Achtes Kapitel

Imon war allein. Allein mit dem Sumpf, allein mit dem Dunkel, mit der Angst, und mit sich selbst, und jedes von ihnen war schlimm. Aber das schlimmste war das, was außerhalb seiner geschlossenen Augen passierte. Außerhalb seiner Augen war er nicht allein. Nicht mehr, zumindest.
Außerhalb seiner Augen gingen Dinge um. Imon durfte sie nicht sehen, er wollte sie nicht sehen, aber er konnte sich nicht davon abhalten, sie sich vorzustellen. Er fühlte, wie sie sich bewegten. Auch wenn er ganz still stand, bewegte sich der Sumpf um ihn herum. Die Oberfläche wogte hin und her, auf und ab. Wasser schwappte ihm gegen das Kinn, nur ein bißchen, aber das Wasser durfte sich nicht bewegen, wenn er sich nicht bewegte. Imon hielt die Luft an, daß er fühlen konnte, wie sein Hals seine Brust verschlang und er vor Schmerz und Angst schreien wollte.
Hinter sich spürte er jemanden. Neben sich auch. Sogar über sich. Nur unter sich, da fühlte er nur den kalten weichen Schlamm. Am liebsten hätte Imon sich fallenlassen, hinein in das sichere Grab, sich zusammengekauert, daß nichts mehr um ihn sein sollte als Schwärze. Die Schwärze allein mußte er nicht fürchten.
Nur das Licht. Das Licht mußte er fürchten. Die tanzenden Lichter, die so friedlich und vergnügt waren, als die Flöte spielte - nun war die Flöte fort, doch die Lichter waren noch da. Imon konnte sie nicht sehen, doch er wußte es. Er konnte sie fühlen. Je heftiger er die Augen zukniff, desto mehr sah er. Lichter sprühten hinter seiner Stirn. Das Dunkel in seinem Kopf war brüllend rot. Bilder waren darin, schlimme Bilder, Erinnerungen von Erinnerungen, die Imon sich eben noch so sehr herbeigesehnt hatte - jetzt wollte er alles tun, um ihnen zu entkommen. Es war so einfach! Nur die Augen aufreißen, weit aufreißen, und fort waren sie… Doch während die Kälte in seine Knochen kroch und er schon fast zu kalt war, um noch Angst zu empfinden, mußte Imon doch Shen gehorchen bis zum Schluß. Die Augen nicht öffnen. Und wenn es bedeutete, daß er an seinen eigenen Farben erstickte -
Etwas strich über sein Haar, vielleicht ein Wind, vielleicht eine Hand, vielleicht der Tod. Imon durfte es nicht sehen, und er wollte es nicht sehen. Er machte sich ganz starr, hielt wieder die Luft an, doch es half nicht, er zitterte am ganzen Leib. Seine gefühllosen Hände schüttelten den Stab, der längst mit ihnen verwachsen war und sein kantiges Ebenbild in seine Handflächen eingeprägt hatte. Seine Arme waren noch schwerer als sein Kopf, sie konnten die Hände nicht länger über Wasser halten, seine Ellbogen schmerzten und schmerzten und würden nie wieder damit aufhören, seine Schultern dagegen waren lahm und steif und wußten nicht einmal mehr, wie er die Arme jemals wieder sinken lassen sollte, und alles andere, alles was darunter lag, unter dem Wasser, war längst tot und eins geworden mit dem Sumpf, der ihn verschlungen hatte.
Wieder spürte er eine Bewegung, diesmal an seinem Gesicht vorbei, an seiner Wange entlang und über sein linkes Ohr und war wieder fort, nur um eine kurze Ewigkeit später auf der anderen Seite zurückzukehren. Und noch immer kein Shen. Die Zeit verging nicht, und doch wußte Imon, daß es schon viel zu lange her war, daß Shen ihn alleingelassen hatte. Und wenn ihm nun etwas passiert war? Wenn er selbst in den Sumpf gefallen war? Wenn er nie mehr wiederkehrte? Wenn er verschlungen war von der Finsternis und dem, was in ihr lauerte? Es leckte an Imon voll hungriger Vorfreude - vielleicht fraß es ihn nur deswegen nicht, weil es schon gegessen hatte?
Bei der Vorstellung wurden Imons Beine wieder schwach, und alles was ihn noch aufrecht hielt, war der Schlamm, der ihn festhielt und ihn nicht fortrutschen ließ, so fest waren seine Füße darin eingegossen, eingesunken bis knapp unter die Knie - aber lange ging es nicht, lange konnte er nicht mehr so stehen, und es war schon lange - wo war Shen? Warum kam er nicht wieder?
Vielleicht kam er nicht wieder, weil er nicht wiederkommen wollte. Vielleicht war er längst an einem anderen Ort, wo es warm war und freundlich, und war froh, nie wieder einen Gedanken an Imon verschwenden zu müssen, den er dem Sumpf gelassen hatte. Er hatte niemals vorgehabt, Hilfe zu holen. Nur ein Dummkopf konnte auf ihn hereinfallen, konnte ihm glauben, daß irgend jemand noch in diesem Sumpf sein sollte, irgend jemand, der ihnen helfen sollte… Es gab niemanden in diesem Sumpf, niemanden außer Imon und Shen. Und nun niemanden mehr außer Imon…
Etwas berührte sein Gesicht, etwas Warmes, Lebendiges. Es waren die Tränen, die aus seinen geschlossenen Augen quollen, die über seine Wangen liefen und sich an seinem Kinn zu sammeln, um dann in dicken Tropfen in den Sumpf zu fallen und dort in der kalten Schwärze zu versinken. Und genauso tropfte das Leben aus Imon hinaus, er löste sich auf, langsam und quälend. Er mußte nicht weiter versinken, um dem Sumpf zu gehören. Er mußte keine Angst haben, gefressen zu werden. Der Sumpf hatte ihn schon längst verschlungen. Und alles was er jetzt noch mit ihm tun mußte, war, ihn zu verdauen. Der Sumpf wurde aus dem Tod geboren. Und mit jedem Leben, das er nahm, wurde er ein kleines bißchen größer.
Es war fast tröstlich. War es nicht besser, Teil eines großen Sumpfes zu sein, als gar nichts und niemand mehr? Der Sumpf tat nicht weh. Er war. Imon war. Ein Sumpf brauchte keine Erinnerungen. Ein Sumpf war immer viele, es schmerzte ihn nicht, seinen Körper mit anderen teilen zu müssen. War nicht Imon längst sein eigener Sumpf? Es war nicht mehr schlimm. Imon war nicht mehr allein. Sein Sumpf war bei ihm, und mit ihm, und in ihm. Er mußte nicht einmal die Augen öffnen. Nur sich fallen lassen, langsam, ohne Angst, ohne Hast, und in dem Schlamm versinken, in dem es kein Licht gab und niemals ein Licht gegeben hatte. Nur ein letztes Mal noch atmen, ein letztes Mal an das Lied der Flöte denken, und dann loslassen, all die Erinnerung, die nicht waren und die nicht sein durften, die Furcht und die Fragen und das Leben, und dann -
Dann hörte Imon Stimmen. Shens Stimme. Und fremde Stimmen.
Imon lauschte. Er konnte nicht anders. Stimmen. Er mußte sie hören. Unten im Sumpf gab es keine Stimmen mehr. Imon mußte sie mitnehmen, so lange er noch konnte. Und ein Teil von ihm, das bißchen, das noch lebte und hoffte, war vielleicht sogar neugierig.
»Wohin wollt Ihr uns noch locken? Glaubt Ihr, Ihr findet noch einen besseren Ort, um uns ins Verderben zu stoßen? Oder habt Ihr doch gemerkt, daß Ihr es mit uns allen nicht aufnehmen könnt? Für wie dumm haltet Ihr uns?«
Wie viele fremde Stimmen das waren, vermochte Imon nicht zu sagen. Shens Stimme war die einzige, die er kannte, die er auch unter tausenden herausgehört hätte - doch die anderen waren ein dumpfer Brei von Stimmen und Worten, jeder Laut, jede Silbe hätte aus einem anderen Mund kommen können, Imon merkte nichts davon. Die einzige Stimme, die ihm wichtig war, wichtiger als alles auf dieser Welt, sogar wichtiger als sein Tod, war Shens.
Und der sagte ruhig: »Dort wo das Licht ist. Dorthin führe ich euch. Und nichts anderes habe ich euch gesagt.«
Imon zitterte, vor Anspannung, vor Aufregung. Plötzlich fühlte er sich wieder lebendig. Und noch etwas fühlte er, in ihm drin - tief in ihm drin rührte sich etwas. Etwas, das in ihm lebte, auch als Imon nicht mehr leben wollte. Das war der Andere. Und wenn Imon sich fallen ließ, dann würde der Andere seinen Körper übernehmen. Der Andere wollte nicht sterben… Imon zitterte und schüttelte sich. Er wollte etwas tun, er wollte rufen, nach Shen schreien, vor Freude - das Leben wollte nur so aus ihm rausbrechen, doch als er auch nur versuchte, den Mund zu öffnen, fehlte ihm die Kraft dazu. Stehen und beben, mehr konnte er nicht tun.
»Licht im Sumpf? Daß ich nicht lache!« rief eine fremde Stimme - eine Jungenstimme. »Wirklich, haltet Ihr uns für so dumm?« Es folgte Gelächter, aber Imon mußte den Jungen nicht kennen, um die Unsicherheit darin zu fühlen.
»Ich zwinge euch nicht, mir zu glauben«, erwiderte Shen. »Ebensowenig habe ich euch gezwungen, mit mir zu kommen. Ich sagte nur, wenn euch etwas an dem Jungen liegt -«
Ihre Stimmen kamen näher, und auch ihre Schritte. Imons Herz hämmerte so heftig, daß es Wellen in das schlickige Wasser machen mußte. Auch Imons Kopf hämmerte - wenn er die Augen jetzt nicht bald öffnen durfte, würde er noch bersten. Aber wenn Shen wieder da war, dann hieß das doch…
»Wenn wir Euch nicht gefolgt wären«, sagte ein Junge, vermutlich ein anderer als zuvor, »würden wir nie erfahren, was Ihr im Schilde führt.« Pause. Die nächsten Worte kamen aus dem gleichen Mund. Glaubte Imon. »Und ja, wir können nicht zulassen, daß Nomi hier draufgeht.«
»Selbst wenn Ihr es wart, der ihn reingestoßen hat.« Das konnte der Junge von davor sein, der mit dem ängstlichen Lachen. »Und selbst wenn Ihr es jetzt auch mit uns vorhabt.«
Shen lachte leise, aber er war jetzt nah genug, daß Imon ihn genau verstehen konnte. »Was sollte ich davon haben? Ich habe um eure Hilfe gebeten. Aber ob ihr sie mir geben wollt, ist eure eigene Entscheidung.«
Die Worte gefielen Imon nicht. Das war nicht der Shen, den er kannte - sein Shen war anders, der hätte um jede helfende Hand gekämpft, hätte alles dafür getan, daß Imon nicht im Sumpf sterben mußte. Er hatte ihm dafür sogar allein gelassen, trotz aller Angst - wohin war diese Bereitschaft verschwunden, bis zum Äußersten zu gehen? Wer waren diese Leute, daß Shen so fremd mit ihnen sein mußte? Und woher wußte Shen, daß sie da waren?
»Seid hier besonders vorsichtig«, sagte Shen mit kühler Freundlichkeit. »Der Boden ist hier besonders rutschig.«
Ein Junge schnaubte. »Wir können gut auf uns selbst aufpassen!«
»Wie ihr meint«, erwiderte Shen gleichgültig. »Im Zweifelsfall werdet ihr nicht alle gleichzeitig hineinfallen, es sollten also genug übrig bleiben, um die Betroffenen wieder herauszuziehen. Aber erst einmal kann ich euch versichern« - jetzt war seine Stimme ganz, ganz nah - »daß wir am Ziel sind.« Er lachte leise, und Imon spürte, wie er sich vor ihm hinkniete. »Und du kannst die Augen nun wieder öffnen.« Imon fühlte einen kühlen Hauch in seinem Nassen Gesicht, im Einklang mit den Worten - sonst war Atem warm, aber jetzt gab es für Imon nichts mehr zum Fühlen als Kälte. Er öffnete die Augen. Vor ihm stand Shen, beugte sich zu ihm hinunter, und lächelte. »Du warst sehr tapfer«, sagte er, und nun war seine Stimme wieder sanft, war wieder die Stimme, die Imon kannte. Ein kleines bißchen Wärme kehrte zurück. »Das hast du gut gemacht.«
Imon konnte nicht einmal mehr zurücklächeln. Seine Augen schmerzten noch mehr als vorher, und helle Flecken tanzten durch die Luft vor ihm wie die unheimlichen Lichter, tanzten über Shens Gesicht, und dahinter war alles nur um so dunkler. Wer mit Shen gekommen war, konnte Imon nicht sehen. Aber er konnte nicht fragen. Er brachte kein Wort hervor. Seine Augen tränten weiter. Vielleicht weinte er sogar, aber er wußte es nicht.
»Ich habe einige Jungen mitgebracht«, sagte Shen, »die dir aus deiner mißlichen Lage helfen werden.«
»Einige Jungen?« tönte eine Stimme von rechts. Imon zwinkerte und schielte und versuchte, mehr als nur ein dunkles Schemen auszumachen. Das Dunkel enthielt Gestalten - wie viele, wußte Imon nicht. Einige. »Und mehr fällt euch zu uns nicht ein? Einige Jungen?«
»Ihr seid einige Jungen«, erwiderte Shen. »Oder wollt ihr das leugnen? Und sonst interessiert in diesem Augenblick nichts.«
»Hör nicht auf ihn!« rief eine Stimme von hinten, so laut, daß sie Imon gelten mußte. »Wir sind das, wer auch sonst.«
Imon traute sich nicht zu fragen, wer wir sein sollte. Es bedeutete in dem Moment nichts anderes als einige. Und es konnte ihn interessieren, wenn er einmal aus diesem Sumpfloch draußen war.
»Ihr habt ein Seil«, sagte Shen. »Ihr wißt, was zu tun ist. Ich überlasse ihn euch.« Dann trat er zur Seite, aus Imons Licht hinaus, und war nicht mehr zu sehen.
Einen Augenblick lang blieb der beleuchtete Fleck vor Imon leer. Dann tauchten, langsam, zaghaft, mit vorsichtigen Bewegungen, zwei Jungen auf. Imon blickte sie neugierig an - Jungen im Sumpf? Lebten sie hier? Wohl kaum. Was also suchten sie hier? Und waren so nah, daß Shen sie gefunden hatte? In diesem endlos großen Sumpf? So viele Fragen, die Imon nicht stellen konnte. Er starrte sie nur an, auch wenn von ihnen nicht mehr zu erkennen war als von Shen. Ihre Gesichter waren runder, ihre Haare dunkler, ihre Kleider heller und schmutziger - aber Imon konnte nicht einmal ahnen, wie groß sie waren. Aus seiner Perspektive, von unten hochstarrend, waren sie riesenhaft. Und sie blickten zu ihm hinunter.
»Das hättest du dir nicht gedacht, daß du uns so schnell wieder brauchen würdest, nicht?« fragte der eine. Seine Stimme war höhnisch. »Geschieht dir recht.«
Der andere spuckte aus. »Du hättest es verdient, da unten zu verrecken.« Er trat ihm mit der Schuhspitze Schlamm ins Gesicht und lachte darüber.
Imon brachte nichts heraus, starrte sie nur an und verstand nichts. Sie kannten ihn. Dachten sie. Sie kannten den anderen. Aber Imon kannten sie nicht, und Imon kannte sie nicht.
»Jetzt helft ihm schon!« sagte ein anderer, der weiter hinten stand. »Er wird sich hinterher noch lange genug an diesen Moment erinnern, und wir auch. Es wird ihm eine Lehre sein.«
»Wartet!« Jetzt schob sich ein dritter Junge in Imons Sichtfeld und beugte sich zu ihm hinunter, bewegte den Kopf nach links und rechts, auf und ab, ließ seine schmalen Augen über Imon gleiten, als wolle er sich jeden Fleck auf seinem Körper einprägen. Dann schnaubte er. »Wie ich mir dachte.« Er lachte kurz. »Das ist eine Falle.«
Imon zitterte. Warum zogen sie ihn nicht heraus? Wenn sie ihn verhöhnen wollten, sollten sie das tun, es traf Imon nicht, weil er wußte, daß es nicht ihm galt. Aber wenn sie ihn jetzt dort sterben ließen - wenn sie nur mit Shen gegangen waren, um ihn auszulachen…
»Wer sagt uns, daß das da unten wirklich Nomi ist?« fragte der Junge mit den schmalen Augen. »Es ist schwarz, es ist schlammig, es spricht nicht, und dann dieses Licht - das ist nicht nur nicht Nomi, das ist nicht mal ein Mensch!« Er lachte lauter. »Ihr habt Euch zu früh gefreut, Dunkler!« rief er in Shens Richtung. »Eure Kreatur wird keinen von uns in den Sumpf ziehen.« Er ging wieder zurück zu den restlichen Jungen und bedeutete den beiden anderen, mit ihm zu gehen. »Kommt. Wir müssen herausfinden, was in Wirklichkeit aus Nomi geworden ist.«
»Also, mir sieht der schon aus wie Nomi«, sagte der größere der beiden. »Und glaub mir, die Fresse erkenne ich unter tausenden. Und der Schlamm steht ihm gut.«
Imon wollte schreien, daß sie bleiben sollten. Nicht weggehen. Ihm helfen. Aber alles, was er herausbrachte, war ein atemloses heiseres Gurgeln.
»Wartet«, sagte Shen an seiner Stelle. »Bleibt.«
Ein paar von den Jungen lachten. »Ihr gebt nicht auf, was? Dann beweist uns, daß dies Nomi ist. Oder laßt ihn es selbst beweisen.«
»Wie soll er das beweisen?« fragte ein anderer. »Soll er uns seinen Schatten zeigen? Den kann man hier ohnehin nicht sehen.«
»Jetzt hör doch mal einer auf mich!« rief der Junge, der vor Imon stehengeblieben war. »Wenn ich sage, ich erkenne ihn, könnt ihr mir das ruhig glauben!«
»Ja, aber wenn er es beweisen muß, haben wir mehr davon.«
»Er kann es nicht beweisen, weil er es nicht ist. Seht ihr nicht das Leuchten um ihm?« Die Stimmen gingen alle durcheinander, daß Imon sie nicht mehr auseinanderhalten konnte. »Wie soll denn ausgerechnet Nomi leuchten?«
»Hemon hat uns gewarnt vor allem, was hier leuchtet. Er ist kein Mensch. Wer hier leuchtet, ist ein Geist -«
»Oder schlimmeres -«
Imon fühlte, wie der Boden unter ihm nachzugeben begann. Er wußte nicht, ob es gerade Wirklichkeit war oder sich nur so anfühlte, aber er versank. Im Sumpf oder in Hilflosigkeit, er wußte es nicht.
Der Junge, der noch da war, beugte sich zu ihm hinunter. »Wenn du Nomi bist, dann sag mal was. Irgendwas, das nur Nomi wissen kann.«
Imon konnte ihn nur anstarren und den Kopf schütteln. Sumpfwasser lief ihm in den Mund, und er schluckte unwillkürlich - er hatte schon ebensoviel geschluckt wie wieder ausgespiehen, es änderte nichts mehr.
»Gut, fang mit etwas einfachem an. Wie heiße ich?«
Merkte er denn nicht, daß Imon nichts rausbrachte? Imon wollte, daß er es merkte. Damit er nicht merkte, daß Imon ihm nicht antworten konnte, weil er es nicht wußte. Sie mochten den Anderen nicht, aber sie würden nur ihn retten. Nicht Imon.
»Hör auf«, sagte Shen. »Ich habe euch nicht geholt, damit ihr ihn quält. Helft ihm aus dem Sumpf. Er wird euch nichts tun.« Dann trat er wieder in das Licht. »Ich habe euch keine Falle gestellt. Noch habe ich jemals behauptet, daß es hier um Nomi geht. Ich habe gesagt, daß der Junge in den Sumpf gefallen ist. Alles andere waren eure eigenen Gedanken und Schlüsse.« Er hockte sich hin und versuchte, Imon mit seiner Hand zu erreichen, aber er bekam nur das Ende des Stabs zu fassen. »Du kannst ihn jetzt loslassen«, sagte er leise. »Deine Hände brauchst du gleich für das Seil.«
Imon schüttelte den Kopf, es gab kein Seil, nicht hier, nicht für ihn, es sei denn, Shen nahm es den Jungen weg -
»Das ist nicht Nomi«, sagte Shen zu den Jungen. »Zumindest nicht jetzt. Und wenn ihr mir zugehört hättet, wüßtet ihr es längst. Er ist jetzt Imon.« Er trat beiseite, als die Jungen, und nicht nur zwei von ihnen, auf ihn zu stürzten. »Vorsicht. Ihr wollt nicht auch hineinfallen.«
»Was habt ihr mit ihm gemacht?« riefen die Jungen. »Und wo ist Nomi? Unser Nomi?«
»Euer Nomi ist sein eigener Nomi, und er ist nicht her. Sein Körper dient in diesem Augenblick Imon. Und er dient ihm nicht mehr lange, wenn ihr ihm nicht aus diesem Sumpf helft.«
»Warum helft Ihr ihm nicht selbst?« fragte einer.
»Weil ich zu schwach bin«, sagte Shen, und jedes einzelne Wort tat Imon weh. Dabei sagte er es ganz ruhig und kühl, wie die Feststellung, daß es Dunkel war oder der Sumpf voller Wasser. »Ich bin ein einfacher Flötenspieler. Ihr seid Kämpfer. Eure Arme sind stark, und ihr seid zu siebt. Warum fragt ihr dann noch, warum ich es nicht allein tue? Ihr selbst habt es noch nicht einmal versucht. Tut es, wenn ihr es für so einfach haltet. Ich würde euch aber empfehlen, das Seil dafür zu benutzen.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, als wisse niemand etwas zu sagen. Dann, eine Stimme, leise, trotzig: »Ich bin kein Kämpfer!« Dann wieder Schweigen. Bis endlich, nach einer Zeit, die Imon so lang vorkam wie die, die er allein im Sumpf verbracht hatte, ein Junge sagte: »Gebt ihm das Seil.«
Hinterher konnte Imon nicht sagen, wie er nun aus dem Sumpfloch hinausgekommen war. Er erinnerte sich an viele Versuche, ihm das Seil zuzuwerfen, und an ebensoviele Versuche, es zu fangen, mit kalten, krummen Fingern, die nichts mehr halten konnten. Er erinnerte sich an Jungen, verschiedene Jungen, die sich hinknieten und vorbeugten und versuchten, Nomi eine Schlinge überzuwerfen. Er erinnerte sich, wie diese Mühen seine letzte Kraft aufbrauchten, wie es dunkel um ihn wurde, wie er in der Schwärze versank. In sich zusammensackte, und unterging. Und vielleicht erinnerte er sich auch noch, wie jemand sagte: »Verdammt, gebt das verdammte Seil mir, ich geh hinterher« - aber das konnte er nicht mehr genau sagen. Aber irgendwann, nach einer Ewigkeit, war er zumindest nicht mehr im Wasser.
»Danke«, brachte Imon noch hervor. Und dann, als er nichts mehr zu verlieren hatte als das Bewußtsein, verlor er das Bewußtsein.

Es war nicht wie Schlafen, und auch nicht wie Träumen. Es war ein Moment des Nichtseins. In diesem Moment gehörte der Körper niemandem, außer vielleicht denen, die ihn trugen. Aber als Imon wieder zu sich kam, war er wieder Imon. Er war naß. Ihm war kalt. Und ihm tat alles weh. Imon stöhnte, und dabei spuckte er nochmal einen Schwall von Sumpfwasser aus, dann hustete er, und damit war er wieder bei sich.
»He, spuck mich nicht voll!«
Imon schreckte zusammen. Dort, wo er eben noch gewesen war, gab es die anderen Jungen nicht, und er hatte doch halb gehofft, daß Shen derjenige war, der ihn trug - aber in Wirklichkeit waren es zwei von den fremden Jungen. »Es tut mir leid«, flüsterte er, aber da wurde er schon wieder abgesetzt.
»Wenn du allein spucken kannst, kannst du auch allein laufen«, sagte der Junge.
Imon schniefte und blickte in das fremde Gesicht - eine breite Nase, darunter eine höhnisch hochgezogene Lippe, unfreundliche Augen - es gefiel Imon nicht. Trotzdem versuchte er zu lächeln. »Danke, daß du mich - daß ihr mir geholfen habt.« Unsicher versuchte er sich umzusehen. Er hing hab zwischen zwei Jungen, aber der andere hatte seinen Kopf abgewandt und war kaum mehr zu erkennen als vorhin im Sumpf - waren sie noch im Sumpf? Imon wußte es nicht. Die Jungen machten zuviele Geräusche, um ihn das Seufzen des Schlamms hören zu lassen, und was seine Nase anging, so roch für ihn immer noch alles nach Sumpf und würde es wohl auch noch für alle Zeit. »Wo ist Shen?«
Der Junge direkt neben ihm feixte. »Und was anderes fällt dir nicht ein? Denkst nur an deinen Shen, was?«
Imon schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid… Ich kenne dich doch nicht… Er ist doch alles, was ich habe -«
Er stürzte zu Boden, als der andere ihn losließ. Den Bruchteil eines Momentes lang dachte er noch, daß dies kein Sumpf mehr war - der Boden war zu fest. Im nächsten Moment krümmte er sich vor Schmerzen zusammen. Jetzt wußte er, wie es sich anfühlte, getreten zu werden. Es schmerzte doppelt - einmal wegen der Wucht, die seinen Unterleib traf, daß er sich einwärts bog, ein Steche und Pochen zugleich. Und zum zweiten wegen der Absicht, die dahinter steckte. Die Absicht, die Sinnlosigkeit, ein Schmerz, der nicht sein mußte - den fühlte Imon in seinem Herzen.
»Hör auf!« Aber es war nicht Shen, der dazwischenging und den Jungen von Imon wegzerrte - es war einer von den anderen. »Laß ihn in Ruhe, Dhuan! Du siehst doch, daß er immer noch völlig neben sich ist!«
Der garstige Junge versuchte sich freizuschütteln. »Ich habe doch nur versucht, ihn wieder zu sich zu bringen!« Dann wurde er selbst geschlagen.
