Viertes Kapitel
Die Stunde der Prüfung

Die Tage vor meinem sechzehnten Geburtstag verbrachte ich fast ununterbrochen auf dem Ãœbungsplatz, und die Nächte auch, bis es Vaenris zuviel wurde. Er schmiß sein Schwert zu Boden, seinen Schild hinterher, und stapfte davon, so daß ich wohl oder übel hinterher mußte, um mit ihm zu sprechen. Ihm hinterherzurufen, ihn warten zu heißen - das brachte nichts, dafür kannte ich ihn zu gut. Aber ich nahm mein Schwert mit. Ein Ritter legte sein Schwert niemals ab, außer zum Schlafen, und ich war näher daran, ein Ritter zu werden, als jemals zuvor. An meinem sechzehnten Geburtstag -
Aber ich fühlte mich noch nicht wie ein Ritter, ich war zu jung, zu unsicher. Daß dies alles an einem Tag plötzlich anders sein sollte, konnte ich mir kaum vorstellen.
Nur die Söhne des Herzogs wurden mit sechzehn zum Ritter geschlagen. Alle anderen mußten warten, bis sie einundzwanzig waren, um sich der Prüfung zu stellen. Die Prüfung. Sie hing wie ein dräuender Schatten über mir. Ich wünschte mir plötzlich, auch noch fünf Jahre warten zu können, dabei hatte ich früher immer dem großen Tag entgegengefiebert und die Jahre rückwärts gezählt.
»Was sorgst du dich?« fragte Vaenris. »Du wirst die Prüfung bestehen, egal, wie du dich anstellst.« Vaenris hatte gut reden - er mußte die Prüfung ja nicht machen! Nicht jetzt, und nicht in drei Jahren - auf Vaenris mochte im Leben noch vieles warten, aber ein Ritterschlag war nicht darunter. Und darüber schien er froh.
Der Ort, an der er mich führte, war sein Kellerversteck - ein alter Lagerraum, in dem sich leere Fässer stapelten, mit denen niemand mehr etwas anzufangen mußte. Vaenris hatte dort umgeräumt, sich einen gemütlichen Winkel eingerichtet, an den er sich zurückziehen konnte, wenn er nicht in seinem Zimmer gefunden werden wollte. Hier bewahrte er auch jene Dinge auf, von denen ich nicht wissen wollte, wo er sie herhatte - Dinge, die, wie Vaenris mir erklärte, im Hafen verloren gingen, von Schiffen fielen, und dergleichen. Ich fragte nicht nach, und ich erzählte auch Sybald nichts davon, aber manchmal glaubte ich fast, daß mein Vetter ein Schmuggler war. Der Gedanke gefiel mir nicht, aber mein Bruder war ein Dieb, und hatte nicht selbst Sybald seine Geheimnisse?
»So«, sagte Vaenris. »Ich habe beschlossen, daß du ein Bier willst.«
Ich wollte natürlich kein Bier, aber ich protestierte nicht, als Vaenris zwei Krüge hervorzog und eine Kiste, aus der er einen sorgfältig verkorkten Lederschlauch nahm. »Kein Angst«, sagte Vaenris. »Der ist nicht vom Schiff gefallen. Hab ich gekauft.« Er füllte einen Krug und drückte ihn mir in die Hand. »Runter damit! Das kann man ja nicht mehr ertragen.«
Ich nickte. Das Bier war angenehm und erfrischend, kühl wie der Keller, wenn auch vielleicht schon etwas abgestanden.
»Und?« fragte Vaenris, nachdem ich pflichtschuldig aufgetrunken hatte »Wovor hast du solchen Schiß? Mach dir vielleicht Sorgen wegen des Rituals, aber das Turnier gewinnst du, so oder so. Wer ist dein Gegner?«
»Baron Marlon«, antwortete ich. »Marlon Tarell.« Vaenris pfiff durch die Zähne. Wir hatten beide beim letzten Turnier mit anerkennender Bewunderung gesehen, wie Marlon jeden Gegner mit Leichtigkeit besiegte. Zwar zu Pferd, aber im Schwertkampf, Mann gegen Mann, war er kaum schlechter.
»Wo ist dein Problem?« fragte Vaenris und schenkte uns beiden nach. »Haus Tarell ist euch treu ergeben. Der Mann ist loyal.«
»Ich muß gewinnen«, entgegnete ich.
»Du wirst gewinnen«, sagte Vaenris. »Hat noch nie ein Herzog verloren.«
»Ich muß richtig gewinnen«, sagte ich. Wer das Turnier verlor, durfte nicht das Ritual, den zweiten Teil der Prüfung, ablegen. Er ging in Schande heim, aber im nächsten Jahr durfte er wiederkommen und es noch einmal versuchen, auf eigene Gefahr, wieder verlacht zu werden. Doch wer das Turnier gewann, weil sein Gegner ihn gewinnen ließ, für den gab es keinen zweiten Versuch. Er würde für alle Zeit als Schwächling dastehen.
Wieder pfiff Vaenris. »Manchmal bist du schlauer, als man denkt. Wie auch immer. Wenn du mich fragst, mußt du dir da keinen Kopf machen. Du bist ein verdammt starker Kämpfer, was das angeht. Aber ich habe dich ja auch gut unterrichtet.«
Wir lachten beide, Vaenris war wie ich Sybalds Schüler, aber wir hatten doch sicher beide voneinander gelernt. Und darum ging es ja auch - ich wollte Sybald stolz machen, ein Versagen von mir wäre hart, allzu hart auf ihn zurückgekommen.
Vaenris lehnte sich zurück auf seiner Bastmatte und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Das Ritual«, sagte er. »Davor solltest du Angst haben.«
Das Ritual. Der Löwenkelch. Der geheimnisvolle zweite Teil der Prüfung. Das Turnier fand immer zur Mittagsstunde statt, das Ritual um Mitternacht. Ich war noch niemals dabeigewesen, weil Sybald es mir nicht erlaubte, aber Vaenris, der die Prüfung nie ablegen durfte, konnte schon dabei zusehen, vielleicht als Trost. Der Prüfling mußte vor ein Tribunal von Rittern treten und all ihre Fragen beantworten, ohne zu zögern oder zu lügen. Und um zu zeigen, daß er wirklich nicht log, gab es den Löwenkelch.
Den Kelch hatte ich schon gesehen, schon oft, er war nichts Geheimes - ein stolzes Zeichen unseres Hauses. Ein großer, schwerer Bronzekelch, am Fuß eingefaßt mit vier Löwen, denen er seinen Namen verdankte. Man konnte ihn nur mit beiden Händen halten, aber er war auch nicht gedacht, um daraus zu trinken, bis auf ein Mal im Leben: Bei der Ritterprüfung. Dann wurde er gefüllt mit einem Trank der Wahrheit, einem geheimnisvollen Gebräu, über dessen Herkunft ich nichts wußte - es klang nach Hexerei, nach dem Aberglauben der Einheimischen, und es war mir unheimlich.
»Vor dem Ritual habe ich keine Angst«, sagte ich. Sybald hatte mir versichert, daß ich vor dem Ritual keine Angst haben mußte. »Wer nicht lügt, muß die Wahrheit nicht fürchten«, waren seine Worte.
Vaenris lachte mich aus, als ich ihm das erzählte. »Und das glaubst du wirklich?« rief er. »Das sieht dir ähnlich. Aber denk doch mal nach.« Bevor ich protestieren konnte, goß er mir mehr Bier in den Krug. »Wahrhaftigkeit«, sagte er dann. »Das ist doch eine Rittertugend, nicht wahr? Soviel habe selbst ich mir gemerkt.«
Ich nickte, und nippte an meinem Bier.
»Also«, redete Vaenris weiter, »wer ein Ritter werden will, muß sowieso immer die Wahrheit sagen. Ich verstehe, daß sie das auf die Probe stellen wollen bei der Prüfung. Aber warum nehmen sie dann ein Gebräu, mit dem niemand mehr lügen kann? Hast du darüber schon einmal nachgedacht?«
Nein, das hatte ich nicht. Aber ich mußte zugeben, daß Vaenris, wie immer, Recht zu haben schien. So schüttelte ich nur zu Kopf, und wartete auf eine Antwort.
Vaenris grinste und deutete auf den Krug, und sprach nicht eher weiter, als bis ich getrunken hatte. Dann nickte er zufrieden. »Das ist so«, sagte er. »Erst mal gehen sie davon aus, daß du sowieso immer die Wahrheit sagst. Wenn sie dir den Löwenkelch reichen, dann stellen sie Fragen, bei denen würdest sogar du lügen.«
»Ich lüge nicht«, erwiderte ich fest.
