Erstes Kapitel
Kranich und Löwe

Es war einer von diesen Träumen, die immer wiederkehren, und doch hatte ich ihn nur ein einziges Mal.
Wir beide auf einer Weggabelung, im Schnee. Jarvis lächelt mich an und sagt: »Das ist ein Dreisprung. Weißt du, was ich meine?« Natürlich weiß ich es, aber er sagt es trotzdem: »Hier trennen sich unsere Wege. Den, auf dem wir gekommen sind, dürfen wir beide niemals wieder betreten.« Wir blicken zurück auf die gleichmäßige Reihe unserer Fußabdrücke - und ich kann nicht sagen, welche von wem stammen. Der Weg selbst ist unter dem Schnee kaum zu erkennen. Wir frieren beide, und Jarvis redet weiter: »Der Weg, den ich gleich beschreite, soll für dich verboten sein.« Ich schlucke, aber ich sage nichts, auch wenn ich genau weiß, was jetzt kommt. »Und auf deinen Weg darf ich niemals einen Fuß setzen.«
Wir nicken, umarmen uns ein letztes Mal, ein letzter Händedruck, und dann gehen wir, er auf dem rechten Weg, ich auf dem linken. Wir blicken uns nicht mehr um. Zwischen unseren Händen ist ein Band, erst hängt es nur lose zwischen uns am Boden, aber je weiter wir uns voneinander entfernen, desto mehr strafft und spannt es sich, und es schneidet sich tiefer und tiefer in unser Fleisch ein. Ich beginne zu bluten, Jarvis ebenfalls, und das Band saugt es auf, langsam frißt sich die Röte von links und rechts das Band entlang, doch wir bleiben nicht stehen, gehen weiter, schweigend. Die Schmerzen ignorieren wir. Aus unseren Armen rinnt das Blut, rinnt das Band entlang, und dann vereinigt es sich in der Mitte…
Das Band zerreißt.
Ich erwachte, schweißgebadet, und schlief lange nicht ein.
Ich hatte den Traum nie wieder, nur dieses eine Mal.
Es war der Tag, an dem unsere Mutter starb.

Von unserer Mutter gibt es eigentlich wenig zu sagen, außer, daß sie unsere Mutter war. Der frühe Tod unseres Vaters hatte sie zur Witwe gemacht, aber sie tat ihr Bestes, um nicht wie eine zu leben. Andauernd veranstaltete sie Bälle und Feste - das will ich ihr nicht vorwerfen, denn sie hatte sonst nichts im Leben zu tun - und sie ließ keine Gelegenheit aus, um uns vorzuführen.
Die Leute lachten, wenn sie uns sahen, und fragten: »Aber wie schafft Ihr es nur, sie auseinanderzuhalten?«
Dann war die Reihe zu lachen an unserer Mutter. »Oh, das ist nicht weiter schwer«, pflegte sie zu antworten. »Byron ist der Hübsche von den beiden, und Jarvis ist der Kluge.«
»Das ist ungerecht!« rief Jarvis dann. »Das darfst du nicht sagen!«
Und unsere Mutter strahlte ihre Gäste an und sagte: »Zwillinge!«
Das ist ungerecht, sagte Jarvis jedesmal. Aber nie sagte er Das ist unwahr.
Ich glaube, ich könnte noch einiges mehr über unsere Mutter sagen. Aber dann müßte ich auch zugeben, daß ich sie nicht ausstehen konnte, und das will ich nicht.
Sie starb, als wir zwölf waren. Das Fieber wütete besonders heftig in diesem Jahr, und wir waren nicht die einzigen, die es zu Waisen machte, und auch nicht die Jüngsten, aber das war kein allzu großer Trost.
Schon Tage vorher wußte sie, daß sie sterben würde, und wir wußten es auch. Es war anders, als unser Vater starb - damals waren wir noch klein, und es ging schneller. Sein Pferd stürzte bei einem Turnier, und er mit ihm. Jarvis und ich glaubten noch, das Pferd wurde getötet, um es für den Tod unseres Vaters zu bestrafen - wir wußten, was Gerechtigkeit war, aber wir verstanden sie nicht.
Wir verstanden sie noch immer nicht, als wir unsere Mutter verloren. Wir verstanden nicht, warum man uns nicht zu ihr ließ - Jarvis meinte, wir sollten uns nicht anstecken, und ich meinte, wir sollten keine Angst um sie haben - aber warum rief man uns dann ausgerechnet an ihr Bett, als sie dann starb?
Wir sträubten uns beide, aber unser Onkel Sybald schob uns förmlich in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter uns.
»Byron…«, sagte unsere Mutter schwach. »Jarvis… Es tut so gut, euch noch einmal zu sehen.« Warum nannte sie mich zuerst, wo es doch Jarvis war, den sie lieber mochte? Ich werde es nie mehr erfahren. Immer nannte sie mich als erstes.
Jarvis lachte leise, nicht, weil ihm danach war, sondern weil wir wußten, daß sie so etwas von ihm hören wollte. »Werd gesund, und du kannst uns noch sehen, so oft du nur willst.«
Tatsächlich lächelte sie matt. Niemand von uns glaubte es.
»Ihr müßt mir eines versprechen«, sagte sie leise und ging nicht mehr auf Jarvis’ Worte ein. »Wenn ich tot bin… laßt niemals zu, daß sie euch trennen… niemals…«
Ich schluckte. Wir kannten unsere Mutter als eine fröhliche Frau, die munter plapperte und eine ganze Unterhaltung im Alleingang bestreiten konnte - und nun schien ihr selbst für diese Worte die rechte Kraft zu fehlen. Außerdem erinnerte es mich an meinen Traum.
»Wie meinst du das?« fragte Jarvis. »Wer will uns trennen?«
»Sie… ihr dürft es nicht zulassen… wenn sie euch trennen, dann bricht das Unheil herein… über das Haus Fadar.«
Ich kniete mich an ihrer Seite nieder und nahm ihre Hand. »Wir versprechen es, Mutter. Niemand hat uns jemals trennen können, und niemand wird es jemals tun.«
»Gegen unseren Willen«, sagte Jarvis, der an mich herangetreten war, »wird uns niemals ein Mensch trennen.« Er konnte nicht andere ihre Hand nehmen, denn die hielt sie unter der Bettdecke, aber er überkreuzte die Daumen vor seiner Brust. »Das schwöre ich«, sagte er. »Bei meinem Leben.«
Wir hatten noch nie einen Eid geleistet - wir waren noch Pagen, und niemand verlangte etwas derart Hohes von uns - aber ich begriff, daß Jarvis Recht hatte, daß der Moment dafür gekommen war. Ich ließ die Hand los - und war froh darum, denn selten hatte ich eine unangenehmere Berührung erlebt - und tat es Jarvis nach. »Ich schwöre«, sagte ich, und dann sprachen wir gemeinsam: »Bei dem Blut und dem Kranich und dem Löwen, wenn ich mein Wort breche, so will ich gebrochen sein.«
Es war der einzige Schwur, den wir kannten, aber wir wußten, daß wir ihn richte gesprochen hatten, als wir das erleichterte Lächeln unserer Mutter sahen. Sie wußte, daß wir diesen Eid nicht brechen würden - nicht einen Eid, den wir auf das Wappen unseres Hauses geleistet hatten.
»Danke«, sagte sie nur. »Wißt ihr -« Sie brach ab.
Jarvis ergriff meine Hand. Er hatte Angst, wie ich, aber wir sagten nichts. Wir warteten nur, sahen uns an und versuchten, uns gegenseitig zu trösten, einfach nur, indem wir da waren. Bis ich dann irgendwann wagte zu flüstern: »Wir müssen Sybald Bescheid sagen.«
Jarvis blickte mich stumm an. Etwas seltsames lag in seinen Augen, und einen Moment lang war er mir fremd. Dann zog er langsam seinen Dolch und hielt ihn mir hin, den Griff zuvorderst.
