Drittes Kapitel
Die kleine Schwester

Und so wuchsen wir gemeinsam auf, drei Kinder, wo eigentlich vier hätten sein sollen - oder nur zwei. Jarvis fehlte mir immer noch, aber es vergingen ganze Tage, an denen ich nicht oder nur wenig an ihn dachte. Die Hauptsache war doch, daß er lebte, daß es ihm gut ging, daß er glücklich sein würde. Ich glaubte fest daran, daß wir uns bald wiedersehen würden - daß Jarvis zurückkehren würde und kein Dieb sein, sondern ein Ritter. Aber im Grunde meines Herzens kannte ich Jarvis gut genug, um zu wissen, daß er so schnell nicht nachgab, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Wir waren beide stur, jeder auf seine Weise und doch ähnlich.
Ich wurde älter, doch der Jarvis in meiner Erinnerung war immer zwölf Jahre alt, und er wurde immer netter - ich vergaß, an was ich mich nicht erinnern wollte, daß wir uns auch gestritten hatten oder wie wir um die Zuneigung unserer Mutter kämpften. Das waren die unwichtigen Sachen, und sie verblaßten, doch Jarvis verblaßte nicht.
Anfangs machte ich mir um alles Sorgen - auch um Sybald und seine Kinder. Ebenso wie Jarvis als Dieb Schande über die Familie bringen konnte, fürchtete ich um das Ansehen meines Onkels. Ich bewunderte ihn dafür, wie er sich zu seinen Kindern bekannte, aber ich wußte, daß dies nicht jeder so sah. Konnte man Sybald zwingen, als Protektor abzudanken? Und wer sollte es dann tun? Außer ihm hatte ich keine Verwandten…
»Denk nicht darüber nach«, sagte Sybald, als ich ihn vorsichtig darauf ansprach. »Als ich Protektor wurde, waren Vaenris und Savenn bereits auf Welt, und war ich deswegen ein schlechterer Verwalter?«
Ich schüttelte den Kopf, und Sybald sollte recht behalten - mit der Zeit verebbten die Stimmen, die sich über meinen Onkel das Maul zerrissen. Sybald bemühte sich, keine Miene zu verziehen und über den Dingen zu stehen, wie er es immer tat. Er wollte nicht, daß irgend jemand seine Kinder Bastarde schimpfte, und um das zu verhindern, sorgte für die beste Erziehung, welche die beiden bekommen konnten. Wie ich wurde Vaenris im Sinne der Rittertugenden erzogen - denn es kam nicht darauf an, ob man nun auch wirklich ein Ritter werden konnte oder nicht, solange man aus einem reinen Herzen heraus das Richtige tat. Und so lernte selbst Savenn mit uns über Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.
Wir verstanden uns gut, und irgendwann hörte ich auf, die beiden andauernd mit Jarvis zu vergleichen. Sie mußten ihm nicht ähneln. Aber es freute mich, daß sie sich für ihn interessierten.
»Heißt das, es gibt zwei von deiner Sorte?« fragte Vaenris einmal. »Zwillinge sind doch genau gleich, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Solche Fragen war ich gewöhnt. »Er ist mir ähnlich«, antwortete ich. »Er ist so groß wie ich und sieht auch beinahe so aus wie ich, aber er ist klüger.«
Vaenris lachte. »Dümmer ist ja auch wohl nicht möglich.«
Ich ging nicht darauf ein. Aber Savenn sagte leise, während sie keinen von uns anblickte: »Einen kenne ich.«
Jetzt mußte ich grinsen. So war Savenn - immer leise, immer etwas schüchtern, aber wenn sie etwas sagte, sollte man besser gut hinhören, denn sie hatte meistens Recht. Sogar Vaenris hörte auf sie, und er wollte eigentlich nie auf jemanden hören.
Vaenris war ein bockiger, störrischer Junge, weniger verstockt als mehr halsstarrig, aber er versicherte mir, es läge nur an seinem Alter, und ich würde auf die Dauer genauso werden. Er mochte Recht haben, er war schon im Stimmbruch, als ich ihn kennenlernte, aber dennoch wollte ich selbst nicht so werden. Zumindest hörte ich auf Sybald, und daran sollte sich nichts ändern.
