Siebtes Kapitel

Light takes the tree, but who can tell us how?
Theodore Roethke

Zunächst war es nur ein gewöhnlicher nasser Regen, unangenehm, aber ansonsten nichts besonderes. Doch je tiefer sie in den Wald drangen, desto stärker regnete es. Es war ein kalter Regen, vermischt mit kleinen Eisstücken, und die Bäume boten keinen Schutz vor ihm. Inzwischen war Lonnìl bis auf die Haut durchnäßt und fror.
Er zog seinen Mantel fester zusammen, als ob der vollgesogene Stoff ihm noch irgendwelchen Schutz bieten konnte. Unwillkürlich klapperte er mit den Zähnen. Seit er einmal als Kind in einem zugefrorenen See eingebrochen war und scheinbar endlose Momente im eisigen Wasser zugebracht hatte, war ihm nie mehr derartig kalt gewesen. Vor Schnee und Frost konnte man sich mit Wolle oder warmen Fellen schützen, aber in diesem Regen hätte es nicht einmal einen Unterschied gemacht, wenn Lonnìl nackt gewesen wäre. Er war ihm hilflos ausgeliefert.
Den anderen schien der Regen nicht ganz soviel auszumachen. Die Elfen waren zwar naß, aber entweder waren sie an dieses Wetter gewöhnt, da sie ihr ganzes Leben im Freien verbracht hatten, oder sie wußten von einer Methode, den kalten Tropfen auszuweichen und zwischen ihnen hindurch zu gehen - sie hielten ihre Köpfe aufrecht, und ihre nassen Haare schienen sie nicht weiter zu stören. Morren hatte einen Zauber eingesetzt, der verhinderte, daß sein Körper auskühlte - leider konnte er ihn nur an sich selbst anwenden. Und Felder hielt sich auf seine eigene Weise zumindest innerlich warm. Außerdem war er damit beschäftigt, auf Morren einzureden.
»Ich begreife nicht, warum du dich so stur stellst, Zauberer. Du könntest diesen Regen aufhören lassen, wenn du wolltest.«
»Selbst, wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun«, antwortete Morren geduldig. »Kein Zauberer, ganz gleich, wie mächtig er ist, darf in die natürliche Ordnung eingreifen.«
»Dieser Regen ist ganz sicher nicht natürlich. Kein natürlicher Regen kann derart eklig kalt sein. Wenn du mich fragst, steckt da eine Absicht hinter. Vermutlich sind es wieder diese Dunklen, die uns ärgern wollen.«
Aber der Zauberer lachte nur und schien nicht weiter auf das, was Felder sagte, zu achten. Lonnìl kannte den Prinzen inzwischen gut genug, um zu wissen, was als nächstes kam: Felder würde jetzt versuchen, ihn als Verstärkung zu gewinnen. Als ob der Regen nicht schon reichte!
»Was soll ich nur machen? Er will nicht auf mich hören!« jammerte Felder nun auch wirklich. »Den Spitzohren mag es ja vielleicht nichts ausmachen, aber wir sind Menschen, und wir sind für solches Wetter nicht geschaffen.«
Lonnìl schenkte ihm einen mitleidigen Blick. Er wollte ja auch, daß der Regen aufhörte. Aber vor allem wollte er jetzt seine Ruhe. Felder mußte seine klappernden Zähne bemerkt haben.
»Du Armer, du frierst ja noch mehr als ich! Du wirst dich noch furchtbar erkälten, das sage ich dir … Ich bin doch zu dumm! Es reicht ja für uns beide. Von mir aus können die Elfen frieren, aber dann haben zumindest wir es warm, wenn wir schon so naß werden müssen.«
Er nahm selbst noch einen Schluck, dann streckte er ihm die Flasche hin. Normalerweise hätte Lonnìl verärgert abgelehnt, aber jetzt war er dankbar für jede Möglichkeit, der Kälte zumindest kurzfristig zu entkommen. Er fragte lieber nicht genau, was das Zeug in der Flasche war. Es brannte viel zu stark in seinem Hals, als daß er irgendeinen bestimmten Geschmack hätte ausmachen können, und es nahm ihm fast den Atem. Felder sah seinem Hustenanfall sichtlich amüsiert zu, und Lonnìl hätte ihm für seinen selbstgefälligen Gesichtsausdruck am liebsten die Flasche an den Kopf geworfen. Aber in einem Punkt mußte er ihm trotzdem recht geben: Es wärmte ihn schon irgendwie.
»Der Trick besteht darin, immer nur ein bißchen zu trinken«, erklärte Felder hilfsbereit, nachdem er ihm auf den Rücken geklopft hatte. »Wir können die Flasche jetzt auch gemeinsam alle machen, und dann wäre uns der Regen weitgehend egal. Aber dann sind wir aufgeschmissen, falls wir morgen noch mal in so einen Guß kommen. Und ich bin mir nicht sicher, wieviel du überhaupt verträgst. Ich kann dich nicht alleine tragen, und irgendwie glaube ich nicht, daß einer von denen mit anfassen würde. Aber ansonsten - du kannst gerne noch einen Schluck haben, wenn du mir etwas übrig läßt. Ich bin diesen Regen leid.«
Lonnìl schüttelte den Kopf und gab ihm die Flasche zurück. Die Wärme in seinem Bauch genügte ihm fürs Erste. »Danke auch«, murmelte er. Dann erst bemerkte er den Blick des Zauberers, der auf ihm ruhte.
»Du also jetzt auch?« fragte Morren nur und sah ihm in die Augen. Schlagartig fiel Lonnìl ein, daß auch Schwinge es gesehen haben konnte, und er hoffte, daß sie nichts bemerkt hatte.
»Euch muß wirklich ziemlich kalt sein«, fuhr der Zauberer fort. »Ich vergesse immer wieder, daß ihr Menschen nicht mit der, sondern gegen die Natur lebt. Und ich möchte nicht, daß ihr beiden irgendwelche … Dummheiten macht. Felder soll von dir lernen, Lonnìl, nicht du von ihm! Ich kann den Regen zwar nicht aufhören lassen, aber wäre euch geholfen, wenn ich euch zu einer Höhle führe?«
Felder und Lonnìl nickten eifrig.
»Wenn du hier von einer Höhle weißt, Morren, dann verstehe ich nicht ganz, warum du uns noch nicht längst zu ihr geführt hast, statt uns durch den Regen laufen zu lassen«, stimmte Keil zu. »Wir sind nur naß, aber die Menschen sehen ziemlich mitgenommen aus.«
Damit war es entschieden. Morren zog seine Kristallkugel hervor. »Jetzt weiß ich wieder, wo die Höhle ist«, sagte er. »Folgt mir.«
Lonnìl hatte das Gefühl, als mache sich der Zauberer über irgend etwas Sorgen. Er hatte gezögert, was die Höhle anging, so als sei er nicht sicher, ob sie wirklich ein geeigneter Ort für die Gruppe war. Aber egal, was für Gefahren dort auch lauern mochten - alles war besser als dieser furchtbare Regen.
Sie kamen so plötzlich an eine Felswand, in der ein dunkles Loch gähnte, als habe Morren sie gerade in diesem Moment erst erschaffen. Lonnìl spürte, wie die Kälte wieder nach ihm griff.
»Da wären wir. Es ist hier trocken und wärmer als draußen. Aber bleibt im vorderen Bereich der Höhle, Menschen! Was immer ihr im hinteren Teil zu sehen glaubt - verschwendet keinen Gedanken daran!«
Lonnìl hatte jetzt sowieso keine Lust, sich irgendwelche Gedanken über das Innere der Höhle zu machen. Ihm ging es jetzt nur darum, daß es hier drinnen nicht mehr regnete. Außerdem war es sowieso zu dunkel, um irgend etwas sehen zu können. Aber es war ein gutes, angenehmes Dunkel, nicht so verzehrend wie das, aus dem sie entkommen waren. Nur ein Leuchten, das wahrscheinlich von der Hand des Zauberers ausging, verbreitete etwas Licht. Erschöpft ließ sich Lonnìl auf den harten Boden fallen. Es war doch ziemlich anstrengend gewesen, stundenlang durch den Regen zu laufen, und wahrscheinlich hätte er auch besser nichts von Felders Schnaps genommen. Er trank nur selten etwas, das stärker war als Dünnbier, und fühlte sich ein wenig benommen. Felder mußte in der Tat eine Menge vertragen, denn bei allem, was er seit Beginn des Regens geschluckt hatte, bewegte er sich doch nur ein bißchen unsicher. Lonnìl schloß die Augen. Bis ihre Kleider getrocknet waren, würde es noch einige Zeit dauern. Vielleicht konnten sie ein Feuer anmachen?
Lonnìl schreckte aus dem Halbschlaf hoch, als Felder seinen nassen Umhang mit einem Klatschen weniger auf den Boden als mehr auf ihn warf.
»Eine Höhle«, hörte er den Prinzen zufrieden murmeln, »das lasse ich mir gerne gefallen. Ich habe Höhlen immer schon gemocht. Und sie scheint tief in den Fels hineinzureichen. Vielleicht führt sie unter dem ganzen vermaledeiten Wald hindurch, und wir müssen überhaupt nicht in den Regen zurück? Es wäre einen Versuch wert …«
»Du bleibst bei uns!« befahl Morren streng.
»Schon gut, schon gut!« Aber Felder war nur einen Augenblick still, und er legte sich auch nicht hin. »Ich wüßte nur zu gerne, von wo dieses Licht dort kommt.« Dann klapperte etwas, so als sei jemand beim Laufen gegen Kieselsteine getreten. Lonnìl öffnete die Augen, als jemand seinen Arm unsanft packte. Es war Morren.
»Komm schnell, wir müssen ihm folgen! Dieser leichtsinnige Mensch ist in die Höhle hineingelaufen. Jetzt macht er wirklich einen Fehler!«
»Ich wüßte nicht, wann er einmal keinen Fehler gemacht hätte«, sagte Schwinge. Aber sie folgte trotzdem dem Zauberer, als der durch die Höhle eilte. Jetzt konnte auch Lonnìl sehen, daß das Leuchten nicht von Morren ausging, sondern vom hinteren Ende der Höhle kam. Eine große Anziehungskraft ging von ihm aus. Lonnìl mußte einfach wissen, was es war! Eine derartige Neugier hatte ihn gepackt, daß er am liebsten vorwärtsgestürmt wäre, aber das Wissen um Schwinges Blick in seinem Nacken hielt ihn zurück. So kam es ihn nun vor, als näherten sie sich nur langsam, ganz langsam dem Leuchten, das immer stärker wurde.
Sie näherten sich dem Licht bis auf wenige Schritte, aber den Grund für das Strahlen konnten sie nicht ausmachen. Sie sahen nur Felders schwarze Umrisse, der es verdeckte. Aber obwohl der Mann direkt davor stand, fiel doch nichts von dem Licht auf ihn. Er starrte in die Lichtquelle, ohne sich zu rühren. Die Elfen und der Zauberer blieben stehen, und auch Lonnìl wußte, daß es jetzt falsch gewesen wäre, weiterzugehen. Aber er konnte nicht anders. Das Licht zog ihn an.
»Kommt zurück, ihr Narren!« rief der Zauberer. »Faßt es auf keinen Fall an!«
Aber als Lonnìl sah, was da leuchtete, verging sein Interesse schnell. Es war ein Schwert, was ihn nur daran erinnerte, daß er seines zusammen mit seinem Umhang vorne in der Höhle ziemlich achtlos zu Boden geworfen hatte. Felders Augen leuchteten und waren fest auf die Klinge gerichtet.
»Ein Schwert!« flüsterte er. »Das schönste, das jemals geschmiedet wurde! Und es hat nur auf mich gewartet.«
Es sah wirklich so aus, als habe Felder tatsächlich einen prächtigen Ersatz für seine verschenkte Waffe gefunden. Das Schwert hing reglos in der Luft, und Felder brauchte es nur zu nehmen. Im nächsten Moment wurde Lonnìl schlagartig klar, was dort nicht stimmte. Normale Schwerter schwebten nicht leuchtend über schwarzen Steinklötzen in Höhlen. Und jetzt, als ob ein Bann von ihm abfiel, hörte Lonnìl auch wieder das Rufen von Morren und den Elfen. Felder schien die Warnungen nicht zu hören. Er streckte die Hand aus, um das Schwert zu berühren. Das durfte er nicht!
»Nein!« schrie nun auch Lonnìl. »Faß es nicht an!«
Für einen Moment verharrte Felders Hand zitternd in der Luft, aber dann bewegte sie sich ganz langsam weiter vorwärts. Es schien, als befände sich Felder in einer anderen Zeit, in der es nur ihn und das Schwert gab. Lonnìl hatte das Gefühl, sich selbst überhaupt nicht rühren zu können. Er konnte nichts tun. Und sein Herz, das er eben noch fast hatte klopfen hören, war plötzlich kaum noch zu spüren, bis auf vereinzelte Schläge. Dann begriff Lonnìl: Felders Zeit lief nicht langsamer als seine - sie lief viel schneller. Der Schrei blieb in Lonnìls Hals stecken. Ohnmächtig mußte er zusehen, wie Felders Finger nur noch wenige Zoll weit vom Knauf des Schwertes entfernt waren. Er wußte nicht, was passieren würde, wenn sie sich darum schließen würde. Aber eine Vorahnung sagte ihn, daß es etwas Schreckliches sein mußte.
Dann brach die Zeit um sie herum zusammen. Ein plötzlicher Schlag, einem Blitz gleich, traf Felder nur einen Augenblick, bevor er das Schwert berührte. Felder stürzte zur Seite und riß Lonnìl gleich mit von den Beinen. Der Bann war gebrochen.
Fluchend hockte Felder am Boden und rieb sich seinen Schädel. Der Schlag schien ihn wieder etwas ernüchtert zu haben. »Hätte euch ein simples ‘Nein!’ nicht gereicht?«
Wütend griff er nach einem der umliegenden Gegenstände und wollte ihn zurückwerfen. Dann aber fiel sein Blick darauf, und er stutzte. »Knochen«, sagte er nur. Er blickte den Schädel einen Moment lang versonnen an, dann legte er ihn beiseite. »Niemand, den ich kannte.«
»Du wärest auch bald Knochen, wenn du das Schwert berührt hättest!« sagte Morren. »Warum kannst du nicht einmal machen, was man dir sagt?«
»Es tut mir leid«, murmelte Felder zerknirscht. »Ich weiß auch nicht, was da über mich gekommen ist. Ich habe das Licht gesehen und mußte hin. Und dann war da dieses Schwert … Hört mal, ihr seht das Schwert doch auch. Und dann begreift ihr nicht, daß ich es haben muß? Es ist doch nicht mit Lonnìls mickrigem Kurzschwert zu vergleichen! Es ist aus Silber und unglaublich gearbeitet, und selbst ich muß zugeben, daß kein Mensch etwas derartiges erschaffen kann … Und es hängt einfach in der Luft und wartet darauf, daß man es pflückt …«
Diesmal gelang es Lonnìl, sich rechtzeitig auf Felder zu werfen und ihn am Boden zu halten, denn er hatte schon wieder die Hand nach dem Schwert ausgestreckt, während er die anderen durch sein Reden wohl abzulenken versuchte.
»Laß mich los!« rief Felder und schlug und trat um sich. »Du wirst das Schwert doch kaum für dich haben wollen? Du benutzt ja nicht einmal meines! Und ihr anderen könnt es auch nicht haben. Es ist ein Schwert für Menschen.«
»Damit hast du vollkommen recht«, sagte Morren erstaunt. »Dies ist Glan’tuèl. Die Hohen haben es für die Menschen gemacht. Aber woran hast du das erkannt?«
»Mit Schwertern kenne ich mich eben aus. Es hat auch nur mich und Lonnìl angezogen, die Elfen nicht. Darf ich es jetzt haben?«
»Nein. Es ist nicht für dich bestimmt. Ein sterbender König vertraute es der Höhle an, und dort wartet es auf den Richtigen. Aber dieser Richtige bist du nicht. Wenn du Glan’tuèl berührt hättest, Felder, dann hätte es sich ganz langsam in den Stein gesenkt. Und du hättest es nicht mehr loslassen können. Wenn du mir nicht glaubst - warum wohl, meinst du, liegen hier so viele Knochen herum? Wenn der Falsche das Schwert zu nehmen versucht, so stirbt er eines langsamen, qualvollen Todes. Er verhungert. Und das ist es doch wohl nicht, was du willst, oder?«
Felder, dessen Augen noch immer sehnsüchtig auf das Schwert gerichtet waren, schluckte. »Darauf kann ich gerne verzichten. Und was noch mehr ist, ich glaube dir sogar.«
»Gut. Dann laß ihn jetzt los, Lonnìl. Ihr geht jetzt wieder in Richtung Ausgang, und da legt ihr euch hin und schlaft. Ihr werdet das Schwert ganz schnell vergessen.«
»Aber wenn ich es berührt hätte«, fragte Felder, »dann hättest du mich doch irgendwie losmachen können?«
»Ja, das hätte ich vielleicht. Aber wie hätte es dir gefallen, in Zukunft mit nur noch einem Arm herumzulaufen?«

Das Schwert über dem Stein Keil Unbehagen ein, und er wollte so schnell wie möglich fort. Der Gedanke, was es mit all den Menschen angestellt hatte, die versuchten, es zu nehmen, war entsetzlich. Aber Morren hielt ihn und Schwinge zurück.
»Ich muß mit euch reden, vor allem mit dir, Keil.« Er sagte es in der Hohen Sprache, damit die Menschen ihn nicht verstanden. Aber Schwinge unterbrach ihn hitzig.
»Weißt du nicht, daß es verboten ist, Lügen über die Hohen zu erzählen?«
»Es ist keine Lüge, meine Freunde, auch wenn ihr es vermutlich nicht glauben wollt. Die Hohen selbst haben dieses Schwert gemacht für die Menschen.«
»Aber das kann nicht sein! Die Hohen verschwanden, lange bevor die ersten Menschen kamen!«
Und warum sollten sie ausgerechnet für Menschen ein Schwert machen?
»Es gab vorher schon Menschen, an anderen Orten. Aber ich kann es euch jetzt nicht erklären. Ihr seid noch nicht so weit, daß ihr es verstehen würdet, vor allen du nicht, Schwinge. Für euch gilt das selbe wie für die Menschen: Vergeßt das Schwert! Aber ich wollte mit euch über etwas anderes reden. Es geht um Felder.«
»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagte Keil. »Er hat sich verändert, seit wir bei den Dunklen waren. Er ist noch leichtsinniger geworden.«
»Und er trinkt auch mehr als früher«, fügte Schwinge angeekelt hinzu. »Nehmt heute, zum Beispiel.«
»Ihr habt Recht, aber das meinte ich nicht einmal«, sagte Morren, und seine Stimme klang bedrückt. »Es geht mir um folgendes: Wie ihr gemerkt habt, habe ich lange gezögert, bevor ich euch von der Höhle erzählt habe. Ich kenne sie von früher, und ich weiß, was das Schwert für eine Anziehungskraft auf Menschen ausübt. Deswegen wollte ich es eigentlich nicht riskieren. Aber dann dachte ich, es reicht aus, wenn ich die Menschen kurzerhand schläfrig mache. Deswegen habe ich auch nicht so sehr auf Felder geachtet, bis ich merkte, daß er losgelaufen war. Der Zauber hat nicht bei ihm funktioniert. Dabei wäre es normalerweise ein Leichtes, ihn schlafen zu lassen, vor allem heute, da er, wie du schon so richtig bemerktest, einiges getrunken hatte. Aber er ist wach geblieben. Und als sie beide vor dem Schwert standen, konnte ich nur Lonnìl erstarren lassen. Auch dieser Zauber hat bei Felder nicht funktioniert. Sonst hätte ich ihn kaum mit einem scharf geschleuderten Schädel zu Boden schlagen müssen. So etwas ist mir vorher noch nie passiert. Meine Zauber funktionieren immer. Es muß an Felder liegen.«
»Vielleicht kann man ihn einfach nur schwer verzaubern?« schlug Schwinge vor.
»Ich habe ihn schon oft genug verzaubert, und es war nie ein Problem. Und sagt nicht, daß mein Zauber versagt hätte. Ihr wißt, daß meine Zauber nie ihr Ziel verfehlen. Ich befürchte, es könnte mit den Dunklen zusammenhängen. Sie haben etwas mit ihm gemacht, daß ihn vor Zauberei schützt.«
Keil überlegte einen Augenblick lang. Der Bericht des Zauberers hatte ihn auf einen Gedanken gebracht, der sich nicht bewahrheiten durfte. Aber es konnte nicht sein! Es war unmöglich! Er ging zum Ausgang, wo die beiden Menschen lagen. Keil zog seine Flöte hervor und begann für Felder zu spielen.
Sag mir deinen Namen
, sagte die Flöte. Ich würde mich freuen, wenn du mir sagtest, wer du bist.
Aber es kam keine Antwort.
Bedrückt ging Keil zu Schwinge und Morren zurück. »Ich weiß nicht genau, wie ich es euch sagen soll …« begann er. »Ich habe gerade noch einmal für Felder gespielt, um seien Namen zu erfahren, aber … er hat keinen.«
»Willst du damit sagen, daß er jetzt sogar gegen dein Spiel resistent ist?« fragte Morren.
»Nein … ich will sagen, daß Felder keinen Namen mehr hat. Er hat ihn an die Dunklen verloren.«
»Das ist ja schrecklich!« rief Schwinge aus, und Entsetzen stand in ihrem Gesicht. »Aber - das ist doch vollkommen unmöglich! Wer seinen Namen verliert, muß sterben. Woher weißt du, daß Menschen überhaupt Namen besitzen?«
»Alles was lebt hat Namen«, flüsterte Keil. Plötzlich bekam er angst vor dem, was aus Felder geworden war - ein Mann ohne Seele? »Ich weiß genau, daß Felder einen Namen hatte. Er hieß Dhelin. Aber er hat ihn verloren. Ich begreife es selbst nicht.«
»Aber ich «, sagte Morren. »Erinnert euch, was die Dunklen gesagt haben. Alles, was ihm gehört. Felder hat alles, was ihm gehörte, an die Dunklen verloren. Auch seinen Namen. Darum hätte er eigentlich für alle Zeit bei den Dunklen bleiben müssen. Aber eines hat ihn gerettet, und das war die Tatsache, daß er seinen Namen nicht benutzte. Er war nie wirklich Dhelin, sondern immer nur Felder. Aber den Namen Felder hat er sich selbst gegeben. Er gehörte ihm eigentlich nicht. Darum konnte er ihn behalten. Das ist es, was ihn noch am Leben hält. Faktisch hat er keinen Namen mehr.«
»Es ist ihm also doch gelungen, die Dunklen hereinzulegen«, sagte Schwinge, und es klang fast so, als bewunderte sie Felder ein wenig. »Sie müssen doch damit gerechnet haben, daß sie ihn bekommen. Und jetzt läuft er statt dessen unter falschem Namen herum. Werden wir es ihm sagen?«
»Nein«, antwortete Morren. »Ihm nicht, und Lonnìl auch nicht. Sie dürfen es nie erfahren. Vielleicht wird Felder eines Tages merken, daß ihn niemand verzaubern kann. Aber solange er Felder ist, wird er nicht merken, daß sein Name fort ist. Menschen sind sich nicht bewußt, daß sie Namen haben. Aber das erklärt natürlich alles, auch die Veränderungen, die ihr bemerkt habt. Er ist jetzt nur noch Felder. Vorher kam vielleicht noch manchmal Dhelin zum Durchbruch. Wir haben Dhelin kennengelernt, als er sein Volk von den Dunklen abgeschwatzt hat. Aber das war seine letzte Tat. Er wird nie wieder königlich sein können.«
»Ich hätte nie gedacht, daß mir einmal ein Mensch, und dazu noch dieser, leid tun könnte«, sagte Schwinge traurig. »Sein Tod hätte mich vermutlich nicht berührt. Aber den Namen zu verlieren - das möchte ich niemandem wünschen.«

Am nächsten Morgen weckte sie lautes Husten. Mit geschlossenen Augen blieb Keil liegen. Es wunderte ihn nicht weiter, daß einer der Menschen sich erkältet hatte, denn sie schienen an starken Regen nicht gewöhnt zu sein. Hoffentlich wurden jetzt nicht beide krank! Aber es mußte möglich sein, sie schnell wieder zu heilen. Kein Grund also, sich Sorgen zu machen.
»Wer immer da hustet - er soll damit aufhören!« murrte die verschlafene Stimme Felders. »Wie soll ein vernünftiger Mensch da noch ein Auge zumachen können?« Als Antwort bekam er nur ein weiteres Husten. »Hör mal, ich will schlafen! Wenn du nicht sofort Ruhe gibst, Lonnìl, werde ich unser Schwert gegen dich einsetzen müssen!«
Nun mischte sich ein zweites Husten in das Erste. Gleichzeitig hörte Keil Felder fluchen. Er setzte sich auf. Was war da los? Wenn Lonnìl hustete und Felder vor sich hin schimpfte - wer hustete dann noch?
Es war Morren. Der Zauberer hockte auf seinem Lager und stützte sich mit einer Hand auf dem Boden auf. Sein Gesicht war vom Husten rot angelaufen. Lonnìl hatte inzwischen wieder zu keuchen aufgehört. Aber Morren schien für den Rest des Tages so weitermachen zu wollen.
»Morren? Was ist mit dir los?«
»Ich … weiß nicht«, brachte der Zauberer mühsam hervor. »Mir ist kalt! Und ich muß immerzu …« Ein weiterer Hustenanfall schüttelte ihn und raubte ihm die Sprache.
»Dann hast du dich erkältet«, stellte Lonnìl mit rauher Stimme fest. »Ich mich auch, aber das könnte schlimmer sein.«
»Dann legt euch hin und schlaft! Oder sucht euch eine andere Höhle, statt uns den Schlaf zu rauben und uns alle anzustecken! Ich bin nämlich nicht erkältet, und ich habe es auch nicht vor. Gute Nacht!« Ohne aufzusehen, ergriff Felder einen der herumliegenden Knochen und warf ihn in Morrens Richtung, verfehlte ihn aber.
»Ich kann nicht krank geworden sein!« hustete Morren. »Ich habe mich doch warm gehalten! Zauberer erkälten sich niemals.«
»Du solltest nicht soviel reden«, belehrte ihn Lonnìl. »Schone deinen Hals!«
»Da stimme ich ihm voll zu«, sagte Felder. »Seid einfach ruhig!«
Keil konnte sich nicht erinnern, den Menschen jemals in derart schlechter Laune erlebt zu haben. Sonst nahm er immer alle Dinge sehr leicht - selbst der Verlust seines Königreiches schien ihm weniger Probleme bereitet zu haben als allen anderen.
»Geht es dir nicht gut?« fragte Keil daher. Immerhin hustete Felder nicht.
»Mir geht es so hervorragend, wie es nur jemandem gehen kann, der in klatschnassen Kleidern eine Nacht auf steinhartem Boden verbracht hat. Glaubt ihr vielleicht, ich hätte schlafen können - bei dem Gedanken an dieses Schwert? Und dabei hätte ich etwas Schlaf durchaus gebrauchen können.«
»Das kann man wohl sagen!« sagte Morren, der sich anscheinend ausgehustet hatte. Die angenehme Stimme des Zauberers klang jetzt seltsam heiser. »Und ich wage zu behaupten, daß du von uns allen am besten geschlafen hast, denn du hast lauter geschnarcht als wir alle zusammen.«
»Das ist nicht weiter verwunderlich«, meinte Keil. »Die Alifwin schnarchen niemals.«
Kurz, nachdem sie alle aufgestanden waren - auch Felder hatte, wenn auch mit massiver Gewalt, dazu bewegt werden können - kam Schwinge zurück. Sie hatte nichts erbeutet und trug kaum dazu bei, die schlechte Laune wieder zu heben. Da sie es eilig hatten, die Höhle wieder zu verlassen, brachen sie schnell auf. Ihre Kleider waren immer noch naß, und Morren war zu sehr mit seinem Husten beschäftigt, als daß er versucht hätte, sie durch Zauberei zu trocknen. Außerdem hatte er vