Erstes Kapitel

Music, when soft voices die, vibrates in the memory.
Percy Bysshe Shelley

Wälder hatten Namen. Das war neu für Keil. Er war immer davon ausgegangen, daß nur die Bäume selbst Namen hatten, wie alle Lebewesen. Aber er war auch noch nie in einem richtigen, alten Wald gewesen.
Früher, vor dem Aufbruch, in den ruhigen Jahren am Fluß, waren die Haine in den Auen Wälder für ihn gewesen. Erst jetzt hatte er gelernt, daß ein Wald mehr war als nur eine Ansammlung von Bäumen. Ein Wald als Ganzes war selbst so etwas wie ein Lebewesen, und die Bäume und Sträucher gehörten ebenso zu ihm wie die Tiere, die in ihm lebten - und die Alifwin. Der Name des Waldes war überwältigend. Es war der größte Name, den Keil jemals gehört hatte.
Eigentlich hatte er ihn überhaupt nicht wissen wollen. Er hatte doch nichts weiter getan, als unter einem Baum zu sitzen und auf seiner Flöte zu spielen, nicht einmal eine bestimmte Melodie, sondern eine, die ihm gerade in dem Moment einfiel. Woher sollte er auch wissen, was sie bedeutete? Es mußte wohl eine ziemlich mächtige Melodie sein. Und so verriet der Wald ihm seinen Namen.
Zuerst glaubte Keil, daß es nur der Baum war, unter dem er saß. Aber er kannte sich ein wenig mit den Namen von Bäumen aus. Kein Baum, egal wie alt und mächtig, konnte einen so gewaltigen Namen haben. Es war ein Name für einen Wald.
Keil versuchte, nicht daran zu denken. Er wollte keine Macht über den Wald. Ein Wald war eine Spur zu groß, um ihn zu beherrschen. Aber einen Namen, den er einmal kannte, konnte Keil nie wieder vergessen, ebensowenig wie die Melodie, die ihn seinem Besitzer entlockt hatte. Er mußte in Zukunft besser aufpassen, was neue Lieder anging. Das war nichts für jemanden, der so jung war wie er. Namen von Wäldern sollte man den Alten überlassen - wenn überhaupt. Sicher kannten die Alten des Waldvolkes den Namen. Ihre Barden waren so gut wie die des Flußvolkes, und Keil hoffte, noch einiges von ihnen zu lernen. Es war zu lange her, daß er zuletzt seinen alten Meister gesehen hatte. Aber obwohl Keil so jung war, hatte ihm Drachenfliege schon lange nichts Neues mehr beibringen können. Doch Keil hatte das Gefühl, daß es noch so vieles gab, das er nicht wußte. Er mußte unbedingt jemanden finden, der ihn noch mehr lehrte. Vielleicht konnte er dann eines Tages Barde beider Stämme werden, wenn sein Volk endlich in Sicherheit war und in Frieden in den Wäldern lebte.
Eigentlich war es gar nicht so schlimm, den Namen des Waldes zu kennen. Es gab Keil das Gefühl, selbst ein Teil des Waldes zu sein, obwohl er doch nur ein Fremder war. Schließlich würde er den Rest seines Lebens hier verbringen. Da war es sicher das Beste, den Wald vorher kennenzulernen. Und man konnte mit einem Namen viel mehr anfangen, als Macht über ein Wesen zu gewinnen, obwohl das natürlich verlockend war. Aber da Keil nicht wußte, was er dem Wald hätte befehlen sollen, gebrauchte er sein Wissen nur, um zu versuchen, ihn zu verstehen. Und das allein war schon mehr, als er jemals zu träumen gewagt hatte, als er noch ein kleiner Junge war und zum ersten Mal lernte, was man mit der Magie der Namen alles machen konnte, wenn man die richtigen Melodien kannte.
Der Wald war älter als alles, was Keil jemals getroffen hatte, und gleichzeitig war er so jung, als würde er mit jedem Tag neu geboren. Die ältesten Bäume mochten vielleicht ein paar tausend Jahre alt sein, aber der Wald selbst schien so alt wie die Zeit. Er war schon gewesen, als es noch die Hohen gab, und sogar davor. Und immer hatte er kleinen Geschöpfen Schutz geboten, die von größeren Geschöpfen gejagt wurden.
Kleines Geschöpf
, dachte der Wald, und damit hatte er sicher Recht. Die Alifwin mochten vielleicht, neben den Elben, das mächtigste Volk auf der Welt gewesen sein, bevor die Menschen kamen, aber für den Wald waren sie nichts weiter als harmlose kleine Geschöpfe. Geh spielen, kleines Geschöpf. Spiel, solange du kannst.
Keil spürte, daß der Wald ihn mochte, oder zumindest seine Musik. Deswegen verbrachte er nun, solange es niemanden gab, der ihm etwas beibrachte, seine Tage in einem ruhigen Winkel und spielte auf seiner Flöte für den Wald. Der Wald war ein guter Zuhörer.

Ob er wußte, daß dies ihr Baum war, gepflanzt von ihren Eltern, als sie geboren wurde, so wie es Sitte war im Waldvolk? Jeder hatte einen Baum, für den er verantwortlich war und den er beschützte. Es war ein Teil der Jahrtausende alten Bindung zwischen den Alifwin und dem Wald. Der Wald gab den Alifwin alles, was sie brauchten, und sie hüteten ihn vor Gefahr. So war es immer gewesen. Aber es konnte nicht mehr so bleiben. Mit den Jahren war Schwinges Buche groß und schön geworden. Und ihre Eltern waren tot.
Vermutlich wußte er es nicht. Er lehnte unten am Stamm und war so sehr in sein Spiel vertieft, daß er sie gar nicht zu bemerken schien. Schwinge fragte sich, ob Keil der Erste Barde seines Stammes war. Natürlich war er noch sehr jung, aber sie hatte lange niemanden mehr so schön spielen hören. Die Flöte wirkte wie ein Teil von ihm; sie schien direkt aus seinen Lippen zu wachsen. Oder war er ein Teil der Flöte? Die Melodie, die er spielte, klang fremdartig. Sie war traurig, aber nicht schwermütig. Die Töne waren so leicht, daß sie noch in der Luft hingen, während ihnen schon die nächsten gefolgt waren. Fast glaubte Schwinge, die Musik sehen zu können.
»Du spielst schön, Keil«, sagte sie.
Er ließ die Flöte sinken und sah auf. »Danke.« Seine Augen waren blau, wie es bei seinem Volk häufig vorkam. Ihr Volk hatte grüne Augen und blonde oder braune Haare. Keils Haare waren fast weiß, mit einigen silbergrauen Strähnen. ‘Frostfarben’ nannte er es. Bei seinem Volk, das in den Flußauen beheimatet war, schien das normal zu sein.
Vor einigen Monaten, als es Winter wurde, war er mit einigen Jägern in den Wäldern angekommen. Sie hatten ihren Stamm verlassen, um einen neuen Platz zu finden, an dem das Flußvolk leben konnte.
»Ich mag euren Wald«, sagte Keil. »Bei uns gibt es nicht so viele Bäume. Ihr müßt sehr glücklich sein.«
Schwinge schüttelte heftig den Kopf. »Sie versuchen, den Wald zu zerstören«, erwiderte sie. »Sie haben meine Eltern getötet. Sie töten alles.«
»Ich weiß«, sagt Keil leise. Dann schwieg er für eine Weile und drehte die Flöte in den Händen. Zögernd, als fürchte er, Schwinge mit seinen Worten zu verletzen, fügte er schließlich hinzu: »Es wäre schön, wenn unser Volk in eurem Wald leben könnte. Die Wälder sind noch immer am sichersten. Hier können wir uns vor den Menschen schützen.«
»Menschen?« Sie mochte das fremde Wort nicht, und es auszusprechen, kostete sie Überwindung. Es war häßlich: hart und schwer.