»Nomi ist halbtot!« schrie der Junge, der Imon zur Hilfe gekommen war. »Du hast vorhin schon versucht, ihn in dem Sumpfloch absaufen zu lassen, also erzähl mir jetzt nichts, oder ich prügel dich zurück!« Er reichte Imon die Hand. »Steh auf, wenn du kannst.«
»Wo ist Shen?« Imon kam sich so töricht vor, er wußte, daß er sich hätte bedanken müssen, aber es kamen keine anderen Wörter aus ihm heraus.
»Er ist hier«, sagte der Junge. Dann lächelte er zaghaft. »Ich bin Yun. Du kennst mich, aber… du weißt es im Moment nicht. Du kennst uns alle.«
Imon nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Ich kenne nur Shen«, flüsterte er, aber das stimmte nicht. In Wirklichkeit kannte er weder Shen noch sich selbst.
»Später«, sagte der Junge - Yun. »Jetzt macht alles keinen Sinn, für keinen von uns.«
»Und ich bin hier«, sagte Shen.
Imon wollte zu ihm hinstürmen, ihn ergreifen und niemals wieder loslassen müssen - er war umgeben von Fremden, sein Sumpf war fort, den er nicht mochte aber kannte - alles war fremd, und fremd war falsch. »Shen!« schrie er.
Shen lächelte, es war sein Shenlächeln, das einzige, was Imon jetzt ein bißchen Vertrautheit gab. »Da sind wir nun alle wieder da«, sagte er, zu wem auch immer - vielleicht zu allen.
»Er hat mich getreten«, sagte Imon und zeigte auf den Schuldigen. Shen sollte ihn mit sich fort nehmen, dorthin, wo alles gut war. Er hatte so oft davon gesprochen - jetzt wollte, mußte Imon dieses gut endlich selbst erleben, oder er würde es nicht mehr lange durchhalten.
Shen fuhr ihm mit der Hand durch die Haare, die immer noch kalt und naß und schlammig an seinem Kopf klebten. »Aber dafür hat er dir aus dem Sumpf geholfen«, sagte er leise, als ob das eine Entschuldigung war. Und er lächelte dabei. »Er ist ein kluger Junge - er wußte, er kann dich nicht treten, solange nur dein Kopf aus dem Sumpf herausschaut.« Dann nickte er den Jungen zu. »Seid vorsichtig mit ihm, habe ich gesagt! Er ist nicht so groß, wie er aussieht.«
Imon schaute ihn an, nur ihn und keinen anderen. »Wer sind die?« fragte er. »Was wollen sie von mir? Wo kommen sie her?« Am liebsten wäre ihm, sie wären alle verschwunden, alle, auch der eine, der netter war - sie gehörten nicht zu ihm, sie gehörten zu dem anderen, und wie der andere sollten sie verschwinden und Imon in Ruhe lassen.
»Die?« fragte Shen. »Das sind deine Freunde, Imon. Du kannst dir deine Freunde nicht aussuchen, und sie haben sich auch nicht ausgesucht, deine Freunde zu sein, aber sie sind es.«
Von den Jungen kam Gelächter. »Wenigstens gebt Ihr das zu!« sagte einer, der kleiner war als die anderen und keinen Schlamm am Körper hatte - alle anderen waren schlammig, nicht so wie Imon, aber schlammig genug, daß man den Unterschied sah. »Sonst habt Ihr ihm wohl gesagt, daß wir seine Feinde sind, aber jetzt, wo Ihr uns braucht -«
Shen unterbrach ihn. »Ich brauche euch nicht, und ich habe euch nie gebraucht«, sagte er. »Der Junge hier braucht euch, und wie ich gesehen habe, braucht ihr auch ihn und, im Moment zumindest, vor allem mich.« Er lächelte Imon noch einmal an, und das entschädigte dafür, daß er schon wieder diesen fremden Klang in der Stimme hatte. »Siehst du, Imon, du mußt dich nicht in ihrer Schuld fühlen. Als ich sie fand, hatten sie sich hilflos im Sumpf verirrt und wären wohl hineingefallen, einer nach dem anderen. Jetzt haben wir den Rand des Sumpfes erreicht, und das verdanken sie nur dir und deinem Licht.«
Der etwas kleinere Junge kam etwas näher, daß Imon ein bißchen von seinem Gesicht erkennen konnte - er hatte eine lustige Nase und sah fast vergnügt aus, was für ein Unterschied zu den grimmigen Mienen der anderen! »Aber das heißt«, fragte er mit aufgeregter Neugier in der Stimme, »daß wir diesen Sumpf jetzt hinter uns haben? Endlich und endgültig hinter uns?«
Shen nickte. »Und wenn ihr Imon etwas zu essen gebt, können wir auch bald weitergehen, denn er hat seit dem Aufstehen nichts gegessen, nicht wahr, Imon?«
Imon nickte langsam. Essen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas gegessen zu haben, nach dem Aufstehen oder vor dem Schlafengehen. Vielleicht war es Hunger, weswegen er sich so seltsam und schwach gefühlt hatte, daß er das Gleichgewicht verlor… Er wußte es nicht. Sein Körper sprach nicht mit ihm, oder wenn, dann verstand Imon seine Sprache noch nicht. Der Körper war neu und fremd wie alles andere. Wollte schlafen… Wollte jetzt auch noch essen…
»Dann gebt ihm etwas zu essen«, sagte Shen in einem Plauderton, dem man gehorchen mußte. »Denn was er vorher vielleicht noch hatte, ist mit ihm in den Sumpf gefallen.«
»Soll er’s doch trotzdem essen«, murrte der Junge, der Imon wehgetan hatte, aber er sagte es nur leise.
»Und Ihr?« fragte einer der anderen. »Warum gebt Ihr ihm nichts ab?«
Shen legte den Kopf zur Seite. »Ich wäre nicht schwach, wenn ich soviel äße wie ihr«, sagte er mit seltsam traurigem Vergnügen.
»Was soll das heißen?« fragte einer von den Jungen, die noch keinen Namen hatten. »Was seid Ihr?«
»Er ist mein Freund!« rief Imon, bevor Shen antworten mußte, denn er sah nicht so aus, als ob er das gern wollte. »Euch kenne ich nicht, aber er ist mein Freund!«
Doch Shen machte eine Geste, daß er ruhig bleiben sollte. »Ich bin das, was ich immer bin«, sagte er. »Ein einfacher wandernder -« Und dann schwieg er.
»Flötenspieler, ich weiß«, sagte der kleinere Junge, an dem kein Schlamm war. Und sah auf einmal sehr, sehr zufrieden aus. »Schnell, schnappt euch Nomi!«
»Du bist wahnsinnig!« schrie Yun. »Was tust du da?«
»Für Erklärungen ist keine Zeit!« rief der Junge zurück. »Schnappt euch Nomi, und dann weg hier, schnell!«
Imon starrte Shen an, der sich nicht mehr rührte. »Shen, was ist los?«
Shen rührte sich nicht. Gar nicht. Er sah nicht einmal mehr aus, als ob er atmete. Er war ganz still, viel zu still, das Lächeln in seinem Gesicht festgefroren, daß es Imon Angst machte.
»Sei still«, sagte ein großer dünner Junge. »Wir bringen dich in Sicherheit, komm mit!«
»Nein!« In Panik klammerte sich Imon an Shens Mantel fest. Er fühlte den Körper darunter, ganz hart und starr, wie Holz, nicht wie Mensch. War das Shens Körper? Imon krallte sich daran fest, doch es gab keinen Halt. Warum rührte sich Shen nicht mehr? Was war los? Was wollten sie von ihm? Was von Imon?
»Das lasse ich nicht zu!« rief Yun. »Hört nicht auf Kavi, der hat wohl den Verstand verloren!«
»Das habe ich nicht.« Imon erkannte die Stimme jetzt wieder, das war der Junge, der ihm schon im Sumpf aufgefallen war - der, der gelacht hatte. Jetzt war seine Stimme hektischer als seine Worte. »Ich weiß genau, was ich tue. Ich habe gewartet, bis wir aus dem Sumpf raus sind, und wir sind aus dem Sumpf raus. Jetzt haben wir nicht mehr viel Zeit, also packt Nomi und rennt!«
»Nein!« rief Yun und stellte sich vor Imon wie eine schütznde Mauer, versuchte den anderen Jungen von ihm wegzuschieben. »Halt dich da raus, Loya, du bist nicht Kavis Knecht, es ist seine eigene Dummheit -«
»Laß mich los, Yun!« zischte der Junge.
Imon kniff die Augen zusammen, hielt sich an Shen fest, so fest er nur irgend konnte, und hoffte, daß alles vorbei ging. Ein fremder und zugleich nur allzu vertrauter Geruch kroch ihm in die Nase, süßlich, salzig, tödlich - der Geruch von Blut. Imon wußte nicht, wo es herkam, es war plötzlich überall, es tränkte ihn wie der Sumpf ihn getränkt hatte, überall war Blut, alle waren tot um ihn, sie packten ihn, sie schleppten ihn fort -
»Nein!« schrie Yun. »Vali, zu mir! Ihr zwingt mich -« Dann ein seltsames Geräusch. Ein Knirschen, Kratzen, Gleiten? Imon wußte es nicht. Es war nicht da, wo er war und das Blut. Es war anderswo. Imon war anderswo.
Dann Stille.
Dann wurde Imon von hinten gepackt. Er wehrte sich nicht, klammerte sich nur an Shens starren und leblosen Körper, bis man ihm die Finger mit Gewalt auseinander bog. Er nahm es nur halb wahr. In diesem Moment war Imon an zwei Orten gleichzeitig. Es überlappte sich - sie verschleppten ihn. Wann verschleppten sie ihn? Wen verschleppten sie? Es war Gewalt auf beiden Seiten, doch das Blut kam aus einer anderen Zeit, Imon wußte es nicht, er wollte es nicht wissen, er wollte sich nicht erinnern, Schreie waren in seinem Kopf, Hilferufe, Schmerzschreie, während er in einer anderen Zeit davongetragen wurde, Schreie, die aus einer anderen Zeit in seinen Kopf drangen, sein Körper, der vom Blut klebte, ganz klein und hilflos -
»Ich kann nicht mehr«, sagte eine Stimme unter ihm. »Ich brauche eine Pause, noch weiter kann ich den nicht mehr schleppen, ich bin doch kein Wasserbüffel!«
»Kannst ihn mir geben«, sagte eine andere Stimme, das Bündel Imon wurde durch die Luft gereicht, und dann ging es weiter, weiter, weiter durch Raum und Zeit und Dunkel, immer Dunkel.
Langsam schoben sich die Welten wieder auseinander. Die Schreie verstummten in Imons Kopf, dafür hörte er ein Schnaufen und Stöhnen, das sehr wirklich war und seltsam menschlich - es war kein Ort für Menschlichkeit. Doch es waren keine namenlosen Dunkelwesen, die Imon über das Land schleppten, es waren Jungen, vielleicht so groß wie er, und sie sprachen kaum, weil ihnen dafür die Puste fehlte. Irgendwann gaben sie auf. Irgendwann setzten sie ihn ab.
»Das hat jetzt zu reichen«, sagte Kavi. »Der Flöterich findet uns so schnell nicht wieder.«
»Und Yun?«
Kavi lachte. »Der hat nur einen von meinen eigenen abbekommen, die halten nicht viel aus, der ist schnell wieder bei sich gewesen und hat dabei wohl noch gesehen, in welche Richtung wir sind - das mit Yun war ja keine böse Absicht, aber der hätte mir beinahe alles ruiniert.«
»Einer von deinen?« fragte einer - sie waren zuviele, als daß Imon sie schon hätte alle auseinanderhalten können, Kavi kannte er und Yun, aber der war nicht mehr dabei, und sonst noch ein paar Namen, die noch zu keinem Gesicht gehörten. Und Dhuan, natürlich. »Also heißt das -«
»Ich hab bei dem anderen einen von Hemons genommen, natürlich«, sagte Kavi. »Für wie blöd haltet ihr mich? Es reicht schon, daß Yun so ausklinkt ist.«
»Yun hatte Recht«, meinte ein anderer. »Du kannst nicht einfach mirnichts-dirnichts bestimmen, den Mann zu bannen, ohne uns zu warnen und nichts! Aber bei dir traut man sich ja nicht mehr, irgendwas zu sagen, wenn man im nächsten Moment Herr seines Körpers sein will.«
Kavi lachte. »Ihr solltet mich gut genug kennen«, sagte er. »Traut mir. Ich weiß, was ich tue. Und ich meine, ihr habt Nomi auch gesehen und gehört, ja? Ihr habt gesehen, was dieses Scheusal aus ihm gemacht habt - und ihr glaubt, da wollte ich auch nur einen Augenblick länger zögern?« Er seufzte. »Ehrlich, ich weiß ja auch nicht, was wir jetzt mit dem anfangen sollen, aber Hauptsache, er ist erstmal bei uns und in Sicherheit.«
Imon rollte sich auf dem Boden zusammen. Der Boden war hart und trocken, aber Imon war immer noch naß und kalt, durch und durch, und jetzt, wo er ganz allein war, merkte er erst, wie kalt es wirklich war. Er zitterte. Seine Zähne schlugen aufeinander, in unregelmäßigem Takt, als wolle sein Körper wieder versuchen, ihm etwas zu sagen, aber diesmal mußte Imon nicht hinhören.
»Gut, warten wir auf Yun, wenn der uns wiederfindet.«
»Und wenn nicht?«
»Dann hat immer noch Devi ein Schwert.«
Imon versuchte, sich ihre Namen zu merken, es sollte ihn von der Kälte in seinen Knochen ablenken.
»Hey, du, Nomi - wer auch immer - geht es wieder?« Eine Hand beklopfte ihn. Imon wußte nicht, wie er es sonst nennen sollte - die Hand war da, dann war sie fort, dann war sie wieder da, an seinen Schultern, seinem Kopf, immer so ein seltsames Klopfen.
»Kalt«, murmelte Imon. Er wollte nicht wieder nach Shen fragen. Shen war nicht da. Er war fort, vielleicht für immer - soviel Dunkel auf dem Weg…
Der Junge neben ihm zischte durch die Zähne. War das Yun? War der schon wieder da? Imon hatte es nicht gemerkt… »Der ist ja noch komplett naß!« rief er. »Hat mal einer von euch eine Decke oder sowas für mich? Für ihn, meine ich!«
Danach stritten sie sich nicht mehr. Danach waren sie zum ersten Mal nett zu Imon. Sie halfen ihm aus den nassen Sachen und rieben ihn mit einem kratzigen Tuch ab, bis seine Haut brannte und die Knochen darunter immer noch klapperkalt waren. Imon konnte dabei nicht aufhören, die Zähen aufeinander zu schlagen, er wußte nicht, wie er aufhören sollte. Er preßte seine Arme und Beine dicht an den Körper und fühlte sich so starr und steif, wie sich Shens Körper angefühlt hatte - und er hatte Angst.
»So ein Dreck aber auch!« Kavi kniete direkt vor Imon und schnipste ihm mit den Fingern ins Gesicht. »Der kann uns doch jetzt nicht krank werden! Was machen wir, wenn der uns jetzt Fieber kriegt? Der geht uns doch noch kaputt hier draußen!« Wenn das Sorge in seiner Stimme war, klang sie doch anders, als Imon sich Sorge vorstellte.
»Kalt«, murmelte Imon nochmal. Nicht krank, nur kalt. Vielleicht beruhigte das die Jungen. Sie sollten ruhiger sein. Imon wollte Ruhe haben. Sie waren so viele, wenn sie sich jetzt auch noch alle sorgten und aufregten… Imon wollte schlafen, endlich und richtig schlafen.
Nur halb nahm er wahr, daß sich jetzt alle Jungen um ihn herum knubbelten, alle sechs oder sieben, Imon mochte sie nicht zählen - und da keiner ihn ärgerte oder gemeine Dinge sagte, konnte er ihnen glauben, daß sie sich tatsächlich Sorgen um ihn machten. Sie waren anders als Shen, aber sie kannten ihn ja auch als jemand anderen, vielleicht hatten sie ja recht… Vielleicht hatte es der andere ja verdient, daß sie garstig zu ihm waren… Aber Imon war nicht der Andere… Ihm war kalt.
»Hier, trink das schon mal!« Den Jungen, der jetzt die anderen beiseite schob, erkannte Imon durch halbgeschlossene Augen als den garstigen Dhuan, aber auch er war jetzt viel freundlicher. »Dann wird dir wärmer. Hier, nimm schon!«
Imon rührte sich nicht, er wußte nicht mal mehr wie, aber Dhuan rutschte nah an ihn ran und schob Imon etwas hartes gegen die zusammengepreßten Lippen. »Komm schon, Mund auf, runter damit.«
»Meinst du, das ist klug, Dhuan?« fragte einer der anderen.
»Klug?« Dhuan schnaubte. »Wer weiß das schon? Klug war aber allemal, daß ich mir das bis hier aufgespart habe!« Er drückte fester gegen Imons Mund. »Jetzt komm schon, es ist nichts schlimmes, wird dir nur gut tun.«
Imon wehrte sich nicht. Seine Lippen wurden gegen die Zähne gedrückt, das tat weh, als würde er sich selbst beißen. Er bekam keine Luft mehr, sein Mund lief voll Spucke, und als er schlucken wollte, nach Luft schnappen wollte, lösten sich seine Zähne, nur einen Spaltbreit, und Dhuan schob ihm seinen Flaschenhals in den Mund, und mit einer Drehung seiner Hand ließ er den Inhalt in Imon hinein laufen. Imon fühlte seinen Rachen erneut brennen, doch er schluckte widerstands- und willenlos. An diesem Tag hatte er schon soviel geschluckt und gespuckt, es machte keinen Unterschied mehr, und wenn es nicht gut war, würde es schon wieder rauskommen. Für diesen Tag hatte Imon genug gekämpft.
Dhuan lachte. »Das ist gut, immer runter damit -«
»Das reicht, Dhuan!« Ein anderer Junge - Imon wollte, daß es Yun war, doch letztlich war es egal - packte Dhuans Handgelenk und zog ihm die Flasche von Imons Mund weg. »Was wird das, deine großartige Rache, von der du immerzu schwätzt?«
Dhuan zog die Nase hoch. »Ich war ohnehin gerade fertig.« Er drückte rasch den Kork auf den Flaschenmund zurück. »Wer weiß, wann ich wieder so gutes Zeug bekommen, und wofür ich das bis dahin brauchen kann.« Mit einer Hand packte er Imon bei den Haaren und zog seinen Kopf nach oben. »Hat geholfen, nicht?«
Imon konnte ihn nur ansehen, ohne daß sein Körper ihm gehorchte. Er fühlte seine Augen hervortreten, und mit der gleichen anschwellenden Bewegung öffnete sich sein Mund und spie einen Gutteil von dem, was Dhuan ihm eingeflöst hatte, wieder aus. Es tat ihm fast leid. Ihm war tatsächlich etwas wärmer als vorher, aber nur in seinem Hals. Der brannte. Aber Imon konnte nicht mehr. Er konnte nichts mehr bei sich behalten, er konnte nicht einmal mehr seinen Mund zuklappen, er fühlte schleimigen Speichel an seinem Kinn hängen und konnte ihn nicht fort wischen. Seine Augen tränten. Zumindest war jetzt auch kein Sumpf mehr in ihm. Aber das war kein gutes Gefühl. Die Welt verschwamm im Dunkel, auch als Dhuan ihn ohrfeigte.
»Das war nicht zum Ausspucken gedacht!«
»Laß ihn, Dhuan. Du siehst doch, der ist völlig fertig.«
»Ich sag doch, du kannst dir den Zai sparen, das war doch reine Verschwendung bei dem Burschen.«
Schadenfrohe Stimmen, besorgte Stimmen, Imon trennte sie nicht mehr. Wenn er ganz fest hoffte und wartete, kam Shen zu ihm zurück und rettete ihn, sonst wollte er nichts mehr.
