Fünftes Kapitel

Wenn man Nomi hinterher gefragt hätte, was denn nun schwerer war, der Gang zum Than oder der zum Flötenspieler, hätte Nomi zugeben müssen, daß es die zweite Antwort war. Aber er tat so, als mache er es sich leicht. Wenn Shen nicht wollte, dann wollte er nicht. Nomi konnte und würde ihn zu nichts zwingen. Dann mußte er eben allein gehen. Nomi wußte, daß er allein keine Chance hatte. Doch zu seinen - früheren, mußte man ja jetzt sagen - Freunden zurückzugehen, sie um Verzeihung zu bitten und doch mit Kavi oder Yun losziehen, das kam nicht in Frage. Diesen Weg hatte er sich verbaut. Und darum mußte er jetzt einen Mann als Gefährten gewinnen, von dem er noch nicht mal sagen konnte, wo er denn zu finden war.
Nomi suchte die ganze Stadt ab. Er suchte ihn in der Nähe des Schulhauses, auf dem Markt und am Brunnen, und fand ihn nicht. Und fragen konnte er auch keinen: Es gab zwar Leute in der Stadt, die von der Existenz des Flötenspielers wußten, aber gesehen hatte ihn kaum jemals einer - wie auch, wenn ihn niemand außer Nomi sehen konnte? Aber es war gut, ihn suchen zu können. Es bedeutete, daß Nomi noch nicht nach Hause mußte oder zu irgend einem anderen und sich keine Vorwürfe anhören mußte.
Der Turm lockte ihn. Auf den Turm steigen und von oben nach dem großen Hut suchen, dem Hut, wie es in ganz Tolai keinen zweiten gab. Aber das erschien ihm dann doch irgendwie zu billig. Er hatte den Flötenspieler noch nie gesucht und immer dann gefunden, wenn er gerade nicht daran dachte. Nomi lächelte, vertraute auf sein Glück, und ging nach Hause. Shen saß dort neben der Türschwelle. Und er nickte, als er Nomi kommen sah.
»Und?« fragte er. »Hast du deine Antwort gefunden?«
Nomi wollte nicht lange drumherum reden. Wenn er wirklich am anderen Tag aufbrach, sollte er nicht mehr viel Zeit verlieren, und seine Suchwanderung durch die Straßen von Tolai hatte schon viel zu lange gedauert. »Ja«, sagte er, »und ich habe mich für Euch entschieden. Wollt Ihr mit mir kommen?«
Der Flötenspieler legte den Kopf schief. »Wohin?«
Nomi zwang sich ein Grinsen auf. »Zum Gläsernen Schwert.«
Shen blinzelte unter der Hutkrempe hervor. »Du willst dein Schicksal mit mir teilen?«
Nomi nickte. »Meine eigene Entscheidung.«
»Und warum willst du ausgerechnet mich? Du kannst mich nicht kennen. Ist es, weil ich dir vom Dunkel erzählt habe?« Shen klang ein wenig besorgt bei diesen Worten. Aber noch hatte er nicht nein gesagt…
»Ich traue Euch nicht«, sagte Nomi. »Oder besser, ich kann Euch nicht trauen, weil ich Euch nicht kenne. Aber das gilt auch für alle anderen. Ich kann niemandem trauen. Aber die anderen… sie sagen mir, daß ich Euch nicht trauen darf. Und daß ich Ihnen vertrauen muß. Dabei ist vertrauen etwas, das kann man nur selbst, aus dem Herz raus, man vertraut oder vertraut nicht. Ihr seid der einzige, der nicht versucht, mein Vertrauen zu manipulieren.«
»Und das ist alles?« fragte Shen - reichte ihm das nicht? War er enttäuscht?
»Ja«, sagte Nomi. »Und Ihr seid ein besonderer Mann. Ich weiß nicht, was Ihr alles könnt, ich habe Euch auch nie spielen gehört, aber Ihr könnt dem Dunkel widerstehen - das ist mehr, als ich von irgend einem anderen erwarten kann. Aber vor allem respektiert Ihr meine Entscheidungen.«
Nichts davon hatte er dem Versammelten im Herz der Stadt gesagt. Oh, sie waren schließlich über ihn hergefallen mit ihren Fragen und ihrem Entsetzen, und warum denn, und warum ausgerechnet, von allen Menschen, diesen Fremden, der ebensogut dem Dunkel dienen konnte und sowieso… Da hatte Nomi nur mit einem einzigen Satz geantwortet: »Weil er nicht soviel redet.« Und das stimmte auch, ungelogen. Nomi mochte Leute, die ihm seine Ruhe ließen. Er ließ sie dafür auch in Ruhe, wenn es darauf ankam.
Shen begann zu lachen, leise, glucksend und irgendwie fröhlich, und vor allem langanhaltend. Nomi mochte sich keinen Reim darauf machen, und noch weniger wollte er nachfragen, also wartete er einfach ab. Wenn es eine Erklärung gab, würde er sie schon noch bekommen. Aber der Flötenspieler war weit von einer Antwort entfernt. Er lachte nur.
»Wie ist es?« fragte Nomi irgendwann. »Kommt Ihr mit mir?« Er wollte ihn jetzt ja nicht drängen oder beeinflussen, aber… »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr diese Stadt mögt«, redete er weiter und fühlte sich, als ob es um Kopf und Kragen war, »also, wenn Ihr zumindest ein Stück weit mit mir in eine Richtung gehen mögt?«
Shen hörte auf zu lachen und legte einen Finger an die Lippen. »Schscht. Rede nicht weiter. Der Rest liegt bei mir.«
Nomi nickte. »Ich wohne hier«, sagte er - nicht, daß sich Shen das nicht längst gedacht hätte, warum sonst sollte er ausgerechnet hier sitzen? »Ich lade Euch ein. Ich weiß nicht, was Ihr hier sonst zu essen bekommt oder wo Ihr schlafen müßt, aber wir haben hier ein Gästezimmer, und viel zu viel zu essen - und es ist an der Zeit, daß Ihr meine Eltern kennen lernt.« Er lächelte kurz. »Sie werden Euch viele Fragen stellen, aber keine davon müßt Ihr beantworten. Sie können Euch zu nichts zwingen.«
»Nein«, sagte Shen leise. »Das versuchst lieber du.« Sehr, sehr leise. Vielleicht hatte Nomi es nur falsch verstanden. »Aber ja, ich komme mit.« Er nickte, stand auf, und nahm seinen Hut ab. »Zumindest ein Stückweit.«
Nomis Hand an der Tür zitterte, als er sich und den Flötenspieler hereinließ. Shen einzuladen war ein Versuch, sich selbst zu schützen - sein Vater würde ihn schon nicht vor den Augen eines Fremden verprügeln, egal wie wütend er auch sein mochte. Es war ein hartes Leben, das sich Nomis Vater da machte; immer mußte er es allen Leuten recht machen, sich bei den Nachbarn für Nomi entschuldigen, konnte sich nur daran trösten, daß es nicht sein richtiger Sohn war… Nomis Eltern würden sich am meisten von allen freuen, wenn er erst einmal weg war. Ihn vermissen? Sicher nicht. Und das war es, was Nomi am meisten von allem fürchtete, mehr als Prügel oder harte Worte.
»Tan? Mui? Ich bin wieder da!« rief er zaghaft und lauschte auf Schritte - es war wichtig, ob seine Eltern jetzt angerannt kamen, oder langsam, oder gar nicht. Aber es blieb still. Nomi zuckte die Schultern und drehte sich zu Shen um. »Kommt herein, Ihr seid mein Gast.«
Shen trat ein. Und dies war der Moment, als Nomis Mutter in die Halle kam, ein Lächeln auf den Lippen, das ihr Gesicht erstarren ließ.
»Nomi, du hast uns einen solchen Schrecken eingejagt -« Sie wich zurück, als sie den fremden Mann in ihrer Eingangshalle stehen sah. »Wer ist das?« fragte sie. Ihre Stimme klang schrill.
Nomi verneigte sich. »Mui, dies ist der Flötenspieler, von dem ich erzählt habe. Er wird mich auf meiner Reise begleiten.«
»Ja…«, sagte sie fahrig. »Das ist sicherlich gut…«
»Ich habe ihn eingeladen«, redete Nomi weiter. »Er soll das Gästezimmer bekommen. Ich möchte… Es war mir wichtig, daß ihr ihn auch kennenlernt. Damit ihr wißt, daß ich in guten Händen bin.« Sein Herz hämmerte. Die guten Hände waren zu kalt, zu bleich, mit zu langen Krallen - nichts, was darauf ausgelegt war, seine Eltern zu beruhigen.
Aber seine Mutter schaute nicht auf den Fremden, der mit gesenktem Blick in der Tür stand und, statt sich zu verbeugen, sich an seiner Flöte festhielt. Sie starrte Nomi an. Und jetzt erst erkannte Nomi, daß ihr Gesicht gerötet war und ihre Augen noch röter, und daß sie geweint hatte. Sie schluckte, schüttelte den Kopf, und sagte dann: »Ich kann es immer noch nicht glauben… Du willst uns wirklich verlassen?«
Nomi nickte. »Ich hab mir das nicht leicht gemacht - ich will es auch gern erklären, wenn Tan mit dabei ist, er will es ja bestimmt auch gerne wissen.«
»Er ist in der Stube«, antwortete seine Mutter. »Er ist… er ist auch froh, daß du noch einmal wiedergekommen bist.«
Nomi konnte schlecht zugeben, daß er lange überlegt hatte, ob er überhaupt noch einmal nach Hause zurücksollte und nicht doch schon an diesem Tag aufbrechen, nicht erst am nächsten. Und daß er vor allem zurückgekommen war, weil er wußte, daß er nicht ohne Gepäck aufbrechen durfte… Nein, das stimmte auch nicht. Er wollte Lebwohl sagen können. Aber er wußte, wie schwer das war. Lebwohl sagen, um niemals wiederzukommen. »Dann gehe ich jetzt am besten zu ihm«, sagte er leise. »Und ihr kommt mit, beide, bitte.«
Die Schritte bis in die Stube waren die Schwersten. Jetzt vor seinen Vater treten… Einen Moment lang bereute Nomi, den Flötenspieler mitgebracht zu haben. Er hielt Nomi jetzt davon ab, vertraulich mit seinen Eltern zu sprechen. Und war noch schwerer wog: Er hielt Nomis Eltern ab, vertraulich mit Nomi zu sprechen, obwohl es die letzte Gelegenheit dazu war. Wenn sie noch etwas wußten, daß sie ihm verheimlicht hatten, und solche Dinge gab es mit Sicherheit… Nomi verfluchte sich, und verfluchte sich nochmals, als er vor seinem Vater auf die Knie ging.
»Tan - es tut mir leid, daß ich Euch heute zum Than bestellt habe, ohne euch vorher Bescheid zu sagen, und daß ich schlecht mit euch geredet habe. Ich bitte um deinen Segen, bevor ich morgen aufbreche.«
»Steh auf, Nomi«, sagte sein Vater. Nomi rechnete schon mit dem Schlimmsten, damit, jetzt verstoßen zu werden; damit, daß seine Eltern ihm zuvorkamen und ihm das sagten, was er selbst ihnen so oft gesagt hatte: Daß er nicht ihr Sohn war. Doch sein Vater redete weiter: »Heute Nachmittag hast du vor uns, und dem Than und allen anderen, gestanden wie ein Mann. Dann sei jetzt auch ein Mann, trotz deiner jungen Jahre, und kein Wurm. Mach mir keine Schande!« Aber wer diese Worte jetzt aussprach, klangen sie anders als vorher am Tag. Und während er sprach, ging er auf ihn zu, und ohne auf den Fremden im Türrahmen zu achten, drückte er Nomi an sich, erst zaghaft, dann kräftig, und herzlich.
»Dann - dann seid ihr nicht mehr böse auf mich?« fragte Nomi, während der warme, weiche Kittel seines Vaters die Worte dumpf in seinen eigenen Mund zurückschickte.
Er fühlte, wie sein Vater den Kopf schüttelte, auch wenn der Mann lange nichts sagte. Wann hatte er ihn zuletzt umarmt? Oder hatte er es jemals? Nomis Vater war immer kalt und streng - warum mußte er ausgerechnet jetzt anfangen, sich wie ein Vater anzufühlen? Er löste sich vorsichtig aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück, um ihm endlich einmal ins Gesicht sehen zu können. Und auch wenn dieser Mann ihm ebensowenig ähnelte wie er diesem Mann, waren sie doch irgendwie Vater und Sohn.
»Es ist doch das Beste, was wir aus dir machen konnten«, sagte sein Vater. »Einen Mann, der in der Lage ist, eigenständig für das einzustehen, was er denkt und woran er glaubt.«
»Danke«, sagte Nomi. »Ich… ihr werdet mir fehlen. Aber ich muß trotzdem gehen.«
Sein Vater lächelte traurig. »Ich weiß schon so lange, daß du uns eines Tages verlassen würdest, aber…«
»Ich weiß«, sagte Nomi. »Mui hat es auch schon gesagt. Daß es so früh sein muß.« Er atmete tief durch. »Ich habe den Flötenspieler mitgebracht, damit er heute unser Gast ist.«
Wieder rechnete er mit dem Schlimmsten, und hoffte, daß Shen zumindest jetzt ein Mindestmaß an Anstand würde walten lassen - doch wieder war es sein eigener Vater, der Nomi überraschte. Er trat auf den Fremden zu, und anstatt selbst eine Verbeugung einzufordern, war er es, der sich verneigte. »Bitte, tretet ein, seid unser Gast, wir haben schon viel von Euch gehört!« Und daß er dabei noch so froh klang! Entweder war ein sehr guter Lügner, oder irgend etwas mußte im Laufe des Tages vorgefallen sein, das Nomi zu verstehen zu jung war oder zu dumm. »Ich bin Dai, der Tuchhändler«, sprach Nomis Vater weiter. »Meine Gemahlin, Lumi, habt Ihr bereits getroffen. Und Ihr seid?«
Und dann geschah das endgültige Wunder. Shen lächelt, neigte den Kopf, und sagte dann: »Ich bin Shen. Der Flötenspieler.«
Nomi atmete auf, so laut, daß alle es hören mußten. Endlich durfte er diesen Namen benutzen! Endlich mußte er nicht mehr drumherum reden und um jeden Preis versuchen, den Namen zu vermeiden! Es wäre sonst eine harte Reise geworden - falls sie denn jetzt einfacher werden sollte.

Den Rest dieses ereignisreichen Tages verbrachte Nomi mit zwei Personen, die augenscheinlich seine Eltern waren, und die so bemüht waren, die Versäumnisse der letzten Jahre nachzuholen, daß der schweigsame Fremde an ihrem Tisch ein schweigsamer Fremder bleiben konnte. Sie stellten ihm weniger Fragen, als daß sie ihn belehrten - auch ja auf Nomi achtzugeben, und ob er wohl in der Lage wäre, sie beide zu verteidigen, und ob er auch wisse, was da auf ihn zukam - sie redeten und redeten und redeten.
Es gab ein exzellentes Essen, das Beste seit langem - »weil wir doch nicht wissen, wann und ob du jemals wieder so etwas Gutes bekommen wirst«, sagte seine Mutter - aber Nomi fehlte der rechte Appetit. Und auch Shen, von dem man doch erwarten sollte, daß er ausgehungert war wie ein Tier, aß nur wenig. Nomi versicherte lieber ein paarmal zu oft, wie gut das Essen doch war, bevor irgend jemand ihn oder Shen für undankbar halten konnte.
»Ihr seid aber wirklich kein großer Esser«, bemerkte Nomis Mutter trotzdem. Es war nur eine Feststellung, aber doch etwas, das sie letztlich nichts anging.
»Das ist doch nur gut«, antwortete Nomi schnell. »Wer weiß, wieviel wir in den Dunklen Ländern zu essen finden werden? Da ist es besser, wenn wir mit wenig auskommen können.« Aber das war ein Fehler. Die Dunklen Länder hätte er besser nicht angesprochen, nicht in diesem Moment, nicht vor Nomis Mutter, deren einziges Kind nun in die Fremde ausziehen sollte - in eine Fremde, die gefährlicher war als alles, dem er hier in Tolai begegnen konnte.
Wenn nicht gerade die Sha-ura einfielen.
Seine Mutter wurde bleich, ihre Hände krallten sich an der Tischkante fest, und sie schluckte, sichtlich den Tränen nahe.
»Es tut mir leid, Mui«, beeilte sich Nomi noch zu sagen. »Ich werde auf mich achtgeben, ich verspreche es dir!«
Aber sein Vater schenkte seiner Frau noch etwas von dem Palmwein ein, nötigte sie zu trinken, und tat es ihr dann selbst nach. »Versprich uns nichts, was du nicht halten kannst, Nomi«, sagte er rauh. »Halte deine dunkle Seite im Zaum, das ist alles, was wir uns von dir wünschen.« Er schenkte auch Nomi nach. »Mach uns Ehre.«
Nomi zögerte, ehe er die Schale anrührte. Sein Vater erlaubte ihm sonst keinen Wein, warum also ausgerechnet jetzt, wo Nomi am anderen Tag früh aufstehen und das Abenteuer seines Lebens in Angriff nehmen wollte? Damit er verschlief und den Aufbruch dann doch noch verschob? Oder damit er am Ende ganz woanders aufwachen sollte? Nomi lächelte, dann hob er die Schale und nahm einen kleinen Schluck. Er war ja nicht Dhuan, der immer gleich alles bis auf den Grund leerte mußte, was man ihm einschenkte. Und es reichte, wenn Nomi sich einmal vor Shen betrunken gezeigt hatte. Vor allem, solange der Mann seinen Wein noch zaghafter anrührte als sein Essen.
»Ich… ich wollte euch noch danken, was ihr für mich getan habt«, sagte Nomi. »Ich habe zuletzt immer nur denken können, warum tun sie das, warum lügen sie mich an, sie sind nicht meine richtigen Eltern« - dann, zu Shen, als schnelle Erklärung - »meine richtigen Eltern sind tot, sie sind umgebracht worden, als ich noch klein war« - aber Shen legte nur den Kopf schief und nickte; es schien ihn nicht zu verwundern oder zu entsetzen. Und Nomis Eltern konnten jetzt nicht mehr widersprechen, auch sein Vater mußte jetzt auf den Vorwurf, der kein Vorwurf mehr war, eingehen. »Aber ihr hättet mich nicht aufnehmen müssen, ihr hättet sagen können, daß es euch zu gefährlich ist - schließlich hättet ihr die nächsten sein können, die getötet werden. Und ihr habt mich behalten, trotz all dem Ärger, den ich euch gemacht hatte, und habt weiter allen gesagt, daß ich euer Sohn bin - dafür wollte ich euch danken. Auch wenn es dafür eigentlich schon zu spät ist.«
Wenn er schon von allen anderen im Zorn scheiden sollte und seine früheren Freunde ihn bis ans Ende ihrer Tage hassen würden, wollte er zumindest mit seinen Eltern einen sauberen Schnitt machen. Wenn sie es schafften, sich jetzt so anständig zu verhalten, dann konnte er nicht anders, als das zu erwidern. Auch wenn er sie dann vermissen würde. Auch, wenn es den Abschied hinterher schwerer machte. Entscheidungen mußte man so treffen, daß man sie nicht bereute.
»Du warst immer ein guter Junge«, sagte seine Mutter. »Du konntest eine furchtbare Plage sein, aber du warst immer etwas ganz besonderes, und wir waren froh, dich zu haben.«
Sie redeten so, alle, auch Nomi, als ob er niemals wiederkehren würde. Und er würde niemals wiederkehren, und es tat gut, daß sie jetzt ehrlich damit umgehen konnten. Sie logen sich nicht mehr an. Am Ende war Nomi in diesem Haus auch nur das, was Shen in diesem Moment war: Ein Gast auf Zeit. Und letzten Endes war es eine gute Zeit gewesen.
Manchmal.

Dinge, mit denen Nomi nicht rechnete: Friedlich zu Bett gehen, mit einer letzten Verbeugung vor seinen Eltern, ohne daß sie einander beschimpften, ohne ohne Groll, ohne Haß. Daß Shen einen Platz im Gästezimmer bekam, ohne daß Nomis Eltern Salz vor der Tür ausstreuten und die Wirker herbeiriefen. Mit tiefen und festem Schlaf, als ob ein Tag wie jeder andere hinter ihm lag oder vor ihm. Und mit seinen Freunden, die am frühen Morgen vor seiner Tür standen, um sich in aller Form von ihm zu verabschieden. Und nachdem ein Stein gegen sein Fenster flog und ihn aufweckte, wußte Nomi, daß er zumindest damit zurecht nicht rechnete. Dort unten auf der Straße standen zwar Nomis ehemalige Mitschüler - doch ‘Freunde’ war sicher längst das falsche Wort für sie.
Trotzdem zog sich Nomi schnell an und lief hinunter. Er war schon jetzt zu wach, um sich wieder hinzulegen, auch wenn er nicht viel Schlaf gefunden hatte. Da standen sie, alle sechs, in Grimm vereint - und daß er es ihnen wert war, so früh aufzustehen, mußte man ihnen schon fast hoch anrechnen.
»Was wollt ihr?« fragte Nomi wenig freundlich. Die Zeit für verlogene Freundlichkeit war vorbei, für beide Seiten.
Kavi trat vor. Er trug seine Roben. Überhaupt war keiner von ihnen in seiner Schuljacke erschienen. Dafür aber mit gefährlichen Schwertern und langen Stäben. Ab dem heutigen Tag hatte diese Schule keinen Sinn mehr… »Du hast gestern erzählt, daß du deine eigenen Entscheidungen triffst«, sagte er und feixte. »Und weil du damit so unglaublich Recht hast, haben wir uns jetzt auch entschieden.«
Nomi legte den Kopf schief. »Und?« fragte er. Es war ihm noch zu früh für lange Sätze.
»Wir haben dir was mitgebracht«, sagte Yun und nickte Vali zu. Der hob mit beiden Händen den langen Stab, den er mitgebracht hatte, und hielt ihn dann Nomi hin. »Hier.«
Einen Moment lang fürchtete Nomi fürchterliche Prügel, aber als er begriff, daß er den Stab nehmen sollte, konnte er nur den Mund auf- und zuklappen. »Äh - danke?« sagte er unsicher. Das war ein mächtiger kantiger Holzstab, der Nomi ein ganzes Stück überragte - ohne Zierde, Schnitzereien oder anderen Firlefanz, aber eine richtige Waffe.
Die Jungen lachten. »Du bist und bleibst ein kläglicher Kämpfer«, sagte Yun. »Aber da hast du wenigstens was in der Hand - und wenn du unterwegs schlapp machst, kannst du dich auch noch darauf abstützen.«
»Danke«, murmelte Nomi nochmal, vollends verwirrt. »Aber - damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.«
»Und jetzt zu unserer Entscheidung«, sagte Kavi. »Wir hatten auch nie Lust, daß Meister Adam oder Hemon oder irgend ein anderer über unsere Zukunft entscheiden soll. Darum haben wir beschlossen, daß wir mitkommen. Wir alle.«
»Ich habe Nein gesagt!« Nomi packte den Stab fest mit beiden Händen. Waffe war Waffe, und vielleicht würde er die schon jetzt brauchen.«
»Uns ist egal, was du sagst«, sagte Devi grimmig. »Wir kommen mit. Du kannst uns nicht davon abhalten, daß wir unser Schicksal erfüllen.«
»Euer Schicksal hat mit meinem nichts zu tun«, antwortete Nomi. »Zumindest ab heute nicht mehr. Mein Schicksal wird von der Prophezeiung bestimmt, eures nur von euren Vätern und Leuten wie Meister Adam. Ihr habt in meinem Leben nichts mehr zu suchen.«
»Und das sagst du uns ins Gesicht?« fragte Kavi.
Nomi nickte. »Ebenso wie ihr mir ins Gesicht sagt, daß ihr nichts von mir haltet und nur meine Freunde seit, um an meiner Prophezeiung teilzuhaben. Und danke, auf solche Freunde kann ich verzichten.«
Die sechs Jungen rückten noch etwas enger zusammen, was sie bedrohlicher wirken ließ. »Wir kommen mit einem Geschenk!« sagte Yun. »Wir kommen, weil wir dich nicht einfach so allein gehen lassen wollen!«
Nomi fühlte ein Ziehen in seiner Brust. Das war schlimmer as bei Dhuan. Das war sechsmal schlimmer. »Ein Geschenk, das ich gerne angenommen habe«, würgte er hervor. »Aber wenn es nur dazu da ist, mich zu kaufen…« Er kam nicht weiter. Das letzte, was er tun wollte, war, vor diesen Jungen zu heulen. »Ich kann euch nicht mitnehmen«, sagte er. »Weil ihr nur Licht seid. Aber ich bin beides. Ich bin auch dunkel. Ich ersticke hier an eurem Licht, an den Erwachsenen - ich brauche Abstand zu dem allem hier, zu dem Licht und allem.«
»Und das sagst du uns ins Gesicht?« fragte Kavi nochmal, aber diesmal spie er die Wörter aus. »Daß du das Licht ans Dunkel verraten willst und wir dich davon abhalten könnten?« Er spie aus. »Und ob wir das würden, verlaß dich drauf!«
Nomi hob abwehrend die Hände - daß er dabei den Stab mithob, ließ es vermutlich mehr wie eine Drohung aussehen. »Das habe ich nicht gesagt! Aber ich muß erst im Dunkel sein, um… um zu lernen, das Licht wieder zu schätzen. Weil ich es jetzt nicht lieben kann.« Sie verstanden ihn nicht. Nomi wußte es, schon bevor er diese Worte sprach. Aber er wußte auch nicht, was er statt dessen hätte sagen sollen. »Ihr versteht mich nicht«, sagte er. »Darum.«
»Es geht nicht darum, ob wir dich verstehen oder nicht«, erwiderte Loya. »Es geht darum, daß wir das gleiche Recht haben wie du, das Licht zu verteidigen.«
»Sogar noch mehr Recht«, übernahm wieder Ganon den Faden von ihm, »weil wir es lieben und du sagst, daß du es haßt. Wir sind in die gleiche Schule gegangen wie du, wir hatten den gleichen Lehrer, wir haben das gleiche durchgemacht -«
»Das habt ihr nicht!« schrie Nomi, und es war ihm egal, ob er jetzt alle Nachbarn aus dem Bett warf oder nicht. »Ihr habt keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, von dem Tag an, wo ich geboren wurde, von dem Tag an, wo meine Eltern abgeschlachtet wurden! Ihr habt keine Ahnung, und ihr werdet mich nicht begleiten, und jetzt verschwindet ihr! Sofort!«
»Und wenn wir nicht gehen?« rief Kavi trotzig zurück. Der Junge war eigentlich ein ziemlicher Feigling, aber er stand neben Yun und Yuns Schwert und durfte sich stark fühlen. Ach, und wer wußte, wie viele Papierzauber er mitgebracht hatte?