»Aber -«, sagte ich und fing noch einmal von vorne an, damit es nicht so klang, als stritte ich am Totenbett unserer Mutter mit meinem Bruder, »ich dachte - erst bei der Trauerfeier.«
»Ich möchte, daß wir es jetzt tun«, erwiderte Jarvis leise. »Bitte - ich erkläre dir später, warum.« Seine Stimme zitterte. Ich wußte nicht, wie ich ihn trösten sollte. Aber ich nahm den Dolch.
Ich schob meinen linken Ärmel ein Stück weit hoch und zögerte doch - sich zu verletzen war eine Sache, aber es mit Absicht zu tun eine andere, und ich wurde die Erinnerung an diesen Traum nicht mehr los…
Dann setzte ich den Doch an, einen Fingerbreit neben der ersten Narbe, und zog ihn dann mit einem glatten, schnellen Schnitt über die Haut. Der Dolch war noch neu, seine Klinge scharf. Es tat nur einen Moment lang weh. Ich hielt den Arm ruhig, hoffte, daß das Blut nicht auf den Boden tropfen würde, und reichte den Dolch dann an Jarvis zurück. Das Blut sammelte sich auf meiner Haut, quoll aus dem Schnitt und lief über meinen Unterarm - ich hielt meine Hand darunter, um es aufzufangen und hoffte, daß Jarvis nicht zögern würde.
Doch Jarvis war schon immer der Entschlossenere von uns beiden. Mit einer raschen, beinahe achtlosen Bewegung - seine Augen ruhten auf meinem Arm, nicht auf seinem - brachte er sich den Schnitt bei, wischte dann den Dolch an seinem Knie ab und schob ihn in die Scheide zurück. Er lächelte dabei, ein seltsames trauriges Lächeln.
Seite an Seite traten wir an unsere tote Mutter heran, und Jarvis schlug die Bettdecke zurück. Unsere Mutter trug ein langes weißes Hemd, ganz schlicht, ohne Spitze oder Stickerei - es paßte so wenig zu dem, was sie sonst trug, daß ich mich einen Moment lang fragte, ob diese Frau wirklich unsere Mutter war. Oder wirklich tot. Ich fühlte, wie das Blut an meinem Arm zu gerinnen begann, und ballte eine Faust, ließ los und spannte an, bis das Blut wieder floß.
Mein Blut war dick und langsam und erschien mir dunkler als Jarvis’, als wir es wortlos auf unsere tote Mutter tropfen ließen. Rote Flecken fraßen sich durch den weißen Stoff, rote Streifen zogen sich über ihre Haut, dort wo die Tropfen sie berührten. Es gefiel mir nicht. Aber es war nicht so schlimm wie beim ersten Mal, als unser Vater starb.
Ich konnte nicht die kleine Narbe sehen, ohne mich zu erinnern - nur ein kurzer Schnitt, denn wir waren erst vier Jahre alt und unsere Arme noch dünn - aber obwohl wir so klein waren, mußten wir uns schon an dem Ritual beteiligen. Sybald wollte das Messer für uns führen, doch unsere Mutter nahm es ihr aus der Hand - Sybald war ihr Bruder, und wenn er auch als Verwalter eingesetzt wurde, bis wir das rechte Alter erreichten, war er doch kein Fadar, und kein Angehöriger unseres toten Vaters.
Niemand erklärte uns, warum wir verletzt wurden - außer, weil Vater tot war - aber ich werde nicht vergessen, wie sie meine rechte Hand nahm und mich schnitt. Dann reichte sie mich an Sybald weiter, der mich hochhob - und erst jetzt konnte ich unseren aufgebahrten Vater wirklich sehen. Sybald drückte meinen Arm, damit das Blut besser floß.
Jarvis sah zu. Später erzählte er mir immer wieder, daß ich gebrüllt hätte wie am Spieß, während er ruhig blieb. Aber so war das nun mal mit Jarvis - er brachte keinen Ton hervor, wenn er Angst hatte. Er mochte vielleicht der Klügere von uns sein - aber ich denke, daß ich mutiger war als er. Zumindest dachte ich so bis zu dem Tag, da unsere Mutter starb und wir das Ritual ganz allein durchführten.
