühlen«, sagte der Mann. »Ich bin ein Flötenspieler. Ohne meine Flöte bin ich nichts.«
»Ihr werdet Sie zurückerhalten«, antwortete der Erste Wirker. »Nachdem wir sie gereinigt haben. Wenn sie von einem Geist besessen ist, werden wir das merken.«
Der Flötenspieler lächelte und schüttelte den Kopf. »Es ist eine Flöte. Reinigt sie, soviel Ihr wollt. Es wird immer eine Flöte bleiben. Und zwar meine Flöte.«
Der Erste Wirker schüttelte den Kopf. »So kommen wir hier nicht weiter. Wer seid Ihr? Und was seid Ihr wirklich?«
»Warum stellt Ihr keine Fragen, die ich beantworten kann?« fragte der Flötenspieler zurück.
»Ihr versteht Eure Lage nicht.« Hemon begann, mit langsamen Schritten den Kreis zu umrunden. »Ihr sitzt in einem Bannkreis. Ihr mögt Euch ein Vergnügen daraus machen, uns zu verhöhnen und die Antwort zu verweigern - und daß Ihr wißt, daß in diesem Lande niemand gefoltert wird« - war das etwa ein Seitenblick zu Nomi? - »läßt Euch glauben, Ihr wäret uns überlegen. Aber eines sage ich Euch: Wenn ich meine Antworten nicht bekomme, werdet Ihr in diesem Kreis alt werden.«
‘Und Ihr noch älter’, dachte Nomi und hielt den Mund.
»Spätestens der Hunger und der Durst werden die Antworten aus Euch hinaustreiben.« Jetzt war Hemon einmal herum. »Und wir haben noch andere Möglichkeiten, Euch auf Spuren des Dunkels zu untersuchen - aber diese wären für Euch deutlich unangenehmer als ein paar Antworten.«
Unangenehmer als bei lebendigem Leib zu verbrennen? Aber keine Folter? Nomi schüttelte sich.
»Scht! Nomi!« Neben ihm stand Kavi. Zumindest hatte Nomi ihn dieses Mal kommen gehört. »Was sagst du?«
»Gar nichts«, flüsterte Nomi zurück. Er wollte nicht mit Kavi plaudern - er wollte hören, was der Flötenspieler diesmal zu Meister Hemon zu sagen hatte.
»Hast du gewußt, daß das passieren würde?« fragte Kavi weiter.
Nomi zuckte die Schultern. »Ich weiß hier gar nichts.«
»Es wäre einfacher, wenn Ihr andere Fragen stellen würdet«, sagte der Flötenspieler.
»Wer ist dieser Mann?« zischte Kavi.
»Wie Ihr wollt«, erwiderte Hemon. »Dann fangen wir mit den einfachen Dingen an. Sagt mir Euren Namen!«
»Ist das eine Frage?« fragte der Flötenspieler.
Nomi wollte schon lachen, sogar laut - wie der Mann die Wirker hier vorführte, das war etwas, das sich Nomi sein Leben lang gewünscht hatte - aber was dann geschah, ließ ihm den Atem stocken und erwürgte das Lachen in seiner Kehle.
»Ihr habt es so gewollt«, sagte Hemon. Er selbst rührte keinen Finger, er nickte nur einem der anderen Wirker zu - Nomi brauchte einen Moment, um darin Andor zu erkennen. Der nickte. Dann sprach er ein paar knappe Silben, die Nomi nicht hören konnte; er sah nur die Bewegung der Lippen - und malte mit den ausgestreckten Fingern seiner linken Hand ein eckiges Muster in die Luft.
Kavi packte Nomi beim Arm. »Das ist - das ist -«, keuchte er atemlos. Aber Nomi wollte Kavi nicht hören, und er wollte nicht wissen, was das war. Eigentlich wollte er sich nicht einmal sehen.
Der Mann im Kreis zuckte zusammen, dann machte er eine Bewegung, als räkle er sich, aber es war kein Räkeln. Maßloses Entsetzen verzerrte sein Gesicht. Mit weit aufgerissenen Augen ging er auf Hände und Knie, als hätte ihm etwas den Boden unter den Füßen weggerissen.
Nomi wußte nicht, wo er hinsehen sollte - er wollte nicht mitansehen müssen, was jetzt geschah; er ahnte, daß es etwas Schreckliches, etwas ganz und gar Entsetzliches. Aber als er beiseite schaute, blickte er als erstes in Kavis faszinierte Aufregung, dann in die gelassene, kalte Ruhe in Andors Gesicht… Nomi schüttelte sich.
»Was tut er da?« Er konnte die Frage nicht mehr zurück halten. »Er soll damit aufhören! Der Mann hat doch nichts getan! Und er hat bewiesen, daß kein Tien an ihm ist! Aber Andor quält ihn -«
»Ach, sei still!« fauchte Kavi. »Guck doch hin! Meister Andor tut ihm gar nichts.« Aber was immer dieses ‘gar nichts’ war, Kavi schien sich in dem Moment nichts großartigeres vorstellen können.
»Du machst mich krank.« Nomi trat zur Seite. Am liebsten wäre er einfach gegangen. Aber er konnte nicht. Er mußte wissen, was hier vor sich ging.
Der Flötenspieler gab ein paar gurgelnde Laute von sich. Er beugte sich tiefer, bis sein Gesicht fast über dem Boden war. Seine Hand krampfte sich um das Salz zusammen, dann hob er den Arm an und schob sich das Salz in den Mund. Von den Schultern ausgehend, zitterte der ganze Körper des Mannes, als er den Mund schloß, und die Augen traten ihm fast aus dem Kopf, als er schluckte. Dann machte Andor eine abwinkende Geste. Der Flötenspieler sank in sich zusammen.
»Und nun«, sagte Meister Hemon ungerührt, »wo wir uns verstehen - nennt mir Euren Namen!«
Der Flötenspieler lag am Boden. Er zitterte noch immer. Sein Atem ging rasselnd. Dann hob er den Kopf. Das Funkeln in seinen Augen war verloschen. Sie waren immer noch blau, aber er hätte ebenso gut blind sein können. Er blickte niemanden an, als er anfing, Worte hervorzuwürgen. »Mein Name… ist… Shen. Und ich… bin…« Langsam fing der Mann an, sich wieder aufzurappeln. »Ein… wandernder… Flötenspieler.« Er stand wieder auf seinen Füßen. »Sonst nichts.«

Das schlimmste in diesem Moment war nicht der Anblick des Mannes, dem rote Flecken im Gesicht brannten, Salz am Kinn klebte und ein Faden Speichel aus dem Mundwinkel rann. Es war Andors Lächeln. Und die Art, wie er seine Hände hielt, erwartungsfroh, als freue er sich schon auf seinen nächsten Zauber. Nomi war schlecht vor Wut. Er wagte es nicht einmal mehr, zu Kavi hinzusehen, aus Angst, daß auch der lachte - denn es gab sicher kaum etwas gefährlicheres, als einem Akoluten in der Halle der Wirker die Faust ins Gesicht zu rammen.
Wenigstens Meister Hemon lachte nicht. Er lächelte, so wie er es immer tat, wie ein freundlicher zahnloser alter Mann. »Endlich verstehen wir uns… Shen. Wenn Ihr uns jetzt noch sagt, woher Ihr kommt, und warum Euch Eure Schritte ausgerechnet nach Tolai geführt haben?«
Shen antworte nicht sofort. Er stand da, atmete sichtbar, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, und starrte den Wirker an. Seine schmalen Schultern hoben und senkten sich, als er endlich sagte: »Ich…« Und dann schwieg er.
»Oh«, entgegnete Meister Hemon, nachdem er eine Weile vergeblich auf weitere Worte gewartet hatte. »Habe ich Euch doch überschätzt?«
Andor blickte ihn an, wartete auf ein Nicken: Und dann nickte Hemon. Andor hob die Hand -
»Nein!« rief Nomi. »Laßt ihn in Ruhe!« Und bevor irgendeiner der Wirker ihn aufhalten konnte, stürmte Nomi vorwärts, riß mit dem Fuß den Bannkreis auf, und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor vor den Flötenspieler.