Aber das Erstaunliche an Vaenris war, daß er, wenn er darauf bestand, seinen Kopf durchzusetzen, eigentlich immer Recht behielt. Er grinste dann und meinte so etwas wie »Sag ich doch«, und sprach danach nicht mehr darüber.
Er war auch ein guter Kämpfer, oder zumindest hätte er einer sein können, wäre er mit mehr Fleiß bei der Sache gewesen. Als Kind hatte er gelernt zu kämpfen, wie man auf der Straße kämpfte, und dies vermischte er mit der Schwertkunst, die Sybald uns lehren ließ - schnell, stark, aber ohne sich um irgendwelche Regeln zu scheren. Es machte ihm Spaß, er kämpfte gern, aber er sah wohl nicht ein, warum er wegen eines dummen alten Kodex’ seine Gewinnchancen schmälern sollte. Ich mochte unsere Ãœbungskämpfe sehr, denn ich konnte seine Bewegungen nicht vorhersehen, und so zwang Vaenris mich, mehr nachzudenken. Zumindest im Kampf sollte mich niemand dämlich nennen können.
Savenn sah uns manchmal beim Trainieren zu. Ich weiß nicht, ob es sie wirklich interessierte - nicht das Kämpfen sollte sie erlernen, sondern die Aufgaben einer Frau - aber oft saß sie am Rand des Ãœbungsplatz im Schatten, eine Handarbeit auf den Knien. Ich wußte nicht, was sonst noch zu ihren Pflichten gehörte - vielleicht Haushaltsführung, oder so etwas. Die Hände einer Rittersfrau sollten immer in Bewegung sein, niemals müßig, und so hatte Savenn immer ihr Stickkörbchen dabei, selbst während der Unterrichtsstunden bei Sybald. Wenn sie uns beim Kämpfen zusah, schien sie nie zu uns hinüberzublicken, nur auf ihren Stickrahmen. Aber dennoch beobachtete sie uns genau. Vielleicht wollte sie auch nur in der Nähe ihres Bruders sein. Oder vielleicht in meiner?
Zu unserer Kampfausbildung gehörte nicht nur der Umgang mit einem Schwert. Zuallererst war da die Kunst, den eigenen Körper zu beherrschen und das Gleichgewicht zu finden. Im Ãœbungshof stand ein hölzerner Balken, zwanzig Schritt lang, aufgebockt in einer Höhe von fünf Fuß. Als Kinder waren wir nur darauf herumgeklettert und balanciert und hatten uns vorgestellt, was für ein riesiger Baum das wohl gewesen sein mußte. Unser Großvater - der Vater unseres Vaters, wir hatten ihn nie kennengelernt - hatte den Baum vor mehr als dreißig Jahren aus der Alten Heimat bringen lassen, auf einem langen Schiff. Der Kapitän hat wohl große Augen gemacht und gefragt: »Was wollt ihr Landratten denn mit dem Mast?« Aber das war auch ein Seemann, kein Ritter. Wir jedenfalls nannten das gute Stück ehrfurchtsvoll den Baum. Und er war nicht nur zum Balancieren gedacht, sondern auch zum Kämpfen.
Wir standen uns gegenüber, Holzschwert und Schild in der Hand, und unsere Ziele waren klar: Obenbleiben, während der andere hinunterfiel. Unten war Sand, und es war auch nicht wirklich hoch - man mußte auch ohne Leiter hinaufkommen können - aber es war keine Freude, hinunterzufallen. Ich war gut darin. Leider. Ich konnte gut Balancieren, wenn ich mit den Armen das Gleichgewicht halten durfte. Auch auf dem Boden war es kein Problem, da konnte ich sogar über ein schmales Seil laufen. Aber fünf Fuß über dem Boden - da wurde mir schwindelig, selbst wenn ich nicht nach unten blickte.
Gerade darum versuchte ich es verbissen, Tag für Tag, und kletterte jedesmal aufs Neue wieder hinauf, und freute mich jedesmal, wenn es mir gelang, den ersten Schlagabtausch heile zu überstehen. Ein Treffer mit dem Ãœbungsschwert tat kaum weh, aber selbst wenn ich ihn mit dem Schild abfing, konnte der Schlag reichen, um mich von den Füßen zu holen.
»Hast du es schon einmal barfuß versucht?« fragte Vaenris.
Ich schüttelte den Kopf und blickte auf meine Stiefel hinunter. Ich war stolz auf meine Stiefel. Pagen trugen Schuhe, aber nun waren wir Knappen und durften Stiefel tragen wie die Ritter.
»Versuch mal«, sagte Vaenris. »Hilft vielleicht. Der Baum ist rund, deine Stiefelsohlen sind flach, aber deine Füße können sich anpassen. Du kannst dich mit den Zehen festhalten.«
»Barfuß?« fragte ich noch einmal. Mir war eingebleut worden, niemals, unter keinen Umständen, barfuß zu laufen.
Vaenris lachte. »Glaubst du, ich hatte Schuhe? Ich bin mein Leben lang barfuß gelaufen, bis ich hierherkam.« Nun trug auch er Stiefel. Und war stolz darauf.
»Also gut«, sagte ich. »Wenn du meinst.« Ich kam selbst nicht auf solche Gedanken, aber ausprobieren konnte ich alles. Mehr als herunterfallen konnte ich auch dabei kaum.
Ich zog mich nach oben, Schwert und Schild auf dem Rücken, um die Arme frei zu haben, und oben angekommen setzte ich mich auf den Balken und zog meine Stiefel aus. Dann ließ ich sie in den Sand unter mir fallen und richtete mich vorsichtig auf. »Worauf wartest du?« rief ich zu Vaenris hinunter. »Ich bin soweit.«
Vaenris ließ nicht auf sich warten. Er stemmte sich hoch, machte Schwert und Schild bereit, doch er ließ seine Stiefel an. Mit der Schwertspitze deutete ich auf seine Füße. Er schüttelte den Kopf.
»Ich wollte dir einen Vorteil geben. Jetzt nutz ihn auch.«
»Gut«, sagte ich. Das Holz unter meinen Füßen fühlte sich seltsam an: Es war warm, doch nicht unangenehm, wenn man bedachte, daß den ganzen Tag lang die Sonne darauf gestanden hatte. Sie hatte das Holz ausgedörrt und ausgeblichen, aber mehr noch als die Sonne hatten die Füße von dreißig Jahren Knappenschaft das Holz verändert: Sie hatten seine Oberfläche poliert, glattgetänzelt. Ich versuchte Halt zu finden, als ich auf Vaenris zubalancierte, drückte meine Zehen nach unten, die Fersen nach außen, und vielleicht hätte ich mich sogar daran gewöhnen können - wäre da nicht Vaenris gewesen, und die Schwerter in unseren Händen. Ich drehte mich zur Seite und riß meinen Schild hoch, um Vaenris damit von der Stange zu stoßen - und in dem Moment verließ mich mein Gleichgewicht.
Ich fiel, und landete mit einem Aufschrei. Ich war schon oft gefallen, auch aus größeren Höhen - ich konnte mich abrollen oder weich in den Knien landen, und verletzt hatte ich mich noch nie dabei. Aber jetzt konnte ich einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken.
Im gleichen Moment landete Vaenris neben mir, und Savenn rannte, den Korb in der einen Hand, den Rock mit der anderen gerefft, zu uns hin. »Was ist passiert?« rief sie. »Bist du verletzt?«
Ich biß mir auf die Zunge, verlegen, weil ich geschrieen hatte. Vaenris packte mich und zog mich hoch, lud mich auf den Rücken und trug mich zum Rand. Ich selbst konnte nicht aufstehen. Ich hatte den Sand vergessen. Es war Nachmittag, und die Sonne hatte seit Stunden darauf gestanden. Er war glühend heiß. Unter meinen Füßen bildeten sich sofort große Blasen.
Vaenris erkannte, was geschehen war. »Hol Wasser, schnell!« rief er Savenn zu, und die kehrte sofort um und rannte zur Zisterne. Vaenris schimpfte und fluchte, aber er meinte nicht mich damit. Zu mir sagte er: »Das tut mir leid, das wollte ich nicht - ich wußte nicht, daß dir die Hitze soviel ausmachen würde…«
Ich glaubte ihm. Die Eingeborenen liefen barfuß, ohne daß er Sand sie verbrannte, und so kannte Vaenris es seit seiner Kindheit. Aber ich hätte es wissen müssen, und das ärgerte mich.
»Hier ist Wasser«, rief Savenn und hatte einen Krug mitgebracht. Vaenris packte ihn und goß etwas von dem Wasser über meine Füße. Es linderte den Schmerz ein wenig, für den Augenblick. »Ich gehe schnell und sage Vater Bescheid«, sagte sie dann.
»Du bleibst hier!« fuhr Vaenris sie an. Im nächsten Moment setzte er, als er ihr banges Gesicht sah, versöhnlich hinterher: »Wenn er davon erfährt, bekommt Byron Ärger für etwas, das meine Schuld ist.« Das sah Savenn ein, und sie nickte. »Kannst du deine Stiefel wieder anziehen?« fragte Vaenris mich.
Ich sollte schon ja sagen, aber meine Füße sagten nein.
»Wir müssen ihn verbinden.« Savenn begann, in ihrem Körbchen zu kramen. Vaenris lachte sie aus.
»Wie das? Mit Stickzeug?«
»Ich habe Binden«, sagte Savenn leise. »Falls einem von euch etwas passiert.« Sie hielt uns ihren Korb hin. Nur obenauf lag eine Handarbeit. Darunter kamen Verbände zum Vorschein. Darum also sah sie uns immer beim Kämpfen zu!
»Erst müssen die Blasen weg!« sagte Vaenris. »Hier, halt mal seine Hand!«
Ich wollte schon erwidern, das sei nicht nötig bei mir, ich würde schon nicht schreien, auch wenn mir mulmig wurde, als Vaenris seinen Dolch zog. Doch da hatte Savenn schon meine Hand genommen und hielt sie fest in ihren beiden Händen, die warm waren und viel kleiner als meine, daß ich mich wie ein ungeschickter Riese fühlen mußte.
Als Vaenris mit der Dolchspitze die Blasen meines rechten Fußes aufschnitt, biß ich mir auf die Zunge, um nicht doch vor Schmerz zu brüllen, aber Savenn schrie auf. Erschrocken ließ ich ihre Hand los. Ich hatte ihre Finger arg gequetscht.
Das Wasser lief aus den Blasen. Es tat scheußlich weh.
»Nimm du seine Hand«, sagte Savenn. »Du bist zu grob.«
Und während Vaenris an mir die Finger seiner Schwester rächte, öffnete Savenn mir die Blasen des linken Fußes vorsichtig mit einer Nadel. Ich kann nicht sagen, was denn nun angenehmer war - die Nadel tat weit weniger weh, aber Savenns Hand gefiel mir besser als die von Vaenris.
Dann verband mir Savenn die Füße, und ich zog meine Stiefel darüber und schaffte es sogar bis in mein Zimmer damit. Sybald hat es nie erfahren, und es war mir auch eine Lehre, niemals mehr barfuß zu laufen.
Vor allem bin ich danach nie wieder vom Baum gefallen. Kein Schwindel war so stark, als daß er die Schrecken des heißen Sandes übertroffen hätte. Und so blieb ich oben, aus Angst.

Am anderen Tag ging es mir seltsam. Mir war abwechselnd heiß und kalt, mein Herz raste, mein Atem stockte. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Ich zitterte und schwitzte gleichzeitig und schnappte nach Luft dabei. Ich tat mein Bestes, um es zu verheimlichen, aber immer wieder war es, als zöge etwas meine Wangen mit Gewalt nach außen und zwang mich zu grinsen. Inständig hoffte ich, Sybald möge nichts merken. Wenn ich mir durch meine Verbrennungen ein Fieber eingefangen hatte, so war das meine eigene Schuld.
Und wirklich schien Sybald nichts aufzufallen. Aber Vaenris entging es nicht, und nachdem Savenn mit sanften kühlen Fingern meine Verbände gewechselt hatte, sprach er mich darauf an.