»So nennen sie sich. Sie haben keinen anderen Namen, also verwenden auch wir dieses Wort. Wußtest du das nicht?«
»Selbst wenn, würde ich doch niemals einen Feind so nennen wie er sich selbst. Wie auch immer sie heißen mögen, ich nenne sie Eindringlinge oder Fremde. Oder einfach nur Feind.« Sie trat wütend in das feuchte Laub, so daß die Blätter in die Luft stoben. »Ihr nennt sie bei ihrem eigenen Namen. Ihr flieht vor ihnen und laßt ihnen euer Land, statt gegen sie zu kämpfen. Jetzt wollt ihr euch in den Wäldern vor ihnen verstecken. Weißt du, was ihr seid? Ihr seid feige, du und dein ganzer Stamm!«
»Es ist nicht feige, das Überleben seines Volkes zu sichern.« In Keils Stimme lag keine Leidenschaft, sie klang so leise und sanft wie seine Flöte. »Wenn wir gegen sie kämpften, würden viele von uns getötet. Hier im Wald sind wir sicher. Die Menschen sind noch nie in das Innere der Wälder vorgedrungen. Wenn die Alifwin zurückziehen, dann können sie so weiterleben wie bisher. Die Alten sind der gleichen Meinung. Es wäre falsch, zu kämpfen. Die Menschen sind zu starke Gegner. Alles was wir wollen ist, in Frieden zu leben.«
»Es ist kein Frieden, wenn man im Versteck leben muß! Kein Frieden ist es wert, daß man für ihn seine Freiheit verliert! Wenn die Pläne der Alten umgesetzt werden, kann keiner von jemals wieder den Wald verlassen.«
Keil antwortete nicht. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und nahm seine Melodie wieder auf. Schwinge sah ihn geringschätzig an, dann schulterte sie ihren Bogen und setzte ihren Weg durch den Wald fort. Sie wußte, daß Keil und die Alten Unrecht hatten. Die Alifwin waren die Kinder der Hohen, welche einst die Welt beherrscht hatten. Sie sollten sich nicht verstecken, sondern um ihre Freiheit kämpfen. Aber es war alles beschlossen. Bald würden Keil und die Jäger zurückreisen, um das Flußvolk in die Wälder zu führen. Dann würden die Alifwin zwar vereint sein, aber nie wieder frei.
Die Alifwin hatten Magie, und ihre Waffen waren stark. Warum konnte man damit nichts gegen den Feind ausrichten? Es mußte doch eine Möglichkeit geben!
Wütend schoß Schwinge einen Pfeil in die Luft: Erzittere, Feind! Vielleicht würde er einen von ihnen durchbohren, wo immer er landen mochte. Aber es reichte schon, wenn sie ihn fanden und wußten, daß sie sich in Acht nehmen mußten vor dem Zorn der Alifwin.
Schwinge brach die Jagd ab und machte sich auf den Heimweg. Ein zorniger Jäger war ein schlechter Jäger, hieß es. Und sie wollte keine weiteren Pfeile verschwenden. Als sie ins Dorf kam, sah sie, daß die Alten wieder eine Versammlung abhielten. Früher war das etwas Seltenes gewesen, aber seit die Leute vom Flußvolk gekommen waren, gab es immer wieder Beratungen. Zum Glück waren unter den Alten immer noch einige, die nicht einverstanden waren mit den Plänen der anderen. Schwinge hockte sich in einiger Entfernung hin und versuchte, der Diskussion zu folgen. Es war nicht weiter schwer, die Zusammenhänge zu verstehen. Natürlich sprach man wieder über das übliche Thema.
»Die Menschen werden nicht plötzlich glauben, daß die Alifwin aus der Welt verschwunden sind! Sie werden uns suchen, und dann sind auch die Wälder nicht mehr sicher genug. Wenn sich euer Volk bei unserem versteckt, werden nur die Menschen in die Wälder gelockt«, sagte ein alter Jäger. Schwinge wußte, daß er Recht hatte, aber es erschreckte sie zu hören, daß selbst er die Feinde jetzt schon als Menschen bezeichnete.
»Also sollen wir unser Volk opfern, nur damit sie nicht auf die Idee kommen, daß es noch an anderen Orten Alifwin gibt, die sie töten können? Unser Volk für eures?« Das war einer der Jäger vom Fluß.
»Was soll das heißen, unser Volk und euer Volk? Wir sind ein Volk, und die Menschen können uns nur dann vernichten, wenn wir unsere Einigkeit verlieren! Wir sind Alifwin, und es muß einen Ort geben, an dem wir alle in Frieden leben können.«
Schon wieder sprachen sie vom Frieden. Merkte denn keiner, auf was das hinauslief? Würde es entweder einen Krieg unter den Alifwin geben oder verstecktes Leben ohne Freiheit bis zum Ende aller Tage? Warum dachte niemand mehr daran, als ein Volk gemeinsam die Feinde zu schlagen? Was war aus den Jägern geworden? Ein Barde wie der junge Keil mochte sich vielleicht Frieden wünschen, aber niemand brachte Barden bei, wie man kämpfte. Die Jäger waren in alten Zeiten Krieger gewesen; sie hatten über die Zwerge gesiegt. Sie würden auch ein weiteres Mal siegen.
Aber auch Schwinges Eltern waren Jäger gewesen, sie hatten gewußt, wie man kämpft, und doch waren sie brutal niedergemetzelt worden. Man hatte sie am Rand des Waldes gefunden, durchbohrt von eisernen Schwertern. Damals war Schwinge selbst nur ein kleines Mädchen, doch sie hatte geschworen, eines Tages ihre Eltern zu rächen. Niemals würde es den Menschen gelingen, endgültig die Herrschaft über die Welt zu erlangen! Selbst, wenn sie alleine ausziehen mußte, um die Feinde zu schlagen.
Schwinge ertrug es nicht mehr, diesen Feiglingen zuhören zu müssen. Sie erhob sich und trat an den Kreis. »Ich möchte bitte reden«, sagte sie beherrscht. In ihr kochte die Wut, aber sie hatte schon lange gelernt, ihre Gefühle zu verbergen.
»Sprich, Jägerin«, antwortete Hirsch, der Älteste. Er war selbst einmal ein Jäger gewesen, aber er war schon weit über tausend Jahre alt. Schwinge konnte sich nicht erinnern, daß er jemals gejagt hatte, seitdem ihre Kindheit vorbei war.
»Ich habe mir angehört, was ihr gesagt habt. Ihr denkt vielleicht wie weise alte Leute, aber nicht mehr wie Jäger, keiner von euch. Vor allem die nicht, die einmal Jäger waren.« Sie durfte nicht vergessen, daß es mehr Alifwin gab als nur die Jäger. Niemand erwartete von den Bauern oder Handwerkern, daß sie wie Krieger dachten. »Was ist aus dem Volk geworden, daß wir einmal waren? Ob wir mit oder ohne Flußvolk hier leben, die Feinde werden eines Tages in unsere Wälder eindringen, wenn sie sich noch weiter ausbreiten. Wir sind hier nicht sicher! Was würden die Hohen sagen, wenn sie sehen müßten, wie ihre mächtigsten und klügsten Kinder anfingen, sich zu verstecken wie die Feen in ihrem Wald?«
»Setz dich, Schwinge«, sagte die älteste Bardin, Merle. Ihre Stimme klang leise und müde. Wahrscheinlich würde sie bald aufhören zu leben. Dann mußte sie nicht mehr dabei sein, wenn die Alifwin untergingen. »Du bist noch jung, aber dies ist etwas, über das auch die Jungen entscheiden müssen. Deine Worte waren vielleicht etwas unüberlegt, aber deutlich. Und auf eine gewisse Weise hast du Recht. Die Hohen hätten nicht gewollt, daß sich ihre Kinder schutzlos verstecken. Darum haben sie den Feen ihren Wald gegeben oder den Elben ihre Festen. Aber die Hohen sind nicht mehr da, um uns zu beschützen. Und wir haben nicht die Macht, gegen die Menschen zu kämpfen. Sie sind nicht von dieser Welt. Wir können sie nicht besiegen, auch wenn das in deinen jungen Augen feige erscheinen mag. Dennoch werden wir über das nachdenken, was du gesagt hast.«
Es war ein Fehler gewesen, zu der Versammlung zu sprechen. Schwinge hatte nur die Wahrheit gesagt, aber zum Dank wurde sie zurechtgewiesen wie ein Kind. Jetzt wäre sie am liebsten aufgestanden und weggegangen, um erst einmal niemanden sehen zu müssen. Aber nachdem man sie einmal aufgefordert hatte, sich zu setzen, wäre das eine Beleidigung. Nun mußte Schwinge bleiben bis zum Ende, aber niemand würde erwarten, daß sie noch einmal etwas sagte. Sie mußte die Entscheidung über ihre Zukunft denen überlassen, die vielleicht gar nicht mehr betroffen davon waren. Doch Schwinge schuldete ihren Eltern etwas. Sie würde nicht dabeisitzen und schweigen. Alle Augen richteten sich auf sie, als sie aufstand und das Wort ergriff.