Ich weiß nicht, wie lange wir so standen, aber es war ganz sicher lang genug, denn so viel bedeutete Mutter mir nicht - für Jarvis hätte ich geblutet, bis es schwarz um mich wurde, für unsere Mutter nicht: Es mußte Abstufungen geben. Darum war ich es, der endlich sagte: »Laß gut sein, Jarv. Wir können nicht mehr für sie tun.«
Jarvis nickte. »Ich weiß… aber ich kann es nicht aufhören lassen.«
Das Blut lief immer noch aus seiner Wunde, und plötzlich schien seine Blässe einen anderen Grund zu haben.
»Halt den Arm hoch«, sagte ich. »Dann kann das Blut nicht mehr hinausfließen.« Solche Dinge merkte ich mir - ich wollte kein Heiler werden, sondern ein Ritter, aber ich verstand, daß man auch dann etwas über Wunden wissen sollte.
Jarvis lachte, verlegen, weil, er nicht selbst drauf gekommen war - aber er reckte gehorsam seinen Arm in die Luft. Das Blut lief immer noch, aber langsamer, während ich nach einem sauberen Taschentuch suchte - nicht in meinen Taschen, denn ich wußte, daß ich keines hatte - aber in den Sachen unserer Mutter. Meine eigene Wunde war längst versiegt, als hätte mein Körper kein Interesse daran, auch nur einen Tropfen mehr für Mutter zu verschwenden. Aber es gefiel mir nicht, daß Jarvis noch blutete und ich nicht mehr. So hielt ich den Arm nach unten und bewegte die Faust, bis ich wieder dieses leise Ziehen und Pochen verspürte.
»Schau«, sagte ich und hielt Jarvis mein Handgelenk hin. »Halt deine Wunde dagegen - dann ist es besiegelt, daß niemand uns trennen kann.«
»Du meinst - ein Blutband?« flüsterte Jarvis.
Ich nickte wortlos.
»Nein«, sagte Jarvis ruhig. »Erstens. Man führt nicht zwei Rituale an einem Tag durch, und erst recht nicht mit derselben Wunde. Zweitens. Es ist nicht nötig. Wir sind Brüder. Zwillinge. Wir können durch ein Blutsband nicht gewinnen. Wir haben schon alles.«
Er lächelte. Ich lächelte zurück, und dann knotete ich ihm das Tuch, das ich aus Mutters Truhe genommen hatte, ums Handgelenk. Aber noch während ich überlegte, was ich erwidern sollte, ging die Tür auf, und Sybald kam herein.
Er sagte nichts, aber er sah. Ich konnte es in seinem Gesicht erkennen - es sah unsere Mutter - seine Schwester - und das Blut auf ihrem Nachthemd und der Bettdecke, und Jarvis und mich, und das Blut an ihren Armen. Er kniff die Lippen zusammen.
»Es… es tut mir leid«, murmelte ich.
Sybald sagte ich immer noch nichts. Er schob uns nur aus dem Zimmer, würdigte uns keines Blickes mehr, und schloß die Tür.
Jetzt erst fiel mir auf, daß Jarvis zitterte. »Deine Wunde«, fragte ich. »Ist es noch schlimm?«
Jarvis schüttelte den Kopf. Es gefiel mir nicht. Wenn er so ruhig war, bekam auch ich Angst.
»Was ist?« rief ich. »Sag was!«
»Es ist alles in Ordnung«, murmelte Jarvis. »Nicht hier im Gang, Byron. Ich muß mit dir reden. Aber nicht hier. Komm mit!«

Die Frauen hatten uns Essen auf unser Zimmer gebracht - warmen Brotkuchen und kalten Tee. Seit das Fieber umging, mußten wir meistens auf unserem Zimmer essen, doch diesmal war ich froh darum. Der Kuchen war besonders frisch, besonders süß - sie wußten, daß unsere Mutter gestorben war, und sie wollten uns eine Freude machen. Aber uns fehlte der rechte Appetit.