»Sag mal, geht es dir nicht gut?«
Ich nickte, wußte, daß er mich nicht verraten würde. Seit ich denken konnte, war ich niemals krank gewesen, aber jedes Jahr im Spätsommer kam das Fieber und raffte viele aus den Familien der Siedler dahin, und einige der Eingeborenen. »Vielleicht habe ich das Fieber?« fragte ich besorgt. Ich traute mich nicht, in einen Spiegel zu blicken. War ich nun bleich wie meine Mutter, ehe sie starb?
Vaenris fühlte meine Stirn. »Kommst mir nicht fiebrig vor«, sagte er.
In dem Moment kam Savenn herein. In einem Tontopf trug sie eine stachelige grüne Pflanze. »Hier«, sagte sie, »das soll helfen bei Verbrennungen, ich werde die Wunden damit einreiben…«
Ich begann zu zittern.
Vaenris hob eine Hand. »Nicht jetzt, laß uns noch einen Moment in Ruhe, ja?« Savenn stellte ihren Blumentopf auf den Boden und ging. Vaenris folgte ihr zur Tür, als wolle er sichergehen, daß sie auch wirklich ging und nicht etwa lauschte, und dann schoß er zu mir, der ich auf dem Bett hockte und wartete. »Ich kann dir sagen, was mit dir ist!« zischte er aufgebracht. »Du liebst meine Schwester!« Einen Moment lang sah er aus, als wolle er mich schlagen.
»Das stimmt nicht«, beeilte ich mich zu sagen. »Also, nicht so, wie du denkst, heißt das…« Wieder zwang mich etwas zu grinsen.
»Lüg mich nicht an!« schnaubte Vaenris. »Ich sehe es doch!« Mit dem Zeigerfinger deutete er dorthin, wo ich nicht hinsehen durfte.
Ich errötete und begann, wieder etwas zu stammeln, das nicht einmal für mich wirklich Sinn ergab.
»Du wirst deine Finger von ihr lassen! Ich lasse nicht zu, daß du etwas mit ihr anfängst!«
Ich versicherte ihm, nichts in der Art hätte ich vor, und wie er nur auf die Idee kommen konnte, daß ich… und so weiter. Aber gleichzeitig ruhten meine Augen wie gebannt auf der stachligen Pflanze, und ich mußte mir immerzu vorstellen, wie Savenn mir mit den fleischigen Blättern über die Haut strich. Mein Körper strafte meine Worte Lügen. Vaenris wußte es. Er sagte nichts mehr, sondern ohrfeigte mich nur und ging. Es machte keinen Unterschied. Mein Gesicht brannte auch so.
Als Savenn zurückkam, brachte ich es nicht fertig, sie anzusehen. Sie merkte es sofort. »Byron«, sagte sie. »Was ist los?«
Ich antwortete nicht. Ich wollte, daß sie weiterfragte, ich wollte ihre Stimme noch einmal hören, ihre süße Stimme. Ohnehin hätte ich nicht antworten können - ich wußte selbst nicht, was und wie mir geschah. Ihre Hände berührten meine Haut -
»Ich muß… ich muß austreten«, stammelte ich und versuchte zu fliehen, wo Flucht nicht möglich war.
»Byron«, sagte sie. »Was ist denn?«
Unsere Augen berührten sich, und dann unsere Augen, und dann unsere Lippen. Niemand hatte uns je gesagt, was ein Kuß war, aber in unseren Körpern steckte ein Wissen, das so alt war wie die Menschheit. Ein Kuß. Mit geschlossenen Augen sah ich zu, wie die Welt für einen Moment in ihrem Lauf verharrte, wie Sonne und Mond stehenblieben, und zu uns herunterblickten. Sonne und Mond und Savenn und ich. Er konnte nicht lang sein, dieser Kuß, und währte doch ewig.
Dann ließen wir einander los, unsere Münder, unsere Hände, nur unsere Augen nicht, und starrten uns entsetzt an. Wie das, und was das, und alles. Und dann bemerkte ich aus den Augenwinkeln, daß Savenn vergessen hatte, die Tür hinter sich zuzumachen. Richtig zu. Sie war nur einen Spaltweit auf.