Vaenris lachte nur. »Hab dich noch nie lügen hören. Aber es gibt Fragen, die beantwortest du einfach nicht. Und das mußt du dann.«
»Ich habe keine Angst«, sagte ich und merkte, daß das schon beinahe eine Lüge war. Ich errötete.
»Und wenn sie dich nach deinem Bruder fragen?« Vaenris Stimme war leise, und plötzlich bedrohlich. »Wenn sie dich fragen, wo er ist?«
»Dann sage ich, ich weiß es nicht.« Das stimmte. Keine Lüge.
»Und wenn sie fragen, warum er gegangen ist?«
Ich sagte nichts. Das konnte ich nicht beantworten.
»Du mußt antworten«, sagte Vaenris. »Denk an den Löwenkelch.«
»Ich verrate meinen Bruder nicht«, sagte ich. »Ich habe einen Eid geleistet. Der Eid eines Ritters ist heilig. Kein Ritual kann mich zwingen, einen Eid zu brechen.«
Vaenris nahm mir den Krug aus der Hand, und ich fürchtete schon, er würde ihn wieder auffüllen, doch das tat er nicht, zum Glück. »Du solltest weniger trinken«, sagte er grinsend. »Das macht dich so hochtrabend. Eid eines Ritters! Du warst zwölf. Ein Ritter!«
Jetzt wurde ich doch wütend. Was spielte Vaenris da mit mir? Wollte er sich nur lustig über mich machen? Doch ich blieb ruhig. Ein Ritter mußte lernen, seinen Zorn zu zügeln. Sonst richtete sich nur allzu schnell sein Schwert gegen ihm selbst. Vielleicht ging es Vaenris darum? Ich blickte ihm fest ins Gesicht. »Dann«, sagte ich, »werde ich den Eid eben jetzt noch einmal ablegen. Ich bin zwar immer noch kein Ritter, aber so nah dran, wie ich nur irgendwie sein kann. Und du bist mein Zeuge.«
Vaenris zuckte die Schultern. »Mach! Davon kann ich dich ja kaum abhalten.«
»Ich schwöre«, sagte ich, »bei meiner Ehre und bei der Ehre meines Hauses, ich schwöre vor Gott und vor dem König, niemals und niemandem zu verraten, was zu behalten ich geschworen habe. Und wenn es mein Ende ist, soll es mein Ende sein, aber das Geheimnis meines Bruders ist mein Geheimnis und soll mit mir untergehen.«
»Puh«, sagt Vaenris. »Das nenne ich einen langen Eid. Wollen wir hoffen, dein Gott hat dich gehört und nimmt dich beim Wort, wenn es drauf ankommt. Jetzt mußt du das nur noch dem Löwenkelch erklären.«
Ich nickte zuversichtlich, aber insgeheim war ich noch immer voller Angst. Ich wollte und würde Jarvis nicht verraten - aber nun konnte es bedeuten, daß mich das Tribunal ablehnen würde. Daß ich kein Ritter mehr werden konnte, nur ein ewiger Knappe, wie Vaenris. Und dann blieb Sybald Herzog für alle Zeiten… Ich schluckte. »Das ist es mir wert«, sagte ich leise. »Wenn Jarvis mir das nicht wert wäre - was für ein Bruder wär ich dann?«
Vaenris blickte mich einen Moment an, sehr ernst, dann umarmte er mich. »Das wollte ich von dir hören.« Seine Stimme war so ernst, wie man sie nur selten zu hören bekam. »Dann hab ich jetzt etwas für dich. Nur geliehen, aber glaub mir, das geb ich bestimmt nicht irgendwem.«
Er griff unter seine Tunika und zog eine Art Anhänger hervor, den er an einer Lederkordel um den Hals trug. Hatte er den schon länger? Ich wußte es nicht. Vaenris war normalerweise niemand, der Schmuck trug. Aber das sah auch nicht wirklich aus wie Schmuck. Mir war etwas unheimlich, als Vaenris es mir um den Hals hängte, und ich getraute mich nicht, es anzufassen.
»Was ist das?« fragte ich.
Vaenris lächelte. »Ich weiß es nicht genau«, sagte er. »Aber Savenn hat es mir geschenkt, dann wird es wohl etwas Gutes sein.«
»Also eine Art Glücksbringer?« fragte ich vorsichtig.
Vaenris schüttelte den Kopf. »Das auch, aber mehr als das - es ist magisch. Wenn du das trägst, kann niemand deinen Willen brechen.«
Ich wagte es immer noch nicht, den Anhänger anzufassen. Jetzt fürchtete ich mich erst recht davor. Ein Hexenanamulett! ‘Wenn Sybald das zu sehen bekommt’, schoß es mir durch den Kopf. Und ‘Jetzt weiß ich endlich, warum Vaenris immer so stur ist’. Ich konnte nichts sagen. Ich war völlig verwirrt.
»Du mußt es direkt auf der Haut tragen«, redet Vaenris weiter und stopfte es mir in den Kragen. »Ãœber dem Herzen. Sonst wirkt es nicht.« Er nickte zufrieden. »Spürst du etwas?«
Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht wirkte es bei mir nicht?
»Dann ist es gut. Ich hatte Schiß, daß es vielleicht brennt oder kribbelt. Weil es dann nicht von dir getragen werden will. Aber so klappt das. Und du gibst es mir morgen Nacht zurück, nach dem Ritual. Angst mußt du jetzt keine mehr haben.«
Ich fühlt den Anhänger warm auf der Haut. Aber nicht unangenehm. Er war weich, aus einer Art Leder - ich sollte ihn mir bei Gelegenheit in Ruhe ansehen, aber nicht jetzt. Erst wollte ich Vaenris danken. Aber dann siegte doch mein Mißtrauen.
»Soll das heißen, die… Magie in dem Ding ist mächtig?« fragte ich.
Vaenris nickte. »So mächtig wie der Löwenkelch, und mächtiger.«
Ich nestelte an dem Lederband, das sich plötzlich in meinen Hals einschnitt. »Ich danke dir, Vaenris - aber ich kann das nicht tragen.«
»Warum nicht? Du willst doch -«
»Ich will nicht schummeln«, sagte ich fest.
»Das ist kein Schummeln!« Hoffentlich wurde Vaenris nicht böse, weil ich seine Gabe ablehnte! »Denk nach! Was verlangen die Regeln? Daß du den Löwenkelch leerst und dann die Fragen des Tribunals beantwortest. Nirgendwo steht geschrieben, daß der Trank auch wirken muß!«
»Aber -«, sagte ich.
»Du schummelst nicht. Weil du doch sowieso immer die Wahrheit sagst! Ist es dann nicht eine viel größere und schwerere Aufgabe - alle Fragen nach deinem Gewissen zu beantworten, und nicht, weil so ein blöder Trank sie dir eingibt?«
Langsam, sehr langsam nickte ich. Ich wußte nicht, ob Vaenris wirklich Recht hatte, aber ich wollte ihm glauben, weil ich selbst keine bessere Lösung hatte. Etwas lahm sagte ich: »Weißt du - selbst ohne das Ding bist du ganz schön stur.«
Vaenris lachte. »Vielleicht wirkt es nach?« Dann nahm er mich beim Arm und zog mich zur Treppe. »Wie auch immer. Lust auf noch einen Kampf?«
Ich folgte ihm, und mit jedem Schritt schwand meine Angst vor dem morgigen Tag, begriff ich, daß es nichts mehr gab, daß ich fürchten mußte. Außer vielleicht, den Kampf gegen Baron Marlon zu verlieren.

Und dann war es der nächste Tag, und ich war sechzehn Jahre alt. Ich erwachte bei Sonnenaufgang und trat an das Fenster, strahlend wach, ohne einen Hauch von Müdigkeit. Der Tag, der vor mir lag, war lang wie kein zweiter in meinem Leben, aber ich war bereit. Draußen lag die Welt, und sie war so schön in ihrer Kargheit, und ich begriff, daß ich an keinem anderen Ort sein wollte. Wie auch immer es in der Alten Heimat sein mochte, wo viel Regen fiel und Schnee und wo die großen Bäume wuchsen - meine Heimat war hier. Mein Land. Und an diesem Tag sollte es wirklich mein Land werden.
Ich lächelte. Im Kopf wünschte ich Jarvis einen guten Morgen, wie ich es an jedem Tag tat, und dann gratulierte ich ihm zum Geburtstag. Wo auch immer er jetzt war - ich hoffte, daß es ihm gut ging, und daß er vielleicht gerade auch an mich dachte.
