Sechstes Kapitel
Wie ein Dieb in der Nacht

Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Boden. Was war -? Wo war -? Und oh - ging es mir schlecht. Mein Schädel dröhnte und pochte, ich fühlte jeden Knochen im Leib, hatte Muskelkater, ich bekam keine Luft, mein Mund klebte zusammen, so trocken war er - und all das, bevor ich auch nur versuchte, mich zu bewegen. Noch einmal versuchte ich, einen Gedanken zu Ende zu bringen: Was war geschehen? Und wo war ich?
Ich lag, aber nicht in meinem Bett. Es war hart wie Stein, und es war naß. Klatschnaß. Das Wasser sickerte in meine Bewußtsein wie durch meine Kleidung, kaltes Wasser, es ging mir durch und durch. Ich fühlte eine Gänsehaut über meinen Körper kriechen, und dann war ich endlich wach genug, um die Augen aufzuschlagen und mich ein wenig zur Seite zu drehen, weg von der Nässe.
Im nächsten Moment krachte ich auf den Boden. Es war nicht tief, aber hart und unerwartet. Und ich hörte ein Lachen, laut und unangenehm, das den ganzen Raum, oder zumindest meinen ganzen Kopf, ausfüllte. Alles drehte sich. Und dann, endlich, konnte ich sehen, wo ich war.
Ich saß auf dem Boden einer Kerkerzelle. Hinter mir war eine steinerne Pritsche, von der Wasser zu mir heruntertropfte. Es war auch Wasser am Boden. Die Zelle war leer bis auf einen Eimer in der Ecke, aber - was machte ich in einer Zelle? Es war eine von unseren, ich kannte sie, aber ich gehörte nicht dort hinein.
Und Vaenris auch nicht. Vaenris, der in der offenen Tür stand, breitbeinig, grinsend, mit einem großen Tonkrug unter dem Arm. Weiter konnte ich nicht sehen. Alles dahinter war verschwommen, und daß es Vaenris war, wußte ich auch nur mit Bestimmtheit, weil ich seine Stimme erkannte. Ich konnte blinzeln, soviel ich wollte - es wurde davon nicht viel besser. Und in der Zelle war ich auch immer noch.
»Also gut«, sagte er. »Wach wärst du damit wieder.«
Ich schüttelte den Kopf. Wasser lief mir in die Augen. »Was ist -?« fragte ich, brach ab und fragte statt dessen: »Wo bin -?« und brach wieder ab, denn soweit war ich ja schon. »Was soll das?« fragte ich dann.
»Ich bin hier, um dich das zu fragen«, sagte Vaenris. Plötzlich sah er sehr grimmig aus, als er die zwei Stufen zu mir in die Zelle hinunterstieg und die Tür hinter sich zuzog. »Und ich dachte mal, ich kenne dich.«
Vorsichtig versuchte ich aufzustehen. Mir war immer noch elend, aber so am Boden konnte ich nicht sitzen bleiben. »Gehört das auch dazu?« fragte ich, unsicher, wütend, mit wackligen Knien. »Wo ist Sybald?«
»Nicht hier, und das ist auch das beste. Ich dachte mal, ich versuche dich wach zu bekommen, bevor irgend einer von denen ahnt, daß du wieder bei dir bist. Freu dich, daß ich zuerst bei dir bin. Das mache ich nur, weil ich dein Freund bin. Noch.«
Seine Stimme machte mir Angst. »Was ist denn los?« fragte ich verstört. »Was ist passiert?«
Vaenris lachte. »Weißt du das wirklich nicht mehr?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich versuchte mich zu erinnern… Aber es ging nicht. Das letzte was ich wußte, war, daß ich den Löwenkelch nahm. Ich leerte ihn in einem Zug… fand noch, daß es abscheulich schmeckte… alle blickten mich erwartungsvoll an… und dann… »Nichts mehr«, sagte ich. Nach Mitternacht wußte ich nichts mehr. Wie spät war es? Wohl immer noch nicht Morgen. Die Zelle hatte ein kleines vergittertes Fenster, knapp unter der Decke, doch es fiel kein Licht herein. Oder war es schon wieder Nacht? »Ich weiß nichts«, sagte ich langsam. »Ich erinnere mich nicht.«
»Du erinnerst dich nicht«, wiederholte Vaenris. Er bedeutete mir, mich wieder auf die Pritsche zu setzen, und ich gehorchte. Es gab Dinge, um die ich mich mehr sorgen mußte als um so ein bißchen Wasser. »Du weißt nicht mehr, was du heute Nacht gesagt hast?«
Ich nickte, und war fast ein wenig froh, daß es wirklich nur heute Nacht war.