Nomi packte den Stab und hielt ihn mit beiden Händen quer vor sich, daß er mit dem einen oder anderem Ende zuschlagen konnte. »Dann«, sagte er laut, »wird sich herausstellen, ob dieser Stab wirklich etwas taugt, und ob ich wirklich ein so jämmerlicher Kämpfer bin, wie ihr immer sagt! Weil ich euch dann eigenhändig aus dieser Straße prügeln werde!« Er fühlte das gehärtete Holz unter seinen Händen, unnachgiebig und gefährlich, eine wahrhaftige Waffe, und er wußte, er war bereit, sie auch einzusetzten, auch jetzt.
Kavis Hand zuckte zu seiner Tasche, wie Nomi schon fast geahnt hatte - aber Yun packte das Handgelenk des Akoluten und hielt ihn fest, bevor er Nomi bannen konnte. »Laß ihn«, sagte er dumpf. »Er ist es nicht wert.« Und mit noch finstererer Miene setzte er hinzu: »Er ist überhaupt nichts wert.« Dann nickte er den anderen Jungen zu. »Gehen wir.«
Und dann gingen sie, einfach so, ließen Nomi stehen, ohne sich auch nur noch einmal nach ihm umzudrehen. Allein Kavi blieb noch einen Moment länger stehen, die Fäuste geballt, und warf Nomi einen letzten haßerfüllten Blick zu.
»Geh!« befahl ihm Nomi. »Geh mit den anderen. Ich will dich nie wieder sehen!«
»Das wirst du noch bereuen«, zischte Kavi. »Du ahnst gar nicht, wie sehr du das noch bereuen wirst!« Dann nahm er, betont langsam, einen seiner Papierzauber hervor, strich mit der Hand darüber und murmelte ein paar Worte, die Nomi nicht verstand.
»Mach doch!« höhnte Nomi. »Wenn es dir dann besser geht? Du weißt ebenso gut wie ich, daß die Dinger nicht lang halten, schwach wie du bist!«
Kavi beachtete ihn nicht. Er sprach seinen Bann zuende, dann schleuderte er den Zauber auf Nomi, und war fort, lange bevor Nomi sich wieder rühren konnte.
Nomi starrte ihm reglos nach. Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte, aber er konnte in diesem Moment beides nicht, und das nahm ihm die Entscheidung ab. Bis der Zauber endlich abgeklungen war - und es kam Nomi immer noch wie eine Ewigkeit vor, obwohl er wußte, daß es nur einer von Kavis schwachen Zaubern war, die nicht einmal ausreichten, um ihm das Bewußtsein zu nehmen - waren auch alle Gefühle in Nomi gestorben. Er ging wieder ins Haus, wartete auf seinen Frühstückstee, auf seine Eltern, auf Shen. Und den Rest der Zeit verbrachte er damit, keinen Gedanken mehr an seine ehemaligen Freunde zu verschwenden. Nomi hatte keine ehemaligen Freunde.
Er hatte niemals Freunde besessen.

Daß Nomi dann auch noch in der Halle der Wirker Lebwohl sagen mußte, war weniger aus Sentimentalität denn mehr aus Notwendigkeit. Er würde diese Stadt für immer verlassen - dann sollte er sich auch von den Leuten und Orten verabschieden, der er nicht ausstehen konnte. Oder nicht mehr. Und Meister Hemon hatte doch zumindest ein Anrecht auf ein paar letzte weise Worte, bevor er sich ein neues Opfer, eine neue Lebensaufgabe suchte. Nomi ging ohne Shen, natürlich - der mochte seine eigenen Wege gehen, aber in die Halle der Wirker sollte ihn niemand mehr hineinzwingen.
»Ich sehe, daß wir dich nicht umstimmen können«, sagte der alte Wirker, und sein Bedauern klang echt, natürlich. »Aber vielleicht können wir dich vor der Gefahr bewahren, in die deine Dummheit dich bringen wird?«
»Ich wüßte nicht, warum Ihr das solltet«, erwiderte Nomi. »Es ist meine eigene Dummheit, und mein eigenes Risiko, und wenn ich scheitere, dann hat die Prophezeiung gelogen, oder sie meinte von Anfang an einen anderen.«
Meister Hemon schüttelte sein weises Haupt. »Nomi, bitte, keine Feindseligkeiten zum Abschied. Du weißt nicht, auf was du dich da einläßt, und ich weiß zumindest etwas - das mindeste, was ich tun kann, ist, dir etwas mitzugeben, das dich beschützen soll.«
Nomi mußte lachen. »Bitte, keine weiteren Talismane! Ihr könnt Euch denken, daß meine erste Tat, wenn Tolai erst mal in meinem Rücken liegt, sein wird, mir dieses Halsband runterzureißen.« Und es war reine Nettigkeit, daß er es zumindest bis dahin noch tragen würde.
»Ich weiß das«, sagte Hemon. »Darum.« Das Ding, das er Nomi hinhielt, sah auf den ersten Blick aus wie ein Bannzettel, nur daß es kein beschriebenes Papier war, sondern ein Stück Pergament, an einer Seite ausgefranst, als ob man etwas davon abgerissen hätte. Aber wie die Papierzauber war es mit Zeichen bemalt, die Nomi nicht näher kennen wollte.
Nomi verschränkte die Arme und nahm es nicht. »Ihr glaubt nicht, daß ich das wirklich nehme, oder?« fragte er. »Ich habe gesehen, was Ihr mit Shen gemacht hat. Ich traue weder Euch, noch Eurer Magie, und das wißt Ihr.«
»Ja.« Der alte Mann seufzte. »Das weiß ich. Aber glaubst du, wir sind die einzigen, die von ihrer Angst in solche… Maßnahmen getrieben wurden? Das Dunkel ist eine Gefahr, die Vorsicht und Argwohn von uns verlangt. Auf deiner Reise wirst du Helle wie Dunkle Länder durchqueren müssen. Das bringt dich in Gefahr, in größere, als es dein Schatten allein vermag.« Er hielt Nomi weiterhin den Pergamentstreifen hin. »Nimm diesen Talisman. Bitte.«
»Was meint Ihr?« fragte Nomi vorsichtig. Gefahr in Hellen und Dunklen Ländern… Und dann begriff er. »Tien«, sagte er bitter. »Ich bin nicht gefeit davor, ich ziehe es an, und wenn ich im Dunkel bin, wird es sich in meinen Körper und meine Seele setzen - und wenn ich im Hellen bin… wird man mich foltern…«
»Wir nennen es nicht Foltern«, antwortete Hemon rauh. »Aber für dich wird es sich so anfühlen. Es gibt in allen Hellen Ländern Wirker, die ihr Land beschützen. Und in jedem Land wird es jemanden geben, der die gleiche Macht hat wie Andor. Und wenn dich kein Wirker begleitet - graut mir vor dem, was meine Brüder mit dir anrichten könnten.«
Nomi schauderte. »Und was macht dieser - dieser Talisman? Schützt er mich von dem Tien, so wie Shen davon geschützt ist?« Er biß sich auf die Lippe, ahnte, daß er zuviel gesagt hatte. Die Wirker mußten nicht wissen, daß Shen jemals in einem dunklen Land gewesen war!
Aber Hemon hob beruhigend die Hände. »Wir wissen nicht, warum dein… neuer Freund frei von Tien ist. Dieser Talisman wird dich nicht dagegen gefeit machen - gäbe es ein Ding, das dies vermag, müßten wir das Dunkel nicht mehr fürchten. Nein, es ist nur ein Erkennungszeichen der Bruderschaft. Es trägt mein Zeichen und wird meinen Brüdern in den anderen Ländern zeigen, daß du unter meinem Schutz stehst und über jeden Zweifel erhaben bist. Zeig es ihnen, und sie werden dir helfen mit allem, was sie vermögen.«
Zögerlich berührte Nomi den Talisman, erst vorsichtig mit der Fingerspitze, und dann, als er keine Wirkung fühlte, nahm er ihn vorsichtig zwischen Zeige- und Mittelfinger auf. Kavi hielt seine Papierzauber auch immer mit diesen beiden Finger; es erschien Nomi sicherer. »Ihr wißt, daß Ihr das eines Tages bitter bereuen könnt?« fragte er dumpf. »Ich werde mir das Licht und das Dunkel anschauen und dann eine Entscheidung treffen, nicht vorschnell, aber ich werde mich entscheiden. Wenn das Dunkel mir mehr zusagt… dann werden Eure Brüder mir immer noch trauen, solange ich diesen Talisman trage.«
»Ja«, sagte Hemon ruhig. »Ja, das weiß ich. Glaub nicht, daß ich mir keine Gedanken darüber gemacht habe, daß du dich zu einer Gefahr für uns alle entwickeln kannst. Aber ich kenne dich dein ganzes Leben lang, Nomi. Ich habe immer schon für dich gekämpft, weil ich meinen Glauben und meine Hoffnung in dich gesetzt habe - warum soll ich ausgerechnet jetzt, wo du es am dringendsten brauchst, mein Vertrauen in dich aufgeben? Ich weiß, daß du ein gutes Herz hast. Und daß du die richtige Entscheidung treffen wirst. Du hast die Schrecken des Dunkels vergessen. Aber wenn du sie siehst, und dein Herz vor Entsetzen stehenzubleiben droht - dann wirst du begreifen, was das Licht der Welt gibt. Ich wollte dich vor dieser Erkenntnis bewahren, ich wollte dir diese Entscheidung ersparen, aber du hast Recht: Du bist kein Werkzeug, du mußt deinen Weg selbst finden. Und ich zweifle nicht daran, daß du ihn finden wirst, und daß es der richtige Weg sein wird.«
Nomi zitterte bei diesen Wörtern. Er brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um sich nicht davon zu sehr berühren zu lassen - aber es stimmte, es berührte ihn. Wie Meister Hemon da vor ihm stand, nicht der furchteinflößende Wirker, nicht der vom vielen Rauch verwirrte Greis, sondern ein einfacher, wahrhaftiger alter Freund. Nomis Hand krampft sich um den Talisman. »Danke«, würgte er hervor. Zumindest wollte und würde er nicht weinen.
Hemon legte eine Hand auf Nomis Arm. »Versteck ihn gut und hole ihn nur hervor, wenn du ihn wirklich benötigst. Wenn man ihn in einem Dunklen Land bei dir findet -«
Nomi nickte. »Ich verstehe schon. Dann wird er genau die umgekehrte Wirkung haben.«
Meister Hemon nickte grimmig. »Ich will dir keine unnötige Angst machen - aber bitte, such ein gutes Versteck.«
»Seid Ihr endlich fertig?« Gerade als Nomi fast wieder anfing, Meister Hemon zu mögen, tauchte nun ausgerechnet Meister Andor hinter ihm auf. »Jetzt hört auf, den Jungen mit Euren Schauergeschichten zu langweilen. Ich muß ein ernstes Wort mit ihm reden.«
»Und wenn ich nicht mit Euch reden will?« fragte Nomi frech zurück. Das war ein Mann, von dem mußte er nicht in Freundschaft scheiden. Wenn er diese Halle verließ, mußte er ihn nie im Leben wiedersehen, und das war das Beste daran.
»Das ist mir egal, du mußt kein Wort sagen, solange du nur gründlich zuhörst«, sagte der jüngere Wirker. »Aber ich habe dir ein paar Sachen zu deinem Begleiter zu sagen, die Meister Hemon dir wohl lieber verschwiegen hätte, auch wenn er es ebensogut weiß wie ich.«
Nomi verdrehte die Augen und nickte. »Ja, ich weiß, ich darf ihm nicht trauen, er ist ein Geschöpf des Dunkels, wird mir vermutlich die Haut vom Leib ziehen, kaum daß wir durch das Stadttor sind…« Mit den Fingern machte er die respektlose Geste eines auf- und zuklappenden Mundes.
»Nein«, sagte Andor. »Nein, so einfach ist das nicht. Glaubst du etwa, wir würden dich ziehen lassen mit einem Mann, von dem wir glauben, daß er dir etwas antun würde?«
Nomi lächelte. »Also kommt Ihr, um Euch zu entschuldigen? Um zuzugeben, daß Ihr Euch in Shen geirrt habt?«
»Nein«, sagte Andor nochmal. Er winkte Nomi zur Seite, in eine etwas abgelegene Nische. »Es ist nicht einfach, und du bist ein dummer Junge. Aber du bist an der Wahrheit interessiert? Du brüllst es tagtäglich durch die Gegend? Dann hör dir jetzt an, was ich dir über diesen Flötenspieler zu sagen habe.«
Nomi folgte ihm zögerlich. »Ich habe gesehen, was Ihr mit ihm gemacht habt. Ich bin an keiner Wahrheit interessiert, die auf diesem Weg gewonnen werden muß.«
»Ich weiß«, sagte Andor. »Aber er hat mir keine Wahl gelassen, so wie er uns jetzt keine Wahl läßt, als dich mit ihm ziehen zu lassen.«
Nomi mußte grinsen. »Also weiß er etwas - und er hat Euch damit erpreßt, Euch zu verraten, wenn Ihr Euch ihm in den Weg stellen solltet?« Er ahnte doch, daß Shen mehr wußte, als er direkt zugeben mochte…
»Hör auf zu raten, und laß mich ausreden«, unterbrach ihn der Wirker. »Und mach keine Witze darüber, daß dieser Shen ein Geschöpf der Dunkelheit ist. Denn er ist es.«
Nomi schnaubte. »Ohne die leiseste Spur von Tien, ich habe es gesehen!«
»Du weißt zu wenig und verstehst noch weniger!« Andors Stimme war schroff vor Zorn. »Die Salzprüfung, der wir ihn unterzogen haben, zeigt, wie sehr die Seele eines Menschen vom Tien durchzogen ist. Aber wenn jemand nicht Tien in sich trägt, sondern so verderbt ist, daß er nur noch aus Tien besteht, wenn er keine Seele mehr hat - dann wird auch das Salz seinem Körper nichts mehr antun, denn es ist nicht mehr genug zum Brennen da. Das war meine Vermutung, kaum daß wir ihn auf das Salz gebettet haben, noch bevor er anfing, uns zu verhöhnen. Um ganz sicher gehen zu können, habe ich ihn der zweiten Salzprüfung unterzogen.«
»Ihr habt ihn gefoltert«, verbesserte ihn Nomi.
»Ich habe ihn gezwungen, das Salz zu essen, das ist wahr«, antwortete Andor gelassen. »Und er hat es getan, nur widerstrebend, aber er hat es gegessen, eine ganze Hand voll.«
»Aber das war kein Beweis!« rief Nomi. »Ihr habt ihn gezwungen!«
»Ja«, sagte Andor, und dann lächelte er. »Daß er es gegessen hat war kein Beweis. Aber, daß er es überlebt hat. Jeder Mensch, jeder, der noch eine Seele hat und in dessen Brust noch ein Herz schlägt, wäre gestorben.«
Nomi wurde kalt, vor Schreck, vor Wut. »Ihr - Ihr wart bereit, ihn umzubringen?« flüsterte er. »Was für ein Mensch seid Ihr? Und behauptet noch, Ihr dient dem Licht?«
»Ich war mir sicher«, erwiderte Andor. »Und er ist nicht gestorben.«
Nomi wäre am liebsten weggerannt oder hätte ihn richtig laut angeschrieen - ‘Und wenn ich das gewesen wäre, was dann?’ - aber er kniff nur die Lippen zusammen. Nur weil Andor das jetzt sagte, mußte das noch lange nicht stimmen. Nomi würde sich nicht das Recht nehmen lassen, sich selbst ein Bild von Shen zu machen…
»Er ist ein Geschöpf des Dunkels, und er war von Anfang an nur deinetwegen hier.« Andor nutzte Nomis Schweigen aus, natürlich. »Er hat dich dazu gebracht, mit uns allen zu brechen und ihn als neuen und einzigen Gefährten auszuwählen, indem er mit großer Feinfühligkeit Argwohn und Zwietracht in dein Herz gesät hat. Klug ist er, dieser Shen, und gerissen, niemand, den man unterschätzen darf. Und er wird dir nichts tun. Er wird dich im Gegenteil immer freundlich behandeln, aber nicht so freundlich, daß du beginnen würdest, an ihm zu zweifeln - gegenwärtig ist er zurückhaltend und gibt dir Rätsel auf, weil er weiß, wie du gestrickt bist, und du bist mit offenen Augen und Armen in seine Falle gelaufen. Das Dunkel will dich, Nomi, aber es will dich nicht tot - es will dich, damit du die Prophezeiung für es erfüllst. Shens Absicht ist, dich auf seine Seite zu ziehen, dich bei deiner Neugier zu packen und deiner Verdrossenheit gegen das Leben mit uns. Er weiß all das, und er nutzt es aus, um dich ausnutzen zu können. Vielleicht wird er, wenn du erst einmal das Gläserne Schwert in Händen hältst, seine Maske fallen lassen und sein wahres Gesicht zeigen. Aber vielleicht nicht einmal dann. Er ist ein zu gefährlicher Gegner.«
Nomi versuchte zu lachen, doch er brachte es nicht heraus. Er konnte das jetzt abtun als Lüge, als Meister Andors Versuch, hämisch Rache zu nehmen an ihm oder auch an Shen - aber bei aller Abneigung, die zwischen ihnen sicher bestand: Was hatte der Mann dabei zu gewinnen? Er wollte, daß Nomi für das Licht kämpfte - aber das hatte Meister Hemon doch besser vermittelt. Aber wenn es nun stimmte? »Warum laßt Ihr mich dann mit ihm gehen?« Heiser würgte Nomi die Worte hervor. »Wenn Ihr das alles längst wißt?«
Andor verzog das Gesicht. »Weil Shen schon gewonnen hat, so oder so. Ab dem Augenblick, wo du die ersten Worte mit ihm gewechselt hast. Kavi hat ihm noch in die Hände gespielt, indem er ihn vor deinen Augen gebannt hat - damit war für dich klar, wer hier gut ist und wer böse. Und wenn wir ab diesem Moment versucht hätten, Shen einzusperren, oder ihn aus der Stadt zu verbannen, oder dir verbieten würden, ihn zu treffen oder jetzt mit ihm aufzubrechen - dann wäre sein Plan doch schon mit Erfolg gekrönt, denn du hättest uns gehaßt. Du tust es jetzt schon, und wir können dich nicht mehr davon abhalten.«
Nomi konnte ihn nur anstarren. »Ich… glaube Euch nicht«, flüsterte er.
Andor hob kurz seine Mundwinkel. »Ja. Natürlich. Ich weiß. Du mußt deine Erfahrungen mit dem Dunkel selber machen, und ich kann nur hoffen, daß sie besser sein werden als meine - nein, eigentlich hoffe ich, daß sie noch schlimmer sein werden, damit du gezwungen wirst, die Wahrheit mit eigenen Augen zu sehen. Ich will nur, daß du vorsichtig bist. Auch, oder gerade, im Umgang mit deinem Reisekameraden.«
Nomi schüttelte den Kopf. Ob er das jetzt glaubte oder nicht glaubte, in jedem Fall hat Meister Andor seinen Samen der Zwietracht in Nomis Herz gepflanzt, ganz so, wie er es nun Shen unterstellte. »Selbst wenn Ihr Recht habt«, murmelte er, »ändert das nichts mehr.« Vor den nächsten Worten mußte er tief durchatmen, um sie über die Lippen zu bringen, zumindest diesem Mann gegenüber. »Aber… danke.«
Dann ging er, schnell, und ohne sich umzubringen. Aber den Talisman schob er sich provisorisch tief in den Ärmel. Auf die Dauer würde er ein besseres Versteck dafür finden müssen. Und dann in Ruhe entscheiden, ob Shen davon Bescheid wissen mußte. Erst einmal… sollte es sein Geheimnis sein.

Vom Tag war nicht mehr die Hälfte übrig, als Nomi mit frisch geschnürtem Bündel aufbruchsbereit zum letzten Mal vor dem Haus seiner Eltern stand. Das Bündel hatte seine Mutter ihm gepackt, mit sauberen Kleidern, guten sauberen Kleidern, anderen guten sauberen Kleidern, warmen Kleidern, einer warmen Decke, und nicht zuletzt einem ganzen Berg an Reiseproviant. Und als Nomi dieses Gepäck zum ersten Mal sah, genügte ihm ein kritischer Blick und ein Versuch, es hochzuheben, um es wieder auseinanderzunehmen. Niemand brauchte so viele Kleider. Wenn er einmal im Dunkel war, konnte es egal sein, ob er gute oder schäbige Sachen anhatte - ob sie sauber waren oder nicht, konnte man im Zweifelsfall riechen. Also brauchte er etwas zum wechseln, eine Hose, einen Kittel, Lendentuch, und ein Stück Seife. Der Rest konnte daheim bleiben.
Und auch beim Proviant wog Nomi das Für und Wider ab - auf der einen Seite war es gut, etwas zum Essen dabei zu haben. Aber es würde ohnehin nicht bis jenseits des Dunkels reichen, und wenn sie ohnehin gezwungen waren, sich Untewegs mit neuer Nahrung zu versorgen, konnten sie darauf verzichten, zuviel mit sich herumzuschleppen. Schließlich hatten sie weder Ochsen noch Karren, und wollten doch im Zweifelsfall noch rennen können. Das gute frische Brot durfte bleiben, und auch die Wasserflasche. Aber keine Linsen, säckeweise - Nomi mußte stärker werden, keine Frage, doch durch Training, nicht durch das Schleppen von totem Ballast.
Die Bettdecke war das Beste, sie hatte einen Knopf, daß er sie auch als Umhang tragen konnte, wenn es kalt wurde. Richtig guter Wollstoff. Aber wenn man einen Tuchhändler zum Vater hatte, mußte das auch sein. Und obwohl seine Mutter sie ihm nicht eingepackt hatte - vermutlich einfach vergessen - nahm Nomi auch seine Schlafmaske mit. Im Dunkel würde er sie nicht brauchen, aber auch in den Hellen Ländern wollte Nomi doch noch irgendwie schlafen können.
Also, letzten Endes konnte man sagen, daß Nomi sein Bündel doch selbst schnürte. Und er kam auch selbst auf die Idee, den Stab in der Mitte, wo er ihn anfaßte, mit Lederbändern zu umwickeln. Das hatte einen doppelten Sinn: Das Holz drückte dann nicht so an den Händen und es wurde nicht glitschig, wenn er schwitzte. Nein, es hatte noch einen anderen Sinn, aber der war geheim: Unter dem Leder verbarg Nomi Meister Hemons Talisman. Da würde es zwar etwas länger dauern, ihn im Zweifelsfall hervorzuziehen, aber niemand, wirklich niemand, würde ihn dort finden. Selbst wenn das Leder verruschte und etwas von dem Pergament hervorschaute - niemand würde es merken. Zu ähnlich waren sich Leder und Talisman. Nomi lachte, als er den Stab packte und nach links und rechts in die Luft hieb. Das war das erste an diesem Tag, worauf er stolz sein konnte.
Seine Eltern waren nicht mit ihm hinausgekommen - sonst würde er in drei Tagen nicht fortkommen. Eine letzte Verbeugung, eine letzte Umarmung, und dann durften sie ihm vom Fenster aus zusehen, nachblicken, so lange sie wollten. Nomi hatte ein Drücken im Hals und ein Ziehen in seiner Brust, viel stärker, als er es von dem Schattenbanntalisman gewöhnt war. Das war der Abschied. Er würde seine Mutter und seinen Vater niemals wiedersehen. Aber im Unterschied zu seinen richtigen Eltern würde er sich an diese beiden zumindest sein Leben lang erinnern.
»Du bist bereit?« fragte Shen.
Nomi nickte. »Wenn Ihr es seid?«
»Ich bin ein Wanderer«, antwortete Shen. »Ich muß nicht bereit sein.«
Nomi fragte nicht nach. Shen hatte einen kleinen Beutel an seiner Seite und seine eigene Wasserflasche, und den Mantel konnte er auch als Decke benutzen - er mußte wissen, ob ihm das reichte. Dafür hatte er den großen blauen Hut und die Flöte, die er jetzt wie ein Schwert an seinem Gürtel eingehakt hatte. Um beides konnte man ihn beneiden, und so sagte Nomi nur: »Gut. Dann laßt uns gehen.«
Er kannte den Mann nicht, der da an seiner Seite wanderte. Er wußte nichts über ihn, und auch der Abend, den Shen Gast in seinem Haus war, hatte nichts offenbart, nichts Neues, nicht einmal Altes. Er mochte ein Geschöpf des Dunkels sein, keine Seele haben, Böses wollen, was auch immer - von nun an war er alles, was Nomi hatte.
Die Wächter am Stadttor wußten Bescheid. Nach Nomis Auftreten beim Than gab es wohl niemanden in ganz Tolai mehr, der nicht Bescheid wußte. Sie verneigten sich und gaben das Tor frei. »Viel Glück«, sagte einer von ihnen leise. Und das war Nomis Abschied. Mehr nicht. Es säumten keine jubelnden Menschen die Straßen, als die Helden auszogen, wie Meister Adam es ihnen immer ausgemalt hatte. Vielleicht lauerten sie hinter ihren Fenstern. Vielleicht drehten sie sich noch einmal nach ihm um, wenn er auf der Straße an ihnen vorbeiging. Aber es war gut. Es war Nomis Abschied, kein anderer.
»Danke«, sagte Nomi ebenso leise. »Aber Glück allein wird nicht reichen.«
Und dann wurden die Flügel des Stadttors hinter ihnen geschlossen, zum letzten Mal. Zum ersten Mal befand sich Nomi außerhalb der schützenden weißen Mauern von Tolai. Er nickte Shen zu, und lächelte. Shen legte den Kopf schief, abwartend, und lächelte zurück, als wisse er längst, was jetzt kam.
Vorsichtig löste Nomi den Riemen des Talismans von seinem Hals - nicht mit Gewalt, ganz behutsam, und doch war das Gefühl des Triumphs um ein vielfaches größer als beim letzte Mal. Dann brach ein Freudenschrei aus Nomi heraus.
Und sein Schatten war frei.

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