»Wenn die Alifwin die Lieblingskinder der Hohen waren, warum haben wir dann nichts von ihnen bekommen? Wenn die Feen ihren Wald haben und die Elben ihre Festen, wie du gesagt hast, was ist dann mit den Alifwin? Wie konnten die Hohen sie einfach schutzlos zurücklassen, als sie gegangen sind? Ich sage, sie haben uns nicht schutzlos zurückgelassen! Sie haben uns vielmehr die Macht gegeben, uns selbst zu retten, indem wir unsere Feinde besiegen. Wir müssen es nur versuchen.«
Sie spürte die Blicke der anderen in ihrem Rücken, als sie sich umdrehte und ging.
Erst, als die Sonne unterging, kehrte sie ins Dorf zurück. Es hatte geholfen, alleine durch den Wald zu laufen, aber nicht viel. Noch immer spürte sie einen Zorn in sich, der allein für drei gereicht hätte, und sie hatte nicht das Gefühl, als ob er jemals erlöschen könne. Zu allem Überfluß saß Keil immer noch am Fuße ihres Baumes und spielte auf seiner Flöte. Vermutlich hatte er den ganzen Tag lang nichts anderes getan. Zunächst schien er so sehr in seine Musik vertieft, daß er nichts anderes wahrnahm, aber als sie sich ihm näherte, blickte er auf. »Man hat nach dir gesucht.«
»Ich weiß.«
»Sie sind wütend auf dich.«
»Ich weiß.« Am liebsten hätte sie ihn angeschrien. Vielleicht war er ein guter Barde, aber nicht unbedingt klug. Nein, er war nicht direkt dumm, aber so naiv, daß es schon fast weh tat. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?
»Warum ziehst du nicht einfach los und bekämpfst die Menschen?« fragte er, ohne daß sein Lächeln verlosch. »Du sagst, du möchtest nicht auf alle Zeiten in diesem Wald bleiben müssen. Hast du ihn überhaupt schon einmal verlassen, als du es noch gekonnt hast?«
»Es gibt genug Wild im Wald. Ich bin schon am Waldrand gewesen.« Der Wald alles, was man sich an Welt wünschen konnte.
»Hast du jemals einen Fluß gesehen? Ich meine nicht euren Bach. Ich meine einen richtigen, strömenden Fluß. Bist du schon einmal in den Bergen gewesen? Hast du überhaupt schon einmal einen Menschen getroffen? Du solltest nicht sagen, daß du etwas verlierst, wenn du es nie besessen hast. Ihr verliert eure Heimat nicht. Wir verlieren unsere, und du mußt nicht glauben, daß es uns nicht leid darum tut. Aber wir wissen, warum wir es tun müssen.«
Doch Schwinge war nicht nach einer Diskussion zumute. Sie wandte sich ab und ging ins Dorf. Es reichte, daß sie den Zorn der Ältesten erregt hatte. Da konnte sie auf das Geschwätz eines naseweisen Barden verzichten. Keil blickte ihr einen Moment lang schweigend nach, dann setzte er die Flöte an die Lippen und griff seine Melodie wieder auf.

Es kam etwas unerwartet für Keil, als er zwei Tage später zur Versammlung der Ältesten gerufen wurde. Sie hatten sich eigentlich nicht um ihn gekümmert, seit er im Herbst angekommen war. Aber vielleicht war ihnen nun aufgefallen, daß er keine andere Beschäftigung hatte, als im Wald zu flöten, und sie würden ihn mit einer ihrer nach Ansicht sinnvolleren Aufgabe betrauen. Er war alt genug, um die Pflichten eines Erwachsenen zu erfüllen. Wenn er Glück hatte, konnten ihm die Barden des Waldvolkes etwas Neues beibringen. Aber wenn sie schon genug Barden hatten, dann konnte er ebenso gut auf die Felder geschickt werden.
Nervös drehte Keil seine Flöte in den Händen, als er im Kreis der Alten stand und ihre Blicke auf sich spürte. Immerhin schienen sie ihm freundlich gesonnen zu sein.
»Warum habt ihr mich gerufen?« fragte er zaghaft.
»Du zeigst ein außerordentliches Talent«, sagte der Älteste.
Keil verneigte sich dankbar. Das klang nicht nach Feldarbeit. »Aber ich habe noch nicht einmal ausgelernt.« Vielleicht verstanden sie den Wink.
»Wir wissen, daß du über Fähigkeiten verfügst, die über unsere weit hinausgehen«, sagte Merle, die alte Bardin. »Ich denke nicht, daß ich dich noch etwas lehren könnte. Es ist nicht nötig, junger Keil, verstehst du? Du hast die Melodien bereits in dir, und nur die Hohen wissen, wie es dazu kommt. Wenn es an der Zeit ist, wirst du spielen können, was immer du willst. Du mußt nichts mehr lernen.«
»Aber ich möchte es gerne. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich schon alles weiß!« rief Keil.
»Du kennst den Namen des Waldes«, sagte Merle. Das war eine Feststellung.
»Woher weißt du das?«
»Ich habe dein Spiel gehört in den letzten Wochen. Ich kenne die Lieder, mußt du wissen. Aber ich bin die einzige. Niemand außer mir könnte sie dir beigebracht haben. Und doch kennst du sie. Es gehört viel Kunst dazu, einem Wald seinen Namen zu entlocken.«
»Aber ich wollte es gar nicht! Es ist einfach so passiert. Ich habe die Melodie gespielt, ohne zu wissen, was sie bedeutete. Vielleicht habe ich sie wirklich in mir, aber dann ist es um so wichtiger, daß ich lerne, damit ich sie nicht zur falschen Zeit spiele.«
»Du wirst sie nicht zur falschen Zeit spielen. Die Melodien kommen heraus, wenn es die richtige Zeit für sie ist. Du darfst keine Angst vor ihnen haben. Ich könnte dir vielleicht beibringen, mit ihnen umzugehen, aber dazu reicht die Zeit nicht.«
Weshalb reichte die Zeit nicht? Wußte die alte Frau, daß sie sterben würde? Erwarteten sie etwa von ihm, daß er ihren Platz übernahm? Es mußte irgendeinen Grund geben, daß sie seine Fähigkeiten so lobten. Aber er hatte nicht daß Gefühl, wirklich so gut zu sein. Und er war noch viel zu jung!
»Wir haben eine Aufgabe für dich«, sagte Hirsch. »Wir wissen, daß du noch ausgesprochen jung bist, aber sie erfordert einen ausgezeichneten Barden, der gleichzeitig noch über die Kraft der Jugend verfügt. Außer dir gibt es niemanden, der geeignet ist.«
»Was soll ich tun?« fragte Keil.
»Erst einmal sollst du dich setzen, junger Barde.« Merle rutschte ein Stück zur Seite, und Keil nahm neben ihr Platz. »Ist die Jägerin Schwinge hier?« fragte sie dann.
Schwinge trat vor. »Das bin ich. Ihr habt mir befohlen, zu kommen.« Ihre Stimme und Haltung waren ruhig und beherrscht, aber aus ihren Augen sprach noch immer der Zorn.
»Was wir dir zu sagen haben, dürfte ganz in deinem Sinne sein«, sagte Eichel. »Aber nimm zuerst Platz. Hör zu.«
»Als es die Hohen noch gab«, begann Merle, »waren sie die Herrscher über die Welt. Niemand weiß, warum sie gegangen sind. Aber sie haben es freiwillig getan. Es war niemand da, der sie vertrieben hätte, und niemand hat ihnen ihre Macht genommen. Sie verschwanden einfach und vermachten die Welt den Feen, den Elben und den Alifwin. Den Elben hinterließen sie eine mächtige Festung, Doluadilan, nach deren Vorbild später weitere erbaut wurden, und den kleinen Feen einen magischen Wald, in dem sie sicher waren. Nun hast du, Schwinge, auf der letzten Versammlung etwas sehr Wichtiges gesagt, das alte Erinnerungen weckte, Erinnerungen an Geschichten, die schon fast in die Zeit der Legenden zurück reichen. Du sagtest, die Hohen müßten den Alifwin etwas Vergleichbares hinterlassen haben. Und das haben sie. Von den Kindern der Hohen waren es die Alifwin, die ihre Liebe zur Musik erbten. Sicher, auch die Elben machen eine Art von Musik, aber sie wissen nicht, welche Magie ihr innewohnt. Über diese Kräfte verfügen nur die Alifwin. Und darum waren sie es, denen die Hohen ihre Instrumente hinterließen - nicht irgendwelche Instrumente, müßt ihr wissen, sondern Instrumente der Macht. Vielleicht war es den Alifwin bestimmt, mit ihrer Hilfe über die Welt zu herrschen. Aber die Geschichtsschreibung aus jenen Tagen ist so dunkel wie das Geheimnis um das Verschwinden der Hohen. Nichts ist bekannt darüber, warum die Alifwin ihr Erbe niemals angetreten haben oder was aus den Instrumenten wurde. Möglicherweise haben die Hohen sie mitgenommen, als sie gegangen sind. Die Zeit hat einen Schleier des Vergessens über die Welt gelegt, und alles, was ich über die Instrumente weiß, sie sind Bruchstücke eines alten Liedes, das ich einmal gehört habe, als ich ein junges Mädchen war. Aber ich habe es niemals gesungen, denn ich weiß zu wenig von den Worten, um eine Melodie daraus zu machen. Nur an soviel kann ich mich erinnern:

Eine Harfe aus Laub,
eine Trommel aus Stein,
eine Flöte aus Eis,
eine Laute aus Bein.