Dann nahm ich, etwas zögerlich, Vaenris’ Anhänger und sah ihn mir an. Ich hatte gut geschlafen in der Nacht, ruhig und furchtlos - ich hatte von Savenn geträumt. Vielleicht kam auch das von dem Anhänger? Es war ein komisches Ding, geflochten aus Leder und etwas, das ich für Haare hielt, und nicht wirklich schön anzusehen, aber man trug ihn ja auch unter der Kleidung. Vielleicht waren das Savenns Haare? Ich hoffte es. Dann schob ich ihn mir wieder in den Ausschnitt und verbarg die Kordel unter meinem Kragen, damit es nicht auffiel. Ich war bereit. Die Prüfungen konnten beginnen.
Bis zum Mittag nutzte ich die Zeit vor allem, um mich aufzuwärmen. Zwar war die Burg angefüllt mit Gästen - es war ein hoher Tag für die Kolonie, sogar ein Abgesandter der Königs war gekommen, doch Sybald ließ keinen von ihnen zu mir, damit ich mich ungestört vorbereiten konnte. Ich war ihm sehr dankbar dafür. Von allen Seiten angestarrt zu werden, mochte ich nicht. Zumindest klopften mir die Männer jetzt auf die Schultern, um mir zu sagen, wie groß ich geworden war, und tätschelten mir nicht mehr den Kopf. Ulkige Idee - einem Ritter den Kopf tätscheln!
Sybald holte mich auf dem Ãœbungsplatz ab. »Bist du bereit? Hast du schon etwas gegessen?«
Ich nickte, und schüttelte den Kopf. Nach Essen war mir wirklich nicht. Aber ich wußte, daß ich schon etwas im Bauch haben sollte, ehe der Kampf losging - hungrig kämpfte es sich ebenso schlecht wie satt. Sybald hatte daran gedacht, und mir etwas Obst und Fleisch mitgebracht. So mußte ich nicht in der Halle essen und mich anstarren und ablenken lassen.
»Du solltest jetzt noch einen Moment verschnaufen«, sagte Sybald. »Marlon möchte gerne noch ein paar Worte mit dir wechseln, ehe ihr die Klingen kreuzt.«
»Gut«, sagte ich. Immerhin konnte ich schlecht zugeben, daß es eine große Ehre für mich war, gegen Marlon zu kämpfen - und eine noch größere, sich mit ihm zu unterhalten.
Ich traf Marlon Tarell im Schatten des Turnierplatzes. Die Tribünen waren bereits gefüllt mit Menschen aller Klassen, die gekommen waren, um das Spektakel zu sehen. Sie lärmten, aber ich saß selbst oft genug auf der Tribüne und kannte den vergnügten Lärm - das gehörte dazu, feuerte die Kämpfer mehr an, als sie abzulenken.
»Byron Fadar«, sagte Baron Marlon. »Von heute an also ein Mann.«
»Marlon Tarell«, erwiderte ich. »Es ehrt mich, meinen ersten Kampf gegen Euch bestreiten zu dürfen.« Wir verneigten uns kurz.
»Euer Onkel hat mich selbst darum gebeten«, sagte Marlon. »Die Ehre liegt bei mir. Was hätte ich das abschlagen sollen?«
Er war ein großer, breitschultriger Mann, wo Sybald eher schmal wirkte. Seine Augen waren blau und von strahlender Härte, und er musterte mich wie einen ernstzunehmenden Gegner. Er lächelte dabei. Ich lächelte zurück und versuchte, meine Nervosität zu unterdrücken. Plötzlich begannen meine Hände zu schwitzen.
»Nur eines wundert mich«, sagte er. »Natürlich ist der Schwertkampf eine harte, gefährliche Disziplin, und es steht Euch gut an, sie zu wählen. Aber die meisten Knappen denken bei einem Ritter doch als erstes an einen Kämpfer zu Pferd, und bei einem Turnier an das Lanzenreiten. Wie kommt es, daß Ihr auf Schwerter am Boden besteht?«
Warum fragte er das nicht später vor dem Tribunal? Diese Frage konnte ich leichten Herzens beantworten! »Ich möchte zeigen, was in mir steckt«, sagte ich. »Niemand soll hinterher sagen, ich habe nur wegen eines guten Pferdes gewonnen. Schwertkampf ist die ehrlichste Disziplin, die ich kenne.«
Baron Marlon legte eine Hand auf meine Schulter und nickte. »Ihr mögt kein Lanzenreiten, weil Euer Vater dabei umgekommen ist, nicht wahr?«
Daran hatte ich nie gedacht, doch nun mußte ich zugeben, daß auch das stimmte. Und ich hoffte, daß Marlon das nicht für Feigheit halten mochte. Doch er lachte mich nicht aus.