»Und wenn ich dich jetzt frage, warum dein Bruder damals verschwunden ist?«
»Das haben sie mich gefragt?« murmelte ich. Ich barg mein Gesicht in den Händen, rieb mir die Stirn, die Augen, es half nicht. Wenn ich es ihnen gesagt hatte… Dann verstand ich, warum ich im Kerker wieder aufwachte. Einen Dieb zu beschützen, war fast so schlimm, wie selbst einer zu sein. Aber das war egal. Das war ich bereit zu ertragen. Aber mein Versprechen - »Ich habe Jarvis verraten«, flüsterte ich. Ich fühlte, daß etwas in mir zerbrach. Alles. Mein Ehre. Mein Wort war nichts mehr wert. Niemand konnte mir jemals wieder trauen. Noch nicht einmal ich selbst…
»Verraten!« Vaenris schnaubte. »Wenn’s nur das wäre! Verraten ist gut! Du hast ihn umgebracht.«
Umgebracht… Das Wort dröhnte in meinem Kopf. Ich konnte nicht denken. Ich starrte Vaenris nur an. Dann hörte ich mich murmeln: »Was…« und »Nein…«
Vaenris packte mich bei den Schultern. »Ich hab mir immer einen Bruder wie dich gewünscht, und dann stellt sich raus, alles war nur Mummenschanz!«
Ich nahm die Hände hoch, wie um mich vor Schlägen zu schützen. »Das stimmt nicht!« rief ich. »Das habe ich nicht gesagt! Jarvis lebt, ich würde ihm nie ein Haar krümmen!« Jarvis lebte. Jarvis mußte leben. Ich wünschte mir so sehr… Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte.
Vaenris spuckte aus. »Ja, jetzt kannst du wieder lügen«, sagte er kalt. »Wo der Trank nicht mehr wirkt… Und daß ich noch versucht habe, dir zu helfen…« Er schüttelte sich.
»Bitte«, flehte ich. Wasser rann mir über das Gesicht, Tränen, Schweiß, ich wußte es nicht. Mein Körper gehorchte mir ebensowenig wie meine Stimme. »Bitte. Du mußt mir glauben. Und wenn ich hier nie wieder leben rauskomme - du mußt mir glauben. Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, aber ich bin kein Mörder. Du weißt das. Du mußt mir glauben…«
»Erst einmal«, sagte Vaenris verächtlich, »will ich wiederhaben, was ich dir geliehen hatte.«
Geliehen… sehr dunkel, sehr schmerzhaft erinnerte ich mich. Mit fahrigen Fingern zog ich den Anhänger hervor. Er sah ganz naß und unansehnlich aus, und ich schämte mich, nicht besser auf ihn achtgegeben zu haben. Ich schloß die Hand darum. Einen Moment lang wurde mir warm, und Wut stieg in mir Auf, aber mein Elend ließ sie nicht weit kommen.
»Gib ihn mir zurück«, sagte Vaenris.
»Aber du hast gesagt, wenn ich Savenns Anhänger trage, kann ich sagen, was ich will!« sagte ich kläglich.
Vaenris schnaubte. »Ich hab dir auch gesagt, du sollst nicht soviel saufen! Was hilft dir der freieste Wille, wenn du ihn mit Bier ertränkst?«
»Aber es ist nicht wahr!« rief ich noch mal. »Ich habe Jarvis nichts getan, wirklich nicht. Jarvis lebt!«
Vaenris schüttelte den Kopf. »Gib mir erst den Anhänger wieder.«
Ich nickte. Was seines war, war seines. Vorsichtig gab ich ihm Savenns Anhänger zurück. Vaenris war böse mit mir wie seit Savenns Abreise nicht mehr - da konnte mir für den Moment auch egal sein, daß ich ihren Anhänger ruiniert hatte. Zuviel anderes lag bereits in Scherben.
Vaenris lächelte und hing ihn sich wieder um. »Danke«, sagte er. »Und es tut mir leid, daß er nicht funktioniert hat, wie er sollte. Bist du jetzt sauer?«
Die Frage kam zu plötzlich, zu unerwartet - ich sauer? War er nicht derjenige, welcher… Ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte ich. »Wie auch, ich erinnere mich ja nicht mal. Ich kann nicht sauer sein, bevor ich weiß, auf wen.«
Vaenris klopfte mir auf die Schulter. »Zumindest kann ich dir einen sagen, der im Moment wirklich sauer ist auf dich.« Ich verstand nicht, warum er dabei grinste.
»Mein Onkel«, sagte ich leise.
»Richtig. Ich meine, ich kann’s ihm irgendwie nicht verdenken, aber - ich habe ihn noch nie so wütend gesehen, und ich kenne ihn ja schon ziemlich lange. Du hättest das sehen müssen - irgendwie hast du’s ja gesehen, aber du warst ja nicht ganz du, oder weißt es nicht mehr - das war schon unheimlich. Einer von den Prüfern - ich weiß gar nicht mehr, wer es war, aber mein alter Herr war’s nicht - fragte, wohin dein Bruder damals verschwunden ist. Dann du, genau wie abgemacht: ‘Ich weiß es nicht’. Der Prüfer: ‘Wißt Ihr denn, warum er verschwunden ist?’ Und du hast nicht geantwortet. Sie schauen dich an, verwundert, und dann wirst du bleich und verdrehst irgendwie komisch die Augen, und sie sagen: ‘Antwortet, Byron!’ Und du hast gesagt, ganz langsam: ‘Ich habe ihn getötet.’ Damit hatte ja keiner gerechnet, und deine Stimme klang auch ganz komisch, nicht so wie sonst. Mein Vater springt auf und ruft laut: ‘Was?’ Und du sagst noch einmal: ‘Ich habe ihn getötet’. Und lächelst irgendwie, und dann werden deine Augen weiß, und du bist zusammengeklappt. Und im Saal brach der große Tumult aus. Die einen konnten es nicht fassen und sagten gar nichts, und die anderen schrieen alle durcheinander. Und wer am lautesten geschrieen hat, war dein Onkel.«
»Und dann?« fragte ich, ganz vorsichtig. Mir war schlecht. Ich konnte mein Herz nicht mehr schlagen fühlen.
Vaenris zuckte die Schultern. »Dann hat mein er mich rausgeschmissen. Und alle anderen Gäste. Ich habe draußen vor der Tür gewartet, aber dann kam der Gesandte und sagte, alle sollten gehen, die Burg verlassen, Zeremonie vorbei. Ich weiß zwar nicht, wie der mich aus der Burg schmeißen will, immerhin wohne ich hier, aber ich wollte den Ärger nicht noch anstacheln - habe nur gefragt, ob ich dich sehen kann und was los ist, er wollte mir nicht antworten. Da habe ich eine Runde über den Hof gedreht, und als ich wiederkam, stand nur noch mein Vater in der Halle. Du kannst mir glauben, ich habe ihn noch nie so blaß gesehen.«
»Weil er glaubt…« Ich sprach nicht weiter. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Mir tat Sybald leid - es gab so vieles, was mich in dem Moment mehr hätte bedrücken müssen, aber mir tat Sybald leid, fast noch mehr als ich selbst. Wenn Sybald dachte, daß ich Jarvis umgebracht hatte - dann lag seine ganze Welt in Scherben, alles, woran er jemals geglaubt hatte. Alle Tugenden. Die Häuser Alamar und Fadar. Meine Zukunft. Die Wahrheit. Alles.
Am liebsten wollte ich zu ihm. Ihn trösten. Ihm sagen, daß alles nicht stimmte, daß ich nicht wußte, was geschehen war, daß Jarvis lebte. Aber ich brachte es nicht heraus. Ich fürchtete mich davor, meinem Onkel unter die Augen zu treten, seine Enttäuschung zu sehen, selbst wenn sie auf einer Lüge basierte. Niemals im Leben wollte ich Sybald enttäuschen. Und Vaenris redete weiter:
»Ich fragte ihn, wo du bist, und ob ich dich sehen könnte. Und er sagte: Nein, niemand darf zu dir. Wo du denn bist, fragte ich noch mal. Und er antwortet: Im Kerker.«
»Im Kerker«, wiederholte ich. Auch wenn ich das schon wußte. Es tat weh, daß ausgerechnet Sybald mich dorthinein gesteckt hatte, daß er dem Ritual mehr glaubte als mir.
»Er meinte, es ist zu deiner Sicherheit«, sagte Vaenris, doch sein Tonfall war zu spöttisch, als daß er das selbst geglaubt hätte. »Weil die Leute dich am Liebsten auf der Stelle in Stücke gerissen hätten. Sagt er. Aber das kann ich mir schlecht vorstellen. Ihr Ritter seid doch ein sehr gesittetes Pack.«
»Ich bin kein Ritter«, flüsterte ich. Vielleicht war dies das Schlimmste, schlimmer als im Kerker sein, schlimmer als Sybalds Kummer. Es war nicht nur die Welt meines Onkels in Scherben gegangen. Sondern auch meine eigene. »Ich bin kein Ritter«, wiederholte ich. »Und werde auch nie einer sein.«
Ich hoffte irgendwie, daß Vaenris mir da widersprechen würde. Oder mich irgendwie trösten und darauf hinweisen, daß er ja auch kein Ritter werden konnte. Aber er nickte nur. »Wohl wahr. Und so wie es aussieht, werden sie dich hinrichten.« Seine Stimme war ernst, aber bestimmt.
»Ich kann ihnen alles erklären«, krächzte ich und wußte, daß ich genau das nicht konnte. »Sybald ist der Richter, er kann mich nicht verurteilen, wo ich unschuldig bin.«
»Sie wollen das sicher nicht.« Vaenris klopfte mir auf die Schulter und fand das vielleicht aufmunternd. »Aber nach deinem Geständnis haben sie keine Wahl mehr. Mörder werden hingerichtet, fertig.« Er begann zu lächeln. »Aber du wirst nicht hingerichtet, glaub mir das.«
Ich wollte es ihm gern glauben. Ich hatte keine Wahl. Ich wollte nicht hingerichtet werden. Ich wollte leben. Und wenn ich dafür Jarvis Geheimnis verraten mußte… Nein, dann nicht. »Ich sterbe lieber, als daß ich mein Versprechen breche«, würgte ich hervor. Es klang großartig ritterlich, aber es fühlte sich gar nicht so an. Das war beides nicht das, was ich wollte.
Vaenris hielt mir seine Hand hin. »Byron, ich habe gesagt, ich bin dein Freund, und andere hast du nicht mehr außer mir. Vertraust du mir?«
Ich nickte. »Du, und mein Onkel. Ich muß mit ihm reden. Er wird es verstehen.«
»Er kann es nicht verstehen!« fuhr Vaenris mich an. »Byron, hör auf, so dämlich zu sein. Du kannst das nicht erklären. Niemand wird dir glauben. Du hast noch eine Chance, eine einzige. Und das ist, zu fliehen.«
»Ich darf nicht fliehen«, erwiderte ich, ebenso störrisch wie tonlos. »Wenn ich fliehe, denken sie erst recht, ich bin schuldig.«
»Byron, das denken sie auch so!« Vaenris packte mich bei den Schultern und begann mich zu schütteln. »Du hast die Wahl zwischen fliehen und sterben, begreif das endlich! Willst du als Dummkopf sterben?«
»Ich will nicht als Mörder sterben«, flüsterte ich.
»Dann flieh jetzt. Heute Nacht. Ich helfe dir. Dafür bin ich doch da.«
Ich schluckte. Ich hatte keine Wahl. »Und du?« fragte ich. »Du kommst doch mit, oder?« Mein Herz sank, als Vaenris den Kopf schüttelte.
»Ich hab es überlegt«, sagte er. »Ich würde gern, aber ich kann es nicht.«
»Aber ich brauche deine Hilfe!« sagte ich kläglich.
»Ich weiß.« Vaenris seufzte. »Aber meinem alten Herrn schulde ich mehr. Wie sieht es aus, wenn wir beide verschwinden? Der Neffe ein Mörder, der Bastard ein Schuft? Das kann ich ihm nicht antun. Du bist ein dummer Junge und irgendwie selbst schuld. Aber mein Vater…«
Fahrig nickte ich. »Du hast wohl recht.« Vielleicht freute es mich ein wenig, daß sich Vaenris über Sybalds Ehre Gedanken machte. Vielleicht steckte doch noch ein Ritter in ihm. Dann aber siegte wieder die Angst. »Aber ohne dich schaffe ich es nicht!«
Vaenris lachte. »Sicher schaffst du das! Du hast Marlon Tarell besiegt, du warst bereit, Herzog zu werden - da wirst du mit einer kleinen Flucht auch noch klarkommen! Ich habe dir Waffen organisiert und ein Pferd - sieh nur zu, daß du weit genug von hier wegkommst, und dann bist du in Sicherheit.«
»Und… und dann?« fragte ich und fühlte mich wie ein kleines Kind, ängstlich und hilflos.
Vaenris zuckte die Schultern. »Weiß nicht, was dann kommt, außer, daß du lebst. Vielleicht treibst du ja irgendwo deinen Bruder auf? Wenn du den hier vorführst, kann niemand mehr behaupten, er wäre tot, geschweige denn, du hättest ihn umgebracht.«
Ganz vage nickte ich. Wenn ich Jarvis fand… Vaenris hatte Recht. Es war das einzige, was mir noch blieb. Nicht, daß ich eine Idee hatte, wie ich das anstellen sollte, aber vielleicht war es gar nicht so schwer? Vielleicht würde mich mein Herz direkt zu ihm hintragen, durch das Band, das niemand zwischen uns zerstören konnte? Vielleicht erschien es mir nur so schwer, weil ich noch nie nach ihm gesucht hatte? Ich schluckte und nickte. »Ich finde ihn«, flüsterte ich. »Ich werde mich nicht umbringen lassen.« Ganz tief in meinem Inneren nannte eine Stimme mich selbstsüchtig - was wurde aus Jarvis’ Geheimnis, wenn ich ihn vor Sybald schleifte, oder aus seiner Freiheit? Sollte ich des Mordes freigesprochen werden und Jarvis dafür als Dieb eingekerkert? Mußte ich sein Geheimnis nicht mit meinem Leben verteidigen? Gab es etwas Edleres, als für den geliebten Bruder zu sterben?
Doch diese Stimme war unsicher und wurde immer leiser. Sie wußte, daß sie log. Ich wollte nicht sterben. Nicht einmal für Jarvis. Das machte mich vielleicht nicht zu einem guten Menschen. Aber es machte mich zu einem Menschen.
»Was für Waffen?« hörte ich mich fragen. »Und wo ist das Pferd?« Es klang so kalt und herzlos - aber ich war nicht mehr in der Situation, zu jammern und zu winseln und mir leid zu tun.
Vaenris lachte. »Ja, das ist der Byron, den ich sehen wollte! Irgendein Schwert, nicht besonderes, ich hab es aus der Waffenkammer geholt. Nicht dein gutes, falls du das meinst - ich habe keine Ahnung, wo das nach dem Turnier hingekommen ist. Und irgendein Schild, ohne Wappen. Du willst nicht, daß dein Anblick schon von weitem ‘Fadar!’ schreit. Keine Rüstung - wenn die dir nicht richtig paßt, ist es schlimmer als ohne. Aber ich denke mal, das ist besser als nichts.«
Ich nickte. »Danke, das ist… Du bist eine große Hilfe, danke. Ich hoffe wirklich, daß du keinen Ärger bekommst.«
Vaenris grinste breit. »Oh, wenn das rauskommt, rollt mein Kopf. Aber glaub mir, das kommt nicht raus. Ich weiß, wie man Sachen auftreibt, ohne aufzufallen. Ist alles schon beim Pferd. Ich wollte nicht beladen wie ein Maultier in den Kerker marschieren - sonst wäre das auf jeden Fall jemandem aufgefallen. Also, kommst du?«
Wieder nickte ich. »Aber - was, wenn mich jemand sieht?«
Jetzt schnaubte Vaenris. »Ehrlich, Byron, gibt es irgendwas, worüber du dir mal keine Sorgen machst? Laß es einfach drauf ankommen! Mehr als hinrichten wird man dich schon nicht, also mach es doch einfach! Du hast nichts - nichts - nichts mehr zu verlieren, hörst du? Wenn man dich sieht, dann renn eben weg. Oder laß das dein Pferd tun. Aber hör auf zu jammern, ja?«
Ich biß die Lippen zusammen und war still. Er hatte so Recht. Je mehr Zeit wir jetzt vertrödelten, desto eher würde jemand hereinkommen, solange Vaenris noch hier in meiner Zelle war, und dann war die Gelegenheit vertan.
So schlich ich dann hinter meinem Vetter her, auf Zehenspitzen, durch den dämmrigen Zellentrakt. Mein Herz hämmerte noch lauter als mein Schädel. Hinter jeder dieser Türen saß jemand - ein Schuft, hätte ich früher gesagt, ein Mörder, vielleicht sogar schlimmeres. Aber nun mußte ich mich fragen, wie viele dieser armen Leute vielleicht unschuldig waren wie ich… Wie viele von denen, die ihr Leben hier verbrachten? Wie viele von denen, die mein Onkel hatte hinrichten lassen? Wie sollte ich noch wissen, was Recht war und was Unrecht? Ich stolperte und strauchelte über diesen Gedanken, und Vaenris zischte mich an.
»Paß gefälligst auf! Ich weiß, daß du längst wieder nüchtern bist, also mach hier keinen Krach!«
Ich nickte stumm. Es war so dunkel hier unten - draußen war es Nacht, aber selbst bei Tage fehlten die Fenster. Nur durch die vergitterten Fensterchen in den Zellentüren zu meiner linken fiel ein klein wenig Mondlicht auf den Gang. Neugierig versuchte ich hineinzuspähen - diese anderen Gefangenen, die nicht das Glück hatten, befreit zu werden, taten mir leid. Ich wollte ihnen Glück wünschen. Vaenris hätte das nicht verstanden. Er hatte es eiliger als ich, der das Ende des Ganges fast ebenso fürchtete wie die Flucht oder auf der anderen Seite ein Todesurteil - mein Gewissen war es, das mich zu den vergitterten Türen hinzog, als müsse ich mich bei jedem einzelnen dieser Männer persönlich entschuldigen, daß ich fliehen durfte und sie nicht. Am allerliebsten hätte ich Vaenris den Schlüssel abgenommen und jede dieser Zellen aufgesperrt - aber ich schwieg, schlich vorwärts, und erhaschte nur im Vorüberhasten den einen oder anderen Blick ins Innere einer Zelle, auf Männer, die auf ihren Steinpritschen lagen und schliefen -
bis ich plötzlich stehenblieb wie angewurzelt.
In einer Zelle saß ein Mädchen.
Sie schlief nicht. Sie saß unter dem kleinen Fenster, dort, wo das Licht auf den Boden traf, als badete sie in einem Mondstrahl. Ihr Gesicht war das traurigste, das ich jemals gesehen hatte. Und zugleich das allerschönste. Ihre Augen trafen meine. Ein Blick wie geschmolzenes Silber. Und er traf mich direkt ins Herz.
»Was ist?« fragte Vaenris ungeduldig und versuchte mich vorwärtszuziehen. »Steh hier nicht rum!«
Ich schüttelte den Kopf. Unschuldig oder schuldig, ein Mörder oder keiner, in meinem Herzen war ich immer noch ein Ritter. Und es gab Dinge, die konnte ich nicht zulassen. Nicht, wenn ich mir noch jemals in die Augen schauen können wollte. Ich wußte nicht, wer das Mädchen war, oder warum man sie eingesperrt hatte. Aber ich wußte, und nicht wovon, sie würde sterben, wenn sie an diesem Ort bleiben mußte.
»Gib mir den Schlüssel, Vaenris«, sagte ich.
Und dann sperrte ich ihre Zelle auf.

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