Und an einer anderen Stelle heißt es:

Auf der Trommel spielt die Zeit,
auf der Laute spielt das Leid,
auf der Harfe spielt das Licht -
auf der Flöte spielt man nicht.

Das ist alles, was ich euch über die Instrumente der Hohen sagen kann. Es ist nicht viel. Und es scheint immer irgendein Geheimnis um sie gewesen sein, wenn man sich ansieht, was das Lied über die Flöte sagt. Selbst, wenn wir die Instrumente hätten, könnten wir nicht darauf spielen, fürchte ich. Aber sie sind Artefakte der Hohen, und sie würden uns in unserem Wald vor den Menschen schützen. Das ist eure Aufgabe, Keil und Schwinge. Ihr sollt ausziehen und diese Instrumente zu uns bringen. Es mag unmöglich klingen, aber es ist unsere größte Hoffnung.«
»Aber diese Instrumente sind der Schlüssel zur Herrschaft über die Welt!« rief Schwinge. »Wenn wir sie hätten, bräuchten wir uns nicht in diesem Wald zu verstecken. Es wäre uns ein Leichtes, all unsere Feinde für immer zu vernichten - nicht nur die Eindringlinge, sondern auch die Zwerge und die Trolle.«
»Nein«, sagte Merle ruhig. »Das könnten wir nicht. Unsere Zeit ist vorbei. Alles, was uns übrig bleibt, ist, uns in diesem Wald zu verbergen, geschützt von der Macht der Hohen. Nur so können wir weiterleben, wie wir es seit Jahrtausenden getan haben. Um uns herum hat sich die Zeit geändert. Wir können ihr keinen Einhalt gebieten. Und die Menschen haben ebenso einen Platz in ihr gefunden wie unsere alten Feinde, die Unterirdischen. Wir wollen die Macht der Instrumente nur zu unserem Schutz nützen, nicht, um Geschehenes ungeschehen zu machen. Niemand darf in den Lauf der Dinge eingreifen! In den nächsten Tagen werden die Jäger des Flußstammes wieder losziehen, um den Rest ihres Volkes - unseres Volkes - in die Wälder zu führen. Und ihr beide werdet gehen und die Instrumente finden. Wir setzen große Hoffnung in euch.«
»Aber - warum gerade ich?« fragten Keil und Schwinge gleichzeitig. Merle seufzte.
»Ich dachte, wir hätten es erklärt. Keil, weil es die Aufgabe eines Barden ist, magische Instrumente zu finden. Und Schwinge, weil Keil keine Möglichkeiten hat, sich zu verteidigen, wenn er angegriffen werden sollte. Er braucht einen Jäger an seiner Seite, der ihn vor Gefahren schützt und dafür sorgt, daß ihr etwas zu essen habt. Von Musik allein kann niemand leben.«
»Aber warum mich?« fragte Schwinge. »Es gibt so viele gute Jäger.«
»Du gehörst zu den Besten. Und außerdem sind wir übereingekommen, daß es für uns alle das Beste ist, wenn du mit ihm gehst. Du hast unmißverständlich klar gemacht, daß du nicht tatenlos hier bleiben könntest. Es war dein Vorschlag, loszuziehen und etwas zu unternehmen. Diese Möglichkeit bieten wir dir.«
Aber der Blick, den Hirsch Schwinge bei diesen Worten zuwarf, besagte noch ganz andere Sachen: Nämlich, daß sie wegen ihrer ungezügelten Vorwürfe in Ungnade gefallen war, und daß die Ältesten auch froh waren, die vorlaute Mahnerin für einige Zeit los zu sein. Und es würde einige Zeit dauern, diesen hoffnungslosen Auftrag auszuführen. Wenn man seit Tausenden von Jahren nichts mehr von den Instrumenten gehört hatte, warum sollten dann gerade Schwinge und er sie alle finden?
»Es gibt noch einen Grund, aus dem ihr die Instrumente finden müßt«, sagte der alte Jäger. »Wenn sie - und sei es durch Zufall - unseren Feinden in die Hände fielen, wären nicht nur wir verloren, sondern auch alle anderen Hohen Völker. Darum müßt ihr nach Möglichkeit alle vier finden. Findet sie, bevor es zu spät ist.«
»Aber wo sollen wir mit unserer Suche anfangen?« fragte Keil. Er hätte noch viele andere Fragen gehabt, aber diese erschien ihm im Moment am wichtigsten erschien. »Wir haben keine Anhaltspunkte außer diesem Lied. Gibt es sonst wirklich nichts, was uns Aufschluß geben könnte darüber, wo die Instrumente sind? Es würde sehr lange dauern, die ganze Welt auf der Suche nach ihnen zu durchkämmen.«
Merle lachte. »Wir wissen in der Tat nicht mehr, als das, was wir euch gesagt haben, junger Barde. Aber es gibt andere, die euch vermutlich weiterhelfen können. Zu ihnen solltet ihr als ersten reisen. Sie sind die einzigen, die sich noch an die Zeit der Hohen erinnern können.«
»Von wem sprichst du?« fragte Schwinge verwirrt und wohl auch etwas verärgert, weil sie eine direkte Antwort erhofft hatte.
Aber Keil hatte schon verstanden. »Du meinst die Zauberer«, sagte er. Die Alte nickte.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach dem ruhigen Winter wieder aufzubrechen. Erst hatte Keil sein ganzes Leben an ein und demselben Fluß zugebracht, und dann war er innerhalb von weniger als einem Jahr um die halbe Welt gereist. Jetzt würde er die andere Hälfte sehen.
Aber es war etwas anderes, ob er mit sechs älteren und erfahreneren Jägern unterwegs war oder mit einer einzigen, die noch niemals ihren Wald verlassen hatte. Aber die Alten hatten sich schon irgend etwas dabei gedacht.
Trotzdem - zu erwarten, daß sie Erfolg haben würden … Es gab keinen Anhaltspunkt, nichts, keinen Hinweis auf den Verbleib der Instrumente. Und man konnte zwar leicht sagen ‘Fragt die Zauberer um Rat’. Natürlich mußten die Zauberer Bescheid wissen. Aber es gab nur so wenige! Einen von ihnen aufzutreiben, der bereit war, zu helfen, würde schwierig genug sein.
»Eure Suche wird nicht so schwer sein, wie sie im Moment aussieht«, sagte Merle, als er ihr seine Besorgnis mitteilte. »Vor weniger als dreihundert Jahren noch hat einmal ein Zauberer unseren Wald aufgesucht. Er war den Alifwin wohlgesonnen, und was vielleicht noch wichtiger ist, er interessierte sich für das Verschwinden der Hohen und könnte einiges darüber wissen. Damals lebte er zusammen mit seinem Bruder in der Nähe einer Menschensiedlung, nordwestlich von hier. Es ist anzunehmen, daß sie noch immer dort wohnen, denn alle Zauberer sehnen sich nach Beständigkeit und Ruhe für ihre Forschungen. Es ist nicht ihre Art, rastlos umherzuziehen, ohne einen festen Ort zu haben, an den sie zurückkehren können.«
»Aber warum gerade bei einem Menschendorf?« fragte Keil.
»Das kann ich dir nicht genau sagen, mein Kind«, antwortete die Bardin. »Ich glaube, sein Bruder stellte Forschungen über die Menschen an, und man kann sie am besten beobachten, wenn man in ihrer Nähe ist. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit: Zauberer haben gerne alles unter Kontrolle, sogar die Menschen. Damals hatten die sich noch nicht so sehr ausgebreitet wie heute und lebten in erster Linie in der Küstengegend. Niemand konnte ahnen, wie sie sich entwickeln würden.« Merle seufzte. »Aber daran ist jetzt auch nichts mehr zu ändern. Findet die Instrumente, das ist das Wichtigste. Ich werde euch eine Karte zeichnen, mit der ihr diesen Zauberer finden könnt. Wenn er nicht mehr dort ist, hat er vielleicht eine Spur hinterlassen, die zu ihm oder einem anderen Zauberer führt. Sein Name ist Galfas. Bestimmt ist er bereit, euch zu helfen.«
»Und wenn wir ihn nicht finden?« fragte Keil.
»Dann seid ihr auf euch selbst gestellt. Vielleicht könnten die Elben euch weiterhelfen. Möglicherweise auch die Feen, obwohl ich das nicht glaube. Aber du darfst die Hoffnung niemals aufgeben, Keil. Und -«, die Alte machte eine Pause, bevor sie fortfuhr: »Was auch immer geschieht, habe Selbstvertrauen, Keil. Du hast eine Magie, die stärker ist als meine oder irgendeine andere, von der ich gehört habe. Vergiß das nicht. Darf ich bitte dein Instrument sehen?«
Keil gab seine Flöte nur selten aus der Hand; seit er sie geschnitzt hatte, trug er sie immer bei sich. Noch nie hatte jemand anderes darauf gespielt, bis zu diesem Moment. Merle spielte eine kleine Melodie, die Keil noch nie zuvor gehört hatte.
»Eine sehr schöne Flöte«, sagte Merle dann. »Und du hast sie mit Liebe gemacht, das spüre ich. Besitzt du noch andere Instrumente? Es ist ungewöhnlich, daß ein Barde immer nur die Flöte spielt. Zu einer Harfe könntest du auch singen.«
»Meine Mutter besitzt eine Harfe, auf der ich früher manchmal gespielt habe. Es ist ein feines Instrument, aber …«, Keil wußte nicht recht, wie er es erklären sollte, »die Flöte ist das, was ich wirklich fühle. Ich kann mich mit ihr am besten ausdrücken. Und sie ist viel leichter mitzunehmen«, fügte er schnell hinzu.
»Das verstehe ich«, meinte Merle und nickte. »Ich möchte dir ein Geschenk machen, Keil.« Sie reichte ihm einen Beutel aus weichem blauen Stoff, der neben ihr lag. »Schau hinein.«
Der Beutel enthielt zwei Flöten, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Die kleinere von beiden, gerade einmal so lang wie Keils Hand, war aus einem Knochen geschnitzt, jedoch so kunstvoll, daß nur noch das Material den Ursprung verriet: Die Form selbst war so glatt und gerade, daß Keil unmöglich sagen konnte, welches Tier diesen Knochen einmal irgendwo getragen hatte. Die andere Flöte war ein Stück länger, aber dünner, und ganz aus Silber. Um die Löcher war sie mit wunderschönen Ornamenten verziert. Keil hatte noch nie etwas Derartiges gesehen und konnte nicht anders, als ein paar Töne auf ihr zu spielen. Der Klang war hoch und süß, wie das Singen eines Vogels. Merle sah ihm zu und lächelte.
»Die Elben haben sie gemacht, nicht wahr?« fragte Keil. »Nur sie können derartig gut mit Silber umgehen.« Alle Silberarbeiten, die er kannte, waren elbischen Ursprungs. Die Alifwin waren keine guten Schmiede. Sie arbeiteten lieber mit gewachsenem Material, in dem noch eine Erinnerung an das frühere Leben steckte - so wie in der Knochenflöte.
»Vor langer, langer Zeit. Ich habe sie bekommen, als ich so alt war wie du, aber ich gebe sie dir gerne. Mein persönliches Instrument war immer die Harfe. Die andere Flöte hat einmal einem Jäger gehört, der im Kampf mit einem wilden Bären tödlich verwundet wurde. Ich hatte sie für ihn gemacht, und darum wollte er, daß ich sie zurückbekomme. Zunächst hatte ich überlegt, sie Schwinge zu geben. Aber es ist besser, wenn du beide Flöten bekommst.«
»Das ist sehr lieb von dir«, sagte Keil, »und es sind wunderschöne Instrumente, aber ich bin sehr glücklich mit meiner Flöte. Ich brauche keine anderen.«
»Ich habe gewußt, daß du das sagen würdest. Aber du solltest alle drei Flöten spielen. Die Melodien bekommen unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem, auf was für einem Instrument du sie spielst. Jede Flöte hat eine andere Seele. Und auf einer Flöte aus Silber wirst du andere Lieder spielen können als auf eine Flöte aus Holz oder Knochen, und umkehrt. Es ist ein Teil deiner Magie. Darum nimm sie. Auch wenn deine Holzflöte sehr schön ist - du mußt lernen, auch auf fremden Instrumenten zu spielen.«
Keil verstand, was sie meinte. Es ging nicht darum, daß die Elbenflöte das Wundervollste war, worauf er jemals gespielt hatte, und daß er fast das Gefühl hatte, als habe sie nur auf ihn gewartet. Dies gehörte zu dem, was jeder Barde lernen mußte und was Drachenfliege ihm noch nicht beigebracht hatte. Merle hatte sich also entschlossen, in der kurzen Zeit, die ihm bis zum Aufbruch noch blieb, seine Wissenslücken zu schließen.

Am Tag ihres Aufbruchs regnete es, was nicht gerade dazu beitrug, Schwinges Stimmung zu heben. Sie wußte nur zu gut, warum man sie auf diese Reise schickte - es war fast eine Verbannung. Ihre allzu freimütigen Äußerungen hatten nicht ausgereicht, um sie offiziell aus der Gemeinschaft auszuschließen, aber praktisch tat man genau das. Niemand gab sich Mühe, es zu verbergen. Sie war nichts weiter als die Beigabe, um den auserwählten Barden zu beschützen. Jeder andere hätte es ebenso gekonnt.
Und doch bedeutete es, daß man ein gewisses Vertrauen in ihre Fähigkeiten setzte. Alleine oder in Begleitung eines unfähigen Jägers konnte ein verträumter Barde innerhalb des ersten Tages von Wölfen gefressen werden. Und Keil war das Inbild eines verträumten Barden. Er schien als einziger nicht begriffen zu haben, warum man ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Sein immer wieder gefragtes »Aber warum gerade ich?« hatte nichts mit einem Fischen nach Lob zu tun, sondern entsprang ehrlichem Unglauben.
Die Frage war, wie sie auf ihrer Suche miteinander auskommen würden. Ohne Zweifel würden sie eine lange Zeit fort sein, und es war wichtig, daß sie eng zusammenarbeiten konnten. Sie mußten sich gegenseitig die Gemeinschaft ersetzen. Schwinge hatte noch nie ihren Stamm verlassen, auch wenn sie auf der Jagd manchmal einige Tage lang alleine unterwegs war. Sie würde die Gesellschaft von Keil brauchen.
Es gab einige andere Dinge, über die Schwinge sich ärgerte. Warum mußten sie zum Beispiel große Mengen an Dörrfleisch in ihrem ansonsten knapp bemessenem Gepäck herumtragen, wenn sie ihre Nahrung auch erjagen konnte? Natürlich durfte sich nicht damit rechnen, überall Wild zu finden, aber es gab auch noch genug genießbare Pflanzen und Pilze. Doch sie beschwerte sich nicht. Da sie noch niemals den Wald verlassen hatte, konnte sie nicht mitreden, was das Planen von Reisen anging. Das überließ sie den erfahrenen Jägern aus Keils Stamm, die ihre eigene Rückreise vorbereiteten und zur gleichen Zeit aufbrechen wollten.
Schwinge zog ihren Fellumhang fester zusammen, damit er den Regen abhielt. Zwar war der lange Winter endlich zu Ende gegangen, und die hellen Tage des Frühlings brachten wieder Licht, aber manchmal war es immer noch recht kalt. Dies war ein solcher Tag. Wenn sie weniger überstürzt aufgebrochen wären, hätten Schwinge und Keil sicherlich auf einen wärmeren sonnigen Tag warten können. Aber in der langen Zeit, die ihre Suche dauern würde, mußte es auch Regen geben. Vielleicht war es am Besten, wenn sie sich von Anfang an daran gewöhnten. Und ob sie nun bei ihrem Dorf im Regen jagte oder in irgendeinem anderen Wald, machte keinen großen Unterschied.
Ihren Langbogen hatte sie auf dem Rücken befestigt, aber ohne seine Sehne wirkte er tot, wie ein Skelett. Wenn sie angegriffen wurden, mußte sie sich mit ihrem Messer oder dem Jagdspeer begnügen. Schwinge versuchte, nicht daran zu denken, daß sie das Dorf vielleicht für immer verließ, als sie bei Sonnenaufgang gemeinsam mit Keil ein letztes Mal vor die Versammlung trat. Aber nicht nur die Alten waren gekommen, um sie zu verabschieden und ihnen Glück zu wünschen, sondern der ganze Stamm.