»Nomi!« Meister Hemon bellte seinen Namen mehr, als daß er ihn aussprach. »Denk daran, was du versprochen hast!«
»Nein!« schrie Nomi zurück. »Denkt Ihr lieber an Euer Versprechen!« Er war so wütend, er wußte nicht einmal mehr, wo er anfangen sollte. »Also laßt den Mann jetzt zufrieden! Was hat er euch getan? Nichts. Was hat er mir getan? Nichts. Er hat eine reine Seele, das hat er bewiesen, was wollt Ihr mehr? Er kommt als Fremder in dieser Stadt, er hat keine Lust, eure dummen Fragen zu beantworten, und er besitzt eine Tarnkappe - ist das alles? So wie ihr ihn behadelt, hätte er sie wohl besser nie abgenommen!«
»Nomi, es ist -«, hub Hemon an, aber Nomi fiel ihm ins Wort.
»Ich will nichts mehr hören! Ich habe heute genug von Euch gehört und gesehen, mehr als ich in meinem Leben wissen wollte! Ihr wollt das Licht sein, und um das zu beweisen, quält ihr einen Mann?«
»Nomi, schweig! Halte dich raus aus Dingen, die dich nichts angehen!«
»Aber das geht mich an!« brüllte Nomi. »Und jetzt laßt ihn gehen, sofort, oder ich bin die längste Zeit euer Nomi gewesen! Denn wenn das hier das Licht ist, dann will ich es nicht mehr!« Seine Hand zitterte, als er sie an seinen Talisman legte. Er riß ihn nicht ab - aber er wollte zeigen, daß er das konnte.
Die anderen Wirker standen unschlüssig herum. Sie blickten von Nomi zu Hemon und zurück - was sollten sie tun? Den Bannkreis reparieren? Nomi bannen? Shen bannen? Nichts tun? Solange Hemon nichts sagte, durften sich nicht eigenmächtig handeln. Darauf baute Nomi. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren.
»Kommt mit«, sagte er zu dem Flötenspieler. »Die können Euch nichts tun. Ich werde es nicht zulassen.«
Wieder sah Andor mit diesem bestimmten Blick zu Hemon hin. Wieder wartete er auf ein Nicken. Aber diesmal hob der Großmeister die Hand.
»Nomi«, sagte er ruhig. »Du kennst uns. Du weißt, daß wir nichts böses wollen, und daß dies alles nur zu deinem Schutz ist. Wir werden niemals einen Unschuldigen quälen, und deine Worte verletzen mich sehr. Also sei vernünftig, nimm die Hand runter, mach keine Dummheiten, die du später bereuen würdest, und verlaß unsere Hallen.«
»Ich kenne Euch, seit ich denken kann. Und Eure Taten verletzen mich.« Nomi ließ die Hand an seinem Talisman. War das noch der Mann, von dem seine Mutter erzählt hatte? Der sich gegen die ganze Stadt und alle Wirker gestellt hatte, um die Unschuld eines Neugeborenen zu beweisen? Was war jetzt daraus geworden? Nomi schluckte. »Was bietet Ihr mir? Was garantiert ihr ihm?« Er deutete auf den Flötenspieler. Ihn bei seinem Namen zu nennen widerstrebte Nomi, so froh er auch war, von ihm nicht mehr nur als ‘der Fremde’ denken zu müssen - aber er hatte seinen Namen nur unter Folter preisgegeben, und darum wollte Nomi ihn nicht nutzen. »Ich verlange von Euch, daß ihr keine Magie gegen ihn anwendet - daß ihr ihn nicht bannt, nicht seinen Willen brecht, daß ihr nichts mit ihm tut, was ich nicht ebenfalls mit ihm tun würde. Er kann und wird euch nichts tun. Es soll ihm frei stehen, ob er mit euch redet oder nicht.«
»Du verlangst viel«, antwortete Hemon. »Man könnte meinen, zuviel. Aber du weißt, wofür das Licht steht, und du bist bereit, dafür zu kämpfen - auch wenn du deinen Feind im falschen Ziel siehst, ehrt es dich, und ich will dich dafür nicht bestrafen.«
»Gut«, sagte Nomi ungerührt. »Ich sehe, wir verstehen uns. Also, macht mir ein Angebot.«
Meister Hemon sah würdevoll und gelassen aus, doch Nomi entging nicht, daß sich seine Hände verkrampften. Er hatte alle Macht der Welt, er konnte Nomi bannen, ohne daß der auch nur den kleinen Finger rühren konnte - aber er durfte es nicht, und das, vor all seinen Wirkern und Akoluten, das mußte das Schlimmste für ihn sein. Er blickte nicht Nomi an, sondern den Flötenspieler - Nomi wußte nicht, was der hinter seinem Rücken tat: Der Mann sprach kein Wort, aber wer wußte, was sein Blick in diesem Moment sagte?
»Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Meister Hemon schließlich. »Nur ich allein. Ich verspreche dir, daß ihm dabei kein Haar gekrümmt wird. Genügt dir das?« Seine Stimme war ruhig, aber anklagend.
Aber damit hatte er schon weiter eingelenkt, als Nomi überhaupt erwartet hatte. Er war auf Widerstand vorbereitet, auf lange Wortgefechte und Drohungen - das alles konnte Nomi, doch jetzt war er an einem Punkt angekommen, wo er dem Ersten Wirker vertrauen mußte, und nicht nur dem, auch dem Flötenspieler selbst - denn der wußte, was der tun würde, wenn er erst einmal mit dem Mann allein war, der ihm das angetan hatte? Trauen war nichts, was Nomi konnte. Er verfluchte sich selbst, daß er sich in diese Situation gebracht hatte. Aber das gehörte zu seiner Aufgabe, nicht wahr? Entscheidungen treffen. Er konnte nicht die Frage, ob er für das Licht oder das Dunkel kämpfen sollte, auf die leichte Schulter nehmen, wenn er nicht einmal aus so einer Situation rauskam!
»Also gut«, sagte Nomi. »Ihr habt mein Wort. Ihr werdet dem Flötenspieler nichts tun. Meister Andor wird mich nach draußen begleiten, denn ich möchte mit eigenen Augen sehen, daß er keinen weiteren Schaden anrichten kann. Und im Gegenzug« - jetzt drehte er sich zu dem Mann hinter ihm um und blickte ihm zum ersten Mal, seit er zu ihm in den Bannkreis gesprungen war, ins Gesicht. »Wenn Ihr mein Vertauen jetzt verratet und alles, wofür ich gekämpft habe, und Meister Hemon etwas antut - dann werde ich euch töten. Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde es tun.« Die Worte fühlten sich schwer und fremd an. Nomi hatte schon oft andere Leute bedroht - aber noch nicht mit dem Tod. Er wußte nicht, ob er das überhaupt tun konnte - einen Menschen töten. Doch auch der Tag kam auf ihn zu.
Shen erwiderte seinen Blick mit ruhigem Nicken. Er sah zumindest nicht mehr ganz so schlimm aus, war wieder gleichmäßig bleich, aber das Funkeln fehlte noch immer in seinen Augen. Er sah müde aus. Aber er sagte nicht, daß Nomi ihm vertrauen sollte, und das war gut. Es war Nomis Entscheidung, und nur seine. Und wenn er das von einem Menschen gelernt hatte, dann von diesem Flötenspieler.
Mit zögerlichen Schritten ging Nomi zum Ausgang, nicht, ohne dabei seine Fußspitze noch einmal durch die Linien des Bannkreises zu ziehen. Er hatte getan, was er konnte. Und das war entweder schon zuviel, oder noch zu wenig. Nomi setzte sich draußen neben den Eingang des Gebäudes, das der Halle der Wirker gegenüber lag, und wartete. Nach ein paar Augenblicken kam auf Andor aus der Halle, doch er ging nicht zu Nomi hinüber, sondern blieb auf seiner Seite der Straße stehen, ohne noch einmal zu ihm hinüberzublicken.
Die Luft war besser hier draußen, und das drückende Gefühl fehlte auch. Langsam kam Nomi wieder zur Ruhe. Aber sein Zorn blieb. Und egal, wie das jetzt ausgehen sollte - das, was Nomi an diesem Tag erlebt hatte, würde er nicht vergessen. Und erst recht würde er sie nicht verzeihen. Am Allerwenigsten den Meistern Hemon, und Andor, und Kavi.

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