»Sie hat es nicht gesagt«, murmelte Jarvis.
Ich nickte. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie Sybald meint.«
Jarvis fuhr herum. »Was redest du da?«
»Was Mutter gemeint haben kann - wer uns trennen will.«
»Dummkopf!« zischte Jarvis. »Warum bist du immer so ein Dummkopf? Du mußt es doch…« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Byron, aber… jetzt kommt soviel Ärger auf uns zu. Sie werden uns keine Ruhe lassen.«
Ich begann mir Sorgen um ihn zu machen, größere als jemals um unsere Mutter. Das war nicht der Jarvis, den ich kannte, der Jarvis, der die Dinge leicht nahm und der sich niemals lange mit schlechter Laune aufhielt.
»Jarvis«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Sag mir einfach, was los ist. Und wenn du dann meinst, ich habe dich nicht verstanden, versuch es einfach noch mal. Aber was ist los mit dir?«
Jarvis schüttelte den Kopf und zerrte an dem Tuch um seinen Unterarm. »Sie hat es nicht gesagt«, wiederholte er, doch diesmal redete er weiter: »wer von uns der Erstgeborene ist. Sie hat es uns nicht gesagt, und wenn nicht uns, dann auch keinem anderen. Aber wenn wir sechzehn sind, muß einer von uns die Kolonie übernehmen, nur einer von uns, nicht wir beide, verstehst du?«
»Ich bin kein Dummkopf, Jarv«, erwiderte ich leise.
»Ja, ich weiß. Sybald weiß es wahrscheinlich auch. Aber der Rest? Wer einen klugen Mann auf dem Thron haben will, ist auf meiner Seite. Wer einen tapferen Ritter sehen will, kämpft für dich. Sie werden uns auseinanderreißen und zu Gegnern machen, ob wir wollen oder nicht.«
»Und das war es, was Mutter gemeint hat?« fragte ich.
Jarvis legte seine Hände auf meine. »Ja. Sie wußte es, und trotzdem mochte sie sich nicht für einen von uns entscheiden… du bist mehr Sybalds Kind als ihres, und doch war sie immer die Mutter von uns beiden.«
Ich nahm seine Hände. »Aber sie können uns nicht trennen«, sagte ich. »Wir haben es geschworen.«
»Byron«, sagte Jarvis. »Hör mir jetzt zu, und was immer du sagen willst, unterbrich mich nicht. Wenn sie uns erst einmal trennen wollen, können wir nichts mehr dagegen tun. Die Kolonie ist als Gegner zu mächtig… Wir können das nur auf eine Weise verhindern, nämlich indem wir uns freiwillig trennen, jetzt sofort. Ich werde fortgehen, Byron, und du bleibst hier und übernimmst die Kolonie. Das ist das Beste so. Sybald will, daß du es wirst. Und ich will es auch.« Er sprach schnell, als wolle er verhindern, daß ich auch nur Atem holte. Ich mußte schreien, um zu Wort zu kommen.
»Das kannst du nicht, Jarvis! Du kannst nicht einfach weggehen!«
Mit zwei fingern löste er das Taschentuch von seinem Arm. Ich hatte einen Knoten gemacht, so fest ich nur konnte, und Jarvis war schwächer als ich, aber seine Finger waren schnell, und geschickt. Der Schnitt an seinem Handgelenk war noch gut zu sehen - glatt und sauber klaffte die Haut auseinander - doch er blutete nicht mehr. Jarvis breitete das Tuch auf seinem Schoß aus und strich es glatt. Plötzlich tat es mir um das Taschentuch leid - Mutter hatte es bestickt, mit dem Wappen unseres Hauses, und nun war das Leinen blutbesudelt. Blut auf unserem Wappen… Ich schluckte. Das war ein böses Zeichen.
Jarvis lachte, als er mein bestürztes Gesicht sah. »Schau, es ist nur ein Taschentuch. Ich könnte mir damit die Nase schneuzen - das Haus Fadar geht davon nicht unter! Aber schau es dir doch an!«
Ich merkte, daß er mich wieder ablenken wollte, doch ich folgte seinem Finger, obwohl ich mit unserem Wappen ebenso vertraut war wie er. Auf dem Schild ein Schiff in vollen Segeln, schwarz auf blauem und weißen Grund - blau wie das Meer, über das unsere Vorfahren gekommen waren, und weiß wie der Himmel. Links und rechts davon unsere Wappentiere - der Löwe und der Kranich. Jarvis fuhr ihre Umrisse nach.
»Das bist du«, sagte er und strich über den Löwen. »Und das bin ich.« Ausgerechnet der Kranich war bis zur Brust blutbefleckt. »Der Kranich ist ein Zugvogel, Byron. Er bleibt nicht lange an einem Ort. Aber er gehört zu unserem Haus, ebenso wie der Löwe. Und egal, wo ich auch sein mag, ich werde immer dein Bruder sein. Und ein Fadar.«
Ich nahm das Tuch, als Jarvis es zusammenfaltete und mir reichte. »Und was - was wirst du tun?«
Jarvis lächelte. »Verrat es keinem Menschen - du bist der einzige, der es jemals wissen darf. Ich werde ein Dieb.«
»Was?« Entsetzt ließ ich das Tuch fallen.
»Ein Meisterdieb. Der Beste der Welt. Du bist zum Kämpfen gemacht, ich nicht. Meine Finger sind nicht geschaffen, um ein Schwert zu halten.«
»Aber wenn du stiehlst«, stammelte ich, »bringst du Schande über unser Haus! Du darfst kein Dieb werden!«
»Niemand wird es jemals wissen - niemand, der Haus Fadar kennt, wird wissen, daß ich ein Dieb bin. Und niemand, der mich kennt, soll wissen, daß ich ein Fadar bin. Nur du und ich, Byron… Und glaub mir, wenn ich bleibe und ein miserabler Ritter werde, bringe ich mehr Schande über das Haus, als du dir jemals vorstellen kannst.«
»Dann gehe ich mit dir!« sagte ich schnell.
Wieder schüttelte Jarvis den Kopf. »Nein - du taugst nicht zum Dieb. Und einer von uns muß doch hierbleiben und das Erbe antreten. Du wirst ein großer Ritter, Byron!«
Ich wußte, daß ich ihn nicht halten konnte, aber ich erzählte ihm auch nichts von dem Traum, von dem Schnee. Ich wollte ihn nicht auf dumme Gedanken bringen. In unserem Land fiel kein Schnee: Wir kannten ihn nur aus Berichten über die Alte Heimat. Ich wollte nicht, daß Jarvis über das Meer fuhr. Einen Moment lang fürchtete ich, daß Jarvis den gleichen Traum gehabt haben könne. Doch auch davon sagte ich nichts. Statt dessen fragte ich nur: »Wann wirst du gehen?«
Ich kannte die Antwort, noch bevor Jarvis den Mund öffnete: »Jetzt gleich.«
Ich bemühte mich um ein Lächeln. »Leb wohl, Jarvis. Vergiß mich nicht.«
Er lächelte zurück. »Wie sollte ich das jemals? Du bist mein Bruder.«
Wir umarmten uns noch einmal, und dann war er fort.
Sie fragten mich, wo er war. Ich hätte eher gelogen, als mein Versprechen zu brechen, aber da ich die Antwort auf diese Frage selbst nicht kannte, konnte ich reinen Gewissens sagen: »Ich weiß es nicht.« Sie glaubten mir.
Niemand konnte sich vorstellen, daß ich mich freiwillig von Jarvis getrennt hatte. Und das hatte ich auch nicht.
Wenn sie euch gegen euren Willen trennen, bricht das Unheil herein über Haus Fadar… Vielleicht war diese Trennung nicht gegen Jarvis’ Willen. Doch ich hatte ihm nicht erklären können, daß sie gegen meinen war. Also blieb ich, und ich wurde ein Ritter.
Und ich wartete auf das Unheil.

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