»Ihr versteht mich falsch, völlig falsch!« Doch, das war Kavi. »Ich tu dem hier nichts. Was denkt ihr, das ich blöd bin? Ich will es Nomi heimzahlen, und das richtig. Aber dafür brauchen wir erstmal Nomi zurück, na? Was haben wir davon, wenn uns der hier wegstirbt? Nichts. Ich will dem hier nur helfen, sonst nichts.«
Ein kleiner Teil von Imon freute sich. Vielleicht war das jetzt der Moment, in dem alle, auch alle anderen, erkannten, daß Imon Imon war und niemand sonst.«
»Ja, wir müßten Nomi jetzt wiederhaben, den echten Nomi, der konnte wenigstens auf sich selbst aufpassen. Der hier ist - der ist so ein Kind.«
»Aber Nomi war eine Landplage -«
»Das ist egal!« rief einer lauter als die anderen. »Was wollt ihr jammern? Wir können hier ohnehin nichts ändern. Der Schaden ist angerichtet, bedankt euch bei dem Flötenspieler, wenn er euch das nächste Mal über den Weg läuft - aber bis dahin müssen wir zusehen, daß wir zurechtkommen. Und dafür muß der Nomi hier erstmal wieder auf die Beine.«
Ein Seufzen. »Und jetzt muß ich es richten, ja?« maulte Kavi. »Nicht, daß ich uns nicht schon den Flötenspieler vom Hals geschafft hätte, nein… Alles bleibt an mir hängen, Kavi wird’s ja schon richten…«
»Kannst dich ja hinterher ausruhen«, meinte einer.
»Wirst du auch wohl müssen«, meinte ein anderer, schadenfroh. Imon verstand nicht, aber das war egal. Imon wollte gar nicht verstehen.
»Ihr wißt, was das heißt«, murrte Kavi weiter. »Wenn heute noch mit einem von euch irgendwas ist - ich kann dann nicht mehr. Das müßt ihr dann selbst…«
Imon dämmerte weg. Sie ließen ihn nicht. Sie ohrfeigten ihn wieder, bis er die Augen öffnete.
»Komm, Nomi, Junge, was auch immer - schau mich an!«
Imon schaute Kavi an. »Imon«, sagte er.
»Imon, schau mich an!«
Mehr als gehorchen konnte Imon nicht, noch nicht einmal nicht gehorchen. Er wurde von hinten festgehalten, lag halb, hockte halb, saß halb - ihm fehlte die Kraft, sich alleine abzustützen. Kavi saß vor ihm auf dem Boden, die Beine überkreuzt, und in seinen Händen hielt er ein Stäbchen mit einem Glühwürmchen dran, ein klitzekleines Licht, wie Imon es noch nie gesehen hatte. Er kannte kein Wort dafür. Es flammte auf und wieder ab und hatte einen wehenden Schweif.
»Siehst du die Pfeife?« fragte Kavi ganz langsam. »Weißt du, wozu die gut ist?« Er wandte sich zu den anderen um. »Wirklich, glaubt ihr, man muß mit dem so reden? So wie der mich ansieht, versteht der doch kein Wort von dem was ich sage - ich wette, jedes Schwein hat mehr Verstand!«
»Er hat Fieber, und er hat Angst!« sagte einer der anderen. »Was erwartest du von ihm? Der Dunkle hat ganze Arbeit geleistet, plus das Fieber - jetzt mach schon.«
Kavi seufzte wieder. Imon wußte es nicht besser, aber der Junge sah aus wie einer, der selbst Angst hatte. »Schau einfach immer nur auf das brennende Ende hier, hörst du?« Er bewegte das Glühwürmchen hin und her. Imon folgte ihm mit den Augen und sah, wie das Licht immer schwächer wurde.
Kavi schob sich das Stäbchen in den Mund und sog daran. Das Licht flammte wieder auf. Imon starrte auf das Flackern, doch er sah auch, wie Kavis Augen sich einen Moment lang seltsam bewegten - nach oben und unten und zu den Seiten. Kavi schüttelte den Kopf. »Wirklich, ich mach das ja sonst gerne«, sagte er leise, »aber wenn heute noch irgendwas passiert -«
»Wir tragen dich«, sagte einer der größeren Jungen. »Wir tragen euch beide, wenn es sein muß. Und im Zweifelsfall stirbst du für eine gute Sache.« Sie lachten. »Jetzt mach weiter. Oder fang endlich an.«
Das Glühwürmchen flackerte wieder auf. Ein Geruch stieg Imon in die Nase, er war fremd und süßlich und bitter, aber vor allem war er warm - Imon atmete tief ein und hielt den Mund fest geschlossen, damit die Wärme in ihm blieb und nicht wieder davonflog.
»Jetzt komm, schneid keine Grimassen!« sagte Kavi. »Ich muß mich… ich muß mich hier konzentrieren.«
In Wirklichkeit waren es seine eigenen Grimassen, die es Imon schwer machten, nicht zu lachen - die Art, wie er die Augen verdrehte, wenn er an der Pfeife zog und die komischen Bewegungen, die er mit seinem Mund machte, wenn er sie zwischen den Zügen absetzte. Aber Imon durfte nicht auf den Jungen schauen, nur auf die Bilder in der Luft. Es waren Bilder, für die er keine Worte kannte - und das lag, da war er sich sicher, nicht daran, daß er zu wenig wußte von sich selbst und von der Welt: Die Bilder, die Kavi mit Rauch in die Luft malte, zeigten keine Dinge, es waren nur Muster, runde und eckige Gebilde, die eine Bedeutung haben mochte, aber für Imon waren es nur Bilder. Sie waren warm und ruhig, das mochte er. Man konnte darin versinken. Und es war ein anderes Versinken als im Sumpf - es war gut.
Irgendwann merkte Imon, daß er überhaupt nicht mehr auf Kavi achte, auf sein Gesicht oder das, was er murmelte. Er achtete auch nicht mehr auf die anderen Jungen, oder auf das Dunkel - er roch nichts mehr als den freundlichen warmen Rauch, er hörte nichts mehr als seinen eigenen ruhigen Atmen, aber er sah die Bilder, und er sah, wie sie sich vor seinen Augen veränderten. Der Rauch war nicht länger grau vor dem schwarzen Hintergrund. Er war voller Farben - und mit jeder Bewegung, die das Bild weitermalte, veränderten sich die Farben und schufen das ganze Bild neu. Es war wie die Töne der Flöte - es fühlte sich so an wie die Töne, und als Imon das merkte, begann er die Musik in seinem Kopf zu hören, Töne und Bilder und Farben, alles war eins… Imon hoffte, daß es niemals aufhören sollte.
Aber auch, als es irgendwann vorbei war, als die letzten Rauchfäden in der Luft verwehten und die Muster auseinanderflogen, hilflos in alle Richtungen davontrieben wie jemand, der kein Zuhause hat und kein Ziel, hörte Imon in seinem Kopf immer noch die Musik und sah seinen Augen immer noch die Bilder und Farben. Und noch bevor er begriff, daß seine Augen ihm schon lange vorher zugefallen waren und nichts mehr war außer in seinem Verstand, schlief er ein.

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