»Wenn ich Euch sehe, Byron«, sagte er, »sehe ich Euren Vater, als er jung war.« Alt war mein Vater auch nie geworden… »Ihr seit ihm sehr ähnlich. Und ich verspreche, ich werde Euch einen ehrlichen Kampf bieten. Und solltet Ihr mir unterliegen, bin ich gerne bereit, im nächsten Jahr wieder an dieser Stelle zu stehen.«
»Das glaube ich Euch gerne«, sagte ich, erleichtert, daß er den Kampf so ernst nahm wie ich. »Ich bewundere Eure Schwertkunst. Um so lieber werde ich euch heute besiegen.«
»Wir werden sehen«, sagte Marlon Tarell. »Wir werden sehen.«
Ich nickte ihm noch einmal zu, als Vaenris und Sybald mich davon führten, um mir die Rüstung anzulegen. Und so traten wir uns auf dem Turnierplatz entgegen wie zwei Männer von Ehre, als die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte.
Die Leute sprangen von ihren Sitzen auf und jubelten, als ich die Arena betrat, und im gleichen Augenblick wußte ich, daß ich verlieren würde. Alle Selbstsicherheit war plötzlich wie weggeblasen. Meine Knie zitterten. Mein Schwert war plötzlich wie aus Blei. Der Schweiß lief mir in die Augen. Mein Helm drückte. Meine Rüstung zog mich zu Boden. Vor mir sah ich Baron Marlons Gestalt aufragen, riesengroß, ein Mann ohne Schatten, strahlend im Licht der Mittagssonne, die mich nur blendete. In diesem Moment wollte ich nur noch davonrennen. Wie sehr beneidete ich Jarvis! Es war nicht nur der Kampf, und das Ritual. Es war das, was danach kam. Kein Herumalbern mehr mit Vaenris auf dem Ãœbungsplatz. Keine Unterrichtsstunden mehr bei meinem Onkel.
Wenn ich diesen Tag überstand, würde jeder neue Tag neue Prüfungen mit sich bringen, eine härter als die andere. Ein Herzog lebte nicht von Turnier zu Turnier. Er mußte regieren, gerecht und weise. Gerecht sein konnte ich. Aber weise? Ich und weise? Sicher nicht. Byron der Dummkopf. Wie hatte mein Vater regiert? Das wußte ich nicht, das wußte sicher kaum noch jemand. An Sybald würde man sich erinnern, morgen und übermorgen und die nächsten Jahre über. Und ich konnte es ihm nicht nachtun, und ich durfte ihn dann nicht einmal um Hilfe bitten… Mir war Angst und Bang wie noch nie im Leben. Mitten auf dem Turnierplatz, mitten unter der Sonne, vor all den Zuschauern.
Ich senkte den Blick. Und plötzlich passierte zweierlei. Erst spürte ich eine plötzliche Wärme auf meiner Brust, dort, wo mein Herz aufgeregt hämmerte. Es war der Glücksbringer. Ich begann zu lächeln. Savenn wollte nicht, daß ich wie ein Feigling dastand und ans Wegrennen dachte. Waren nicht die Prüfungen, die Sybald ihr auferlegt hatte, viel härter als meine? Ich sollte mich schämen, dazustehen und zu zittern wie ein kleines Kind! Was auch immer auf mich zukam, ich konnte in meiner Heimat bleiben, in meinem Land, das ich so sehr liebte!
Gleichzeitig fiel mein Blick auf meinen Schild. Das war mein Schild, nicht der alte Ãœbungsschild, den ich sonst immer führte. Ich trug ihn zum ersten Mal. Sybalds Geburtstagsgeschenk für mich. Ein großer Stahlschild, er war schwer, aber ich wollte mit ihm ja auch zuschlagen können wie mit einer zweiten Waffe, ohne daß er zerbrach. Wie es sich für einen Ritter gehörte, war mein Schild verziert mit meinem Wappentier. Ein steigender Löwe auf weißem Grund. Mein Löwe. Stolz meines Hauses. Der Löwe war ich.
Plötzlich war die Angst wie fortgeblasen. Und während die Menge jubelte, trat ich Marlon Tarell entgegen als ein Mann.

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