»Meine Kinder«, sagte Hirsch, »vor euch liegt eine Reise, länger und beschwerlicher als alle anderen, und wir können nichts weiter tun, als euch Glück dafür zu wünschen. Was immer auch geschehen wird: Mögen eure Herzen immer voll Licht sein, und mögt ihr im richtigen Moment immer das Richtige tun. Ihr seid zwar nur zu zweit, aber in Gedanken werden wir die ganze Zeit bei euch sein.«
Nun trat ein Jäger nach dem anderen vor, und jeder von ihnen überreichte Schwinge einen Pfeil, als Zeichen der Verbundenheit. Aller Streit, den es zwischen ihr und den Ältesten gegeben hatte, waren vergeben und vergessen. Schwinge verneigte sich.
»Ich danke euch«, sagte sie. »Wir werden alles tun, um die Instrumente der Hohen sicher hierher zu bringen.«
Und sie würde alles tun, damit der Mord an ihren Eltern endlich gerächt wurde.
Da standen sie nun: Keil, der vor der Versammlung wie immer etwas verlegen und verloren wirkte und der den Beutel, in dem seine Flöte war, fest umklammerte, während ihm die Tasche mit seinen restlichen Habseligkeiten unentwegt von der Schulter zu rutschen drohte, und sie selbst, vollkommen ruhig, als ob das, was auf sie zukam, nicht das größte Abenteuer ihres Lebens wäre. Sie hatte erwartet, zumindest ein wenig aufgeregt zu würde, aber nun spürte sie gar nichts, weder Wut, noch Furcht. Nur die Gewißheit, daß sie für diese Aufgabe die Richtige war.
Dann endlich brachen sie auf. Eine Weile lang gingen sie schweigend nebeneinander her und vermieden, sich anzusehen. Schwinge hielte ihre Augen fest auf den Weg gerichtet, aber ihr entging nicht, wie Keil den Kopf mal zu dieser, mal zu jener Seite drehte, um einen Vogel auf einem Ast oder eine Blume zwischen zwei Steinen besser sehen zu können. Es regnete noch immer, aber die mächtigen Bäume fingen das meiste ab, so daß es nicht weiter unangenehm war. Langsam erhob sich hinter den Wolken die Sonne; es wurde heller und auch ein wenig wärmer. Schwinge hielt ihren Jagdspeer bereit zum Zustoßen, aber um diese Zeit war von wilden Tieren nicht viel zu befürchten. Sie verließen ihre Nester und Höhlen hauptsächlich in der Abenddämmerung. Trotzdem war sie auf der Hut. Keil summte leise vor sich hin und war in Gedanken sicherlich weit fort. Zum Glück schaffte er es, trotzdem auf seinen Weg zu achten. Es wäre Schwinge sehr unangenehm gewesen, wenn der Barde über Steine gestolpert oder gegen Bäume gelaufen wäre.
»Erkläre mir bitte eines, Keil«, sagte sie nach einer Weile. »Warum nennt man dich so? Es klingt so sonderbar - irgendwie scheint es überhaupt nicht zu einem Barden zu passen. Bist du früher etwas anderes gewesen?«
»Nein, ich bin ein Barde, seit ich denken kann - oder zumindest lerne ich, einer zu sein.« Keil lächelte und zog seine selbstgeschnitzte Flöte hervor. Dann hielt er sie Schwinge hin und deutete auf das Mundstück. »Siehst du - das hier ist ein Keil. Bevor du ihn einsetzt, ist es nur ein geschnitztes Stück Holz, aber hinterher ist er es, der die Flöte zum Klingen bringt. Darum nennt man mich so. Zugegeben, es ist ein ungewöhnlicher Rufname. Aber ich mag ihn. Die meisten Leute von meinem Stamm heißen nach Dingen, die es am Fluß gibt - nach Fischen und Pflanzen und Vögeln, so wie bei euch. Meine Mutter zum Beispiel wird Otter genannt.«
»Was macht deine Mutter jetzt?« fragte Schwinge. »Ist sie auch eine Bardin?«
»Nein, meine Eltern sind Fischer, auch wenn sie die Musik sehr lieben. Fast alle bei uns sind Fischer. Es wird ziemlich schwer für sie werden, denke ich, ohne den Fluß zu leben.«
Schwinge erzählte ihm vom Tod ihrer Eltern, obwohl er schon davon wußte. Es tat gut, daß sie jetzt darüber reden konnte. Früher war das nicht möglich gewesen. Der Schmerz nagte an ihr, ohne daß sie ihn herauslassen konnte, und davon war er immer größer geworden. Aber als sie erwachsen wurde, hatte sie gelernt, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen mußte: Wann es Zeit war, sie zu verbergen, und wann, ihnen freien Lauf zu lassen. Und wie alle Barden war Keil ein guter Zuhörer.
»Bei uns werden alle Kinder von der Gemeinschaft erzogen«, sagte er dann. »Ich weiß natürlich, wer meine Eltern sind, aber ich hatte immer mehr Kontakt zu den anderen Barden, vor allem zu Drachenfliege, meinem Lehrer.«
»Das ist bei uns auch so«, erklärte sie ihm. »Aber wenn deine Eltern tot sind, ist das etwas anderes. Ich fühle mich ihnen dadurch stärker verbunden, als ich es vielleicht täte, wenn sie noch am Leben wären. Außerdem waren sie auch Jäger, so wie ich.«
Keil nickte. Er schien sie zu verstehen. Jetzt, wo er ihre Geschichte kannte, würden sie vielleicht auch besser miteinander auskommen. Und langsam zeigte sich, daß die Unterschiede zwischen ihren beiden Stämmen doch nicht so groß waren, wie sie zuerst befürchtet hatte.

Sechs Tage lang wanderten sie nordwärts, dann, begann der Wald sich zu lichten, ein Zeichen dafür, daß sie bald seinen Rand erreicht hatten. Sechs Tage, in denen sich Keil sehr nutzlos vorkam. Schwinge legte abends Fallen für Kaninchen aus, machte ein Feuer und wollte sich bei keiner dieser Arbeiten helfen lassen. Alles, was er tun konnte, war, Lieder zu spielen, mit denen er die Kaninchen anlockte, damit sie auch wirklich in die Schlingen liefen, und morgens nach eßbaren Wurzeln zu suchen. Aber die Waldpflanzen waren Keil oft fremd, und an einem Morgen wurde Schwinge wütend auf ihn, weil er unterwegs einem Eichelhäher begegnet und ihm ein Stück weit gefolgt war, statt sich um Nahrung zu kümmern.
Unterwegs verstanden sie sich meistens recht gut, solange keiner von ihnen etwas sagte. Aber das war auch gar nicht notwendig. Sie konnten stundenlang nebeneinander hergehen und schweigen, doch es war ein gutes Schweigen und hatte nichts Beklemmendes an sich. Gespräche dagegen liefen meist auf einen Streit hinaus. So hatten sie ziemlich schnell herausgefunden, welche Themen sie vermeiden mußten. Leider gehörte dazu auch alles, was in irgendeiner Weise mit den Hohen und ihren Instrumenten zusammenhing, von den Menschen ganz zu schweigen. Keil wollte sich nicht mit Schwinge anlegen, und solange sie nicht selbst damit anfing, versuchte er, den Frieden zu wahren. Wenn sie miteinander redeten, dann meist über Dinge, die es unterwegs zu sehen gab - hübsche Steine, die im Sand glitzerten, oder seltsame Federn und Blumen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Schwinge kannte die Namen von fast allem, und er lernte durch sie sehr viel über die Wälder, all jene Sachen, die ihm der Wald selbst nicht erklärt hatte. Sicherlich hielt sie ihn für ungeheuer neugierig, aber wenn es ihr lästig wurde, dann sagte sie ihm das auch, und so wußte er immer, ob er sie störte oder nicht.
Nachdem sie aus dem Wald heraus waren, war Vorsicht geboten. Ab jetzt mußten sie damit rechnen, auf Menschen zu treffen. Die Karte, die sie von Merle bekommen hatten, zeigte zwar ungefähr, in welche Richtung sie gehen mußten, nicht aber, wo sich die menschlichen Siedlungen befanden. Denn auch Merle hatte den Wald nie verlassen. Galfas, der Zauberer, hatte ihr damals eine Karte gezeichnet, damit sie später noch einmal Kontakt zu ihm aufnehmen konnten. Weil aber dieser Plan inzwischen schon alt und brüchig geworden war, hatte Merle ihn abgezeichnet, auf ein neues Stück Haut. Inwieweit die Richtungs- und Entfernungsangaben überhaupt stimmten, konnte Keil nicht genau sagen.
Jedenfalls mußten sie einen Fluß finden und seinem Lauf folgen. Das freute Keil. Er war lange nicht mehr an einem Fluß gewesen und sehnte sich nach dem Geräusch des hellen Wassers auf den flachen Steinen im Sand des Bettes. Das Singen des Stromes konnte er immer noch hören, wenn er die Augen schloß, und manchmal versuchte er, es auf der Silberflöte zu spielen. Aber obwohl sie immer wieder auf Bäche und Quellen stießen, und den Läufen von jenen folgten, die sie in die richtige Richtung zu führen schienen, führte sie doch keiner von ihnen zu dem Fluß, der auf der Karte eingezeichnet war, und so sehr Keil auch lauschte, trug auch der Wind keine Nachricht von einem fernen Strom mit sich. Die beiden Alifwin begannen unsicher zu werden, ob sie auch wirklich auf dem richtigen Weg waren, aber sie hielten sich weiter in Richtung des Sonnenaufgangs, wo das Meer liegen mußte.
Vier Tage, nachdem sie den Wald verlassen hatten, waren sie immer noch nicht an einen Fluß gelangt. Dafür trafen sie erstmals auf Niederlassungen der Menschen. Es waren keine Siedlungen, nur vereinzelte Häuser, die von Feldern umgeben waren, auf denen die erste Saat zu sprießen begann.
Obwohl es ihr Vorankommen verlangsamte, mieden Schwinge und Keil die befestigten Wege der Menschen. Es hätte Keil nicht einmal etwas ausgemacht, nach dem Weg zu fragen, aber Schwinge war dagegen. Sie war sogar bereit, Umwege in Kauf zu nehmen, nur um sich von den Menschen fernzuhalten.
»Aber wir können nicht länger einen Bogen um sie machen«, entgegnete Keil, schon beinahe verärgert. »Sie sind hier überall. Wenn wir einem von ihnen ausweichen, treffen wir auf einen anderen.«
Schließlich war es nicht mehr zu vermeiden: Zwischen ihm und der Jägerin kam es zum Streit. Der Anlaß war ein Mensch, der nicht weit von ihnen entfernt einen Karren über den feuchten Sandweg zog. Nur die Hecke, die zwischen Weg und Feldrand verlief, trennte sie voneinander.
»Ich werde ihn jetzt fragen«, sagte Keil. »Unsere Karte allein reicht nicht aus. Wir haben noch nicht einmal den großen Fluß gefunden. Wie sollen wir so jemals zu den Zauberern gelangen? Vielleicht kann er uns ja weiterhelfen.«
»Vielleicht wird er uns auch töten«, entgegnete Schwinge.
»Er sieht harmlos aus. Er schient schon ziemlich alt zu sein, und er trägt kein Schwert. Wenn er uns wirklich angreift, können wir uns wehren. Aber wir brauchen Hilfe!«
»Ich brauche keine Hilfe von unseren Feinden!«, stieß Schwinge hervor. »Lieber würde ich jahrelang verloren durch die Wildnis irren, als mir von so einem helfen zu lassen.«
Keil blickte sie wütend an und merkte, daß mit ihr nicht zu diskutieren war. Er zuckte die Schultern und schlüpfte durch die Hecke. Egal, was die Jägerin sagte, er würde nach dem Weg zum Fluß fragen. Schwinge hielt ihn zurück. Als wäre er ein unartiges kleines Kind, ergriff sie den Riemen seines Beutels und hielt ihn daran fest.
»Du bleibst hier«, sagte sie eisig.
»Laß mich los!«
»Ich habe die Aufgabe, dich zu beschützen, auch wenn mich niemand gewarnt hat, daß es du selbst bist, vor dem ich dich beschützen muß.«
»Wenn das so ist«, flüsterte Keil, »dann will ich deinen Schutz nicht.« Da Schwinge den Riemen immer noch nicht losließ, streifte er die Tasche kurzerhand ab und trat durch die Hecke. Dornige Zweige zerkratzen ihm das Gesicht, aber das war ihm egal. Noch nie hatte er solche Wut verspürt. Jetzt war er auf sich gestellt. Wenn er nach dem Weg gefragt hatte, würde er nicht zu Schwinge zurückgehen, auch wenn er keine Waffen hatte und nichts mehr zu essen. Irgendwie würde er schon zurechtkommen. Er haßte nichts mehr, als mit jemandem im Streit zu leben. Aber fast genauso schlimm war es, immer wie ein Kind behandelt zu werden.
Der Mensch war schon ein ganzes Stück entfernt, weil sie durch das Gerede Zeit verloren hatten. Keil fing an zu laufen, um ihn einzuholen, als er hinter sich ein Knacken hörte. Er drehte sich um.
Da stand Schwinge. Aber sie war nicht auf die Wegseite der Hecke gekommen, um sich wieder mit ihm zu vertragen. Sie hatte den Bogen von der Schulter genommen und legte gerade einen Pfeil auf die Sehne, der auf den Rücken des Menschen zielte.
»Nein!« schrie Keil und sprang dazwischen. Schwinge ließ den Boden sinken, denn um ein Haar hätte sie jetzt denjenigen erschossen, den sie eigentlich beschützen sollte. Wütend funkelte sie ihn an. Aber jetzt war auch Keil außer sich vor Ärger.
»Denkst du denn niemals nach?« fuhr er die Jägerin an. »Warum willst du ihn töten, wenn er uns nichts getan hast? Wenn du grundlos Menschen umbringst, werden sie Jagd auf uns machen! Und wir werden niemals unser Ziel erreichen!«
Er erwartete, daß sie ihm widersprechen und versuchen würde, den Menschen, der zum Glück nichts von dem, was hinter ihm vorging, wahrnahm und gerade mit seinem Karren um eine Wegbiegung verschwand, doch noch zu töten. Aber das tat sie nicht. Sie ließ den Bogen fallen, und die Wut in ihrem Gesicht wich einer großen Bestürzung und Traurigkeit.
»Verzeih mir«, sagte sie leise. »Ich habe mich hinreißen lassen.«
Keil ging zu ihr hinüber. Er war immer noch wütend. »Warum begreifst du nicht, daß wir den Menschen nichts tun dürfen? Dies ist jetzt ihr Land. Wir sind hier Fremde und dürfen sie nicht gegen uns aufbringen. Wenn sie uns angreifen, müssen wir uns wehren. Aber wir dürfen sie nicht jagen.«
Schwinge hielt den Blick gesenkt und hockte sich hin, wurde eins mit dem Schatten der Hecke. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich kann sie nur hassen, aber es wäre falsch, diesen zu töten; du hast Recht.« Einen Augenblick schwieg sie, dann fuhr sie fort: »Es war falsch, mich mit dieser Aufgabe zu betrauen. Ich bin ihr nicht gewachsen. Wenn du möchtest, werde ich in die Wälder zurückgehen und dich nicht mehr weiter behindern. Ich bringe dich mehr in Gefahr, als ich dir helfe.«
»Das darfst du nicht sagen«, entgegnete Keil sanft. Er verspürte keinen Ärger mehr, sondern Mitleid, wie sie dort im Gebüsch kauerte. »Ich brauche dich.« Natürlich würde es wieder Ärger geben, solange sie gemeinsam unterwegs waren, das war nicht zu vermeiden. Aber er würde nicht ohne sie auskommen. Er konnte nicht jagen, und er brauchte die Gesellschaft von anderen Alifwin. Der Gedanke, allein in der Welt der Menschen unterwegs zu sein war unerträglich.
»Ich werde es nie wieder tun«, sagte sie und blickte nicht ihn, sondern den Bogen in ihren Händen an. »Ich werde sie weiterhin so sehr hassen und verachten, wie ich nur kann. Aber ich werde nicht mehr versuchen, einen von ihnen zu töten, wenn er mir keinen Anlaß dazu gibt.«
»Darauf verlasse ich mich«, sagte Keil. Er setzte sich neben sie und streckte seine Hand aus, als ein Zeichen des Friedens. Sie nickte dankbar und berührte kurz seine Fingerspitzen. Frieden. Die Berührung war nur kurz, aber sie hatte etwas sehr Tröstendes an sich. Keil nahm seine Flöte und begann zu spielen, auch wenn sie sich direkt an einem von Menschen benutzten Weg befanden. Vorbeikommende Leute hätten vielleicht nicht darauf geachtet oder das Lied für den Gesang eines Vogels gehalten. Menschen konnten so dumm sein! Und Schwinge brauchte ein wenig Trost, ein wenig Harmonie, um den Haß, der immer noch in ihr brannte, zu besänftigen.
»Ich grüße dich, Lichtsänger«, sagte die Krähe, nachdem sie über die Hecke geflogen und vor Keils Füßen gelandet war. »Und ich grüße auch dich, Waldauge.«
Krähen waren ein seltsames Volk, klüger als die meisten anderen Vögel. Sie schienen die Wahren Namen aller Dinge zu kennen, aber sie hielten sie geheim, indem sie alles und jeden mit eigenen Namen belegten. Um mit einer Krähe ins Gespräch zu kommen, mußte man ihr als erstes einen Namen geben.
»Ich grüße dich, Nachtfeder«, sagte Keil und ließ die Flöte sinken. »Was verschafft uns die Ehre deines Besuchs?«
»Ich habe euch beobachtet«, antwortete die Krähe. »Ich war auf dem Feld, als ich euch kommen sah. Ich kann mich nicht erinnern, jemals Sonnenleute in dieser Gegend gesehen zu haben. Es war mir ein Vergnügen, eurem Streit zu folgen. Aber erst, als du anfingst zu spielen, kam ich zu dem Schluß, daß es interessant sein könnte, mit euch zu reden.«
»Ich habe dich auf dem Feld gesehen«, sagte Schwinge. »Wir hätten dich früher um Hilfe zu bitten sollen. Aber wir waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt.«
»Wer sich nicht mit sich selbst beschäftigt«, entgegnete Nachtfeder, »ist ein Dummkopf. Ich beschäftige mich immer mit mir selbst. Aber man darf dabei nicht vergessen, seine Umgebung im Auge zu behalten.«
Krähen waren gute Beobachter, doch es war schwer, eine zufriedenstellende Auskunft von ihnen zu bekommen. Meistens waren sie zu sehr von sich selbst eingenommen oder zu stolz, um andere an ihrem Wissen teilhaben zu lassen. Wenn man die falschen Worte gebrauchte, flogen sie weg und ließen den Fragenden verwirrt zurück. Aber man konnte es trotzdem versuchen.
»Nachtfeder, wir brauchen deine Hilfe!«
»Das weiß ich«, sagte die Krähe. »Und ihr würdet staunen, wieviel ich noch über euch weiß. Also wollt ihr von mir den Weg erfahren?«
»Wir wollen von dir den Weg erfahren«, bestätigte Keil. »Es ist ein Fluß, den wir suchen.«
»Nein, das ist es nicht«, antwortete die Krähe. »Ihr seid nicht so weit gereist, nur um einen Fluß zu sehen. Was sucht ihr wirklich?«
»Im Moment sind wir auf dem Weg zu einem Zauberer«, erklärte Schwinge. »Galfas ist sein Name. Ist er dir bekannt?«
Nachtfeder legte den Kopf schief. »Mein Volk und das der Mächtigen sind schon lange befreundet. Sie schätzen uns, mehr als ihr Sonnenleute es jemals getan habt. Ich könnte euch zu dem bringen, den ihr sucht. Aber ich wüßte nicht, warum ich das sollte.«
Keil seufzte und setzte wieder die Flöte an die Lippen. In seinem Kopf hörte er wieder Drachenflieges Worte. Erfrage alle Namen, aber niemals den einer Krähe. Sie mögen es nicht. Sicher wäre es besser, wenn die Krähe ihnen aus freien Stücken den Weg wies. Aber wenn sie nicht wollte …
»Das würde ich nicht versuchen, an deiner Stelle«, sagte Nachtfeder. »Wir sind das Volk, das die Namen gibt. Ich trage mehr Namen, als du bereit wärst aufzunehmen. Und doch könntest du nichts damit anfangen. Du hast mir bereits einen Namen gegeben. Das genügt.«
»Wirst du uns helfen?« fragte Schwinge. »Wir bitten dich darum.«
»Bitten? Es sieht mir mehr so aus, als ob ihr versuchen würdet, mich zu erpressen. Aber weil ihr es seid … Ich werde euch führen, bis mir die Lust dazu vergeht. Das habe ich noch nie getan, damit ihr es wißt.«
»Wir erkennen die Ehre, die du uns erweist«, entgegnete Keil.
Nachtfeder nickte wieder. »Das solltet ihr auch. Ich tue es nur, weil ihr interessante Leute seid. Bleibt weiter so interessant, und folgt mir.«
Mit diesen Worten schüttelte die Krähe kurz ihre Federn und stieg dann in die Luft auf. Keil und Schwinge sahen ihr nach, wie sie jenseits der Hecke am Himmel verschwand.
»Es hätte keinen Sinn gehabt, sie darauf hinzuweisen, daß wir nicht fliegen können«, sagte Keil und seufzte. Dann begannen er und Schwinge plötzlich zu lachen.

Warum war keiner von ihnen früher darauf gekommen, daß es in dieser Gegend nicht nur Menschen gab, die ihnen den Weg zeigen konnten? Schließlich waren nicht alle Tiere mit ihrer Auskunft so eigensinnig wie die Krähen. Andere konnten ausgesprochen hilfsbereit sein. Keil rief mit seiner Flöte einige Vögel, die von dem großen Fluß wußten und ihnen die Richtung weisen konnten. Danach konnten sie endlich wieder der Karte folgen, denn sie mußten nur zusammen mit dem Fluß zum Meer hin reisen und unterwegs nach einem gespaltenen Felsen Ausschau halten. Sie wanderten nicht direkt am Fluß entlang, auch wenn der Barde das gerne getan hätte. Aber die Menschen hatten sich verstärkt am Fluß niedergelassen, und sie befuhren ihn mit hölzernen Booten. Schwinge fand es daher trotz allem sicherer, in einigem Abstand zum Wasser zu gehen. Dann allerdings ließen die Menschenhäuser wieder nach, denn der Strom floß in breiten Schlingen durch ein feuchtes Bruchland, das nun, im Frühling, besonders sumpfig war. Hier waren auch wieder mehr Bäume und Tiere. Schwinge war zufrieden, daß es ihr all die Zeit über gelungen war, Begegnungen mit Menschen zu vermeiden, denn sie wußte, beim nächsten Treffen würde der Drang zu töten wieder genau so stark sein wie beim letzten Mal.
Ab und zu sahen sie eine Krähe am Himmel kreisen, und beide waren sicher, daß es Nachtfeder war. Doch obwohl der Vogel sie von oben herab genau zu beobachten schien, kam er doch nicht noch einmal herunter, um mit ihnen zu reden.
Keil hatte nicht übertrieben, wenn er von der Schönheit seines Flusses erzählte. Schwinge hatte ihn sich immer wie einen großen Bach vorgestellt, aber etwas Derartiges hatte sie nicht erwartet. An manchen Stellen glitt er sanft und beinahe lautlos dahin, und anderswo wurde er schneller und so laut, daß man kaum noch etwas anderes hören konnte. Je länger sie ihm folgten und je näher sie dem Meer kamen, desto breiter wurde der Strom, weil immer wieder Bäche in ihn mündeten. Zum Meer, zum Meer, sang das Wasser, wenn man genau hinhörte. Jetzt endlich verstand Schwinge, warum Keil den Fluß so vermißte und was sein Volk aufgab, wenn es in die Wälder zog. Und wieder wuchs ihr Haß auf die Menschen ein wenig.
Da sie einen Bogen um alle Siedlungen machten, gerieten Keil und Schwinge nicht mehr in einen Streit wie den, der sie beinahe entzweit hatte. Endlich hatte auch der Barde eine sinnvolle Beschäftigung gefunden, indem er unterwegs Tiere anlockte und sie nach Galfas fragte. Dort, wo sie jetzt waren, kannten viele den Zauberer und auch seinen Bruder. Alle Tiere berichteten, wie hilfsbereit die beiden waren, und selbst wenn die beiden noch nie etwas von den Instrumenten der Hohen gehört hatten, würden sie sicherlich bereit sein, ihnen auf eine andere Weise zu helfen.
Aber als sie endlich den gespaltenen Felsen erreicht hatten und von dort aus landeinwärts zu dem Heim der Zauberer gelangten, waren die Alifwin nicht mehr so sicher, was sie von Galfas halten sollten. Denn das Haus lag nicht nur, wie Merle gesagt hatte, in direkter Nähe eines Menschendorfes. Es war ein Menschenhaus.

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