Hinter diesem Spalt stand mein Onkel Sybald.
Er sprach kein Wort, als er Savenn fortführte. Als er Savenn fortnahm. Ein letztes Mal kreuzte sich mein Blick mit ihrem.
Dann war sie fort, und ich sah sie niemals wieder.

Von den Zinnen sah ich, wie das Schiff ablegte, doch sie sah ich nicht an Bord. Von den Zinnen aus hätte sie alles sein können, jeder kleine weiße Fleck, der sich dort unten bewegte, und ich suchte mir einen aus und stellte mir vor, daß sie es war, doch es war nicht das Gleiche. Das Bild war fern und verschwommen durch einen Tränenschleier. Ich weinte und war froh, daß niemand da war, um es zu sehen. Ich weinte wie an dem Tag, da ich Savenn das erste Mal sah. Ich weinte, um niemals wieder zu weinen.
Es ist nicht für immer, sagte ich mir. Eines Tages wird sie zurückkommen, und bis zu dem Tag warte ich. Sybald hat nicht die Macht, um uns für immer zu trennen. Und wieder. Und wieder.
Aber die Wahrheit war: Sie war fort, und Beten hatte auch bei Jarvis nicht geholfen.
Sybald versuchte, mit mir darüber zu reden, aber das versuchte er seit Tagen, und ich war taub gegen seine Worte. Ich wollte keine Gelehrsamkeit, ich wollte nicht wissen, warum er Savenn über das Meer schickte, bis in die Alte Heimat. Ich wollte Savenn.
Was ich aber hörte, war Vaenris’ Zorn auf Sybald. Egal, wie dick die Wände auch sein mochten, wie sehr ich meine Ohren auch vor Sybalds Worten verschließen mochte - Vaenris’ Zorn drang durchs ganze Haus. Wo ich verstockt schwieg, brüllte er. Irgendwie beneidete ich ihn darum.
»Wie kannst du das tun? Wie kannst du sie fortschicken? Hast du sie gefragt? Oder mich? Und sagst noch, du tust ihr damit etwas Gutes?«
Dann mußte Sybald wohl etwas geantwortet haben, denn Vaenris war für einen Moment still, ehe er rief: »Byron? Wenn Byron an allem Schuld ist, warum schickst du dann nicht ihn fort? Warum meine Schwester? Warum kann ich nicht mit ihr gehen?«
Jetzt hätte ich Sybalds Antwort gerne gehört, und die Worte aus seinem Mund, daß ich Schuld sein sollte. Aber ich hörte nichts mehr, nicht Sybald, und nicht Vaenris.
Vaenris verschwand am Tag, bevor das Schiff ablegen sollte. Er stürmte aus der Burg, ohne etwas mitzunehmen, als wolle er noch am gleichen Abend wiederkommen, doch das tat er nicht. Ich verstand ihn nicht - immerhin hatte Sybald ihm erlaubt, dabeizusein, sich von Savenn zu verabschieden - all das, was ich nicht durfte. Mich umschlossen die Mauern meines Zimmers, und ich hatte mich noch nie so einsam darin gefühlt.
Und dann legte das Schiff ab, und Savenn war fort.
Es waren seltsame Tage, die ich mit Sybald allein verbrachte. Wir sprachen kaum mehr als das Nötigste - Sybald glaubte, er verstehe mich, aber ich wollte ihn nicht verstehen. Es war eine bedrückende Zeit.
Dann, drei Tage später, als ich mit Sybald beim Abendmahl saß, kehrte Vaenris zurück. Er stand plötzlich in der Tür des Speisesaals, der schon für vier immer schon viel zu groß war.
»Ich bin wieder da«, sagte er. Und wie er wieder da war - abgerissen und schmutzig wie ein Herumtreiber! Sein Gesicht war rot und geschwollen von einer Prügelei, oder von mehreren. Daß er es wagte, seinem Vater so unter die Augen zu treten! Ich begann mich für ihn zu schämen und wollte ihn doch vor meinem Onkel in Schutz nehmen, als Sybald aufsprang und auf ihn zustürzte. Er sagte nichts, schloß ihn nur in die Arme, und drückte ihn an sich.
Ich schwieg, blieb nur auf meinem Stuhl sitzen und stand nicht auf. Irgendwie wußte ich, daß die beiden in diesem Moment nicht gestört werden wollten. Und daß Sybald nicht wollte, daß ich ihn weinen sah.
Dann kamen die beiden zurück zur Tafel, und Sybald schob Vaenris auf einen Stuhl direkt neben seinem und gab ihm seinen Teller. Sybald hatte, genau wie ich, kaum etwas gegessen, aber Vaenris langte zu, als habe er die letzten Tage über nichts zu beißen bekommen.
»Ich hatte solche Angst«, sagte Sybald. »Ich dachte schon, ich verliere euch beide.«
»Das hättest du auch beinahe«, sagte Vaenris mit vollem Mund. »Aber die haben mich nicht auf das Schiff gelassen. Ich wollte ja eigentlich nicht wiederkommen…« Er griff quer über den Tisch nach dem Wasserkrug, »aber Savenn fehlt mir so oder so, und hier habe ich ja zumindest noch so etwas wie einen Bruder.«
Ich schluckte. Jarvis war fort, Savenn war fort - es war gut, daß zumindest Vaenris wieder da war. »Glaubst du - es war meine Schuld?« fragte ich leise.
Vaenris schüttelte den Kopf. »Ihre doch genauso - das dumme Ding hatte sich doch auch in dich verliebt. Jetzt können wir’s auch nicht mehr ändern.« Sein Blick sagte mir, daß wir uns noch einmal darüber prügeln mußten. Das änderte auch nichts. Aber danach konnte man immer wieder von vorne anfangen.
Später ließ ich Sybald ausreden, warum er Savenn in die Alte Heimat geschickt hatte - nicht um sie zu bestrafen, und auch nicht mich. »Aber es ist nicht gut, wenn ihr euch liebt«, sagte er. »Du hättest sie niemals heiraten dürfen, nicht nur, weil sie deine Base ist - sie ist nicht von deinem Stand. Du bist der Erbe unserer Häuser, du mußt eines Tages heiraten - und hättest du dann Savenn weiterhin geliebt, wäre sie deine Metze geworden. Das hat sie nicht verdient.«
Ich versicherte ihm, daß ich niemanden heiraten wollte außer Savenn, und wenn ich sie nicht bekommen konnte, dann sollte ich eben als der letzte Fadar sterben, und die Kolonie sollte selbst sehen, was aus ihr wurde…
Sybald schüttelte den kopf, belustigt und beunruhigt zugleich. »In ein paar Jahren wirst du es verstehen, Byron. Schwärmerei hat noch nie einen Mann glücklich gemacht. Savenn ist ebenso stolz wie klug - ich will nicht, daß sie an dir zerbricht. Die Alte Heimat ist voller neuer Ideen - wir Ritter fahren auf allzu eingefahrenen Pfaden. Vielleicht gibt es Besseres, das wir nicht kennen? Wir beide sind Ritter, Byron, und wir werden nie etwas anderes sein. Aber Savenns Blut ist Altes gemischt mit Neuem. Die Alte Heimat soll ihre Kolonie sein.«
Ich blickte ihn an und versuchte seine Worte zu verstehen, ohne dumme Fragen zu stellen. Ich begriff nicht, warum der Weg der Ritter, Sybalds Weg, plötzlich nicht mehr der Richtige sein sollte?
Dann verstand ich meinen Onkel so: Savenn war jetzt und hier nicht mehr als ein Bastard, aber wenn sie in der Alten Heimat lernte, wurde sie eine Dame. Dann kam sie zurück, und dann gab es keinen Kodex mehr, der zwischen uns stand… Ich lächelte.
»Sie kommt doch irgendwann wieder, oder?« fragte ich leise.
Sybald nickte, und in seinen Augen war Hoffnung wie in meinen. »Das hoffe ich«, sagte er. »Das hoffe ich.«
Von dem Tag an wartete ich nicht mehr auf das Unheil.

Die Navigation fixieren ·  nicht fixieren (erfordert aktiviertes Javascript)
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2005 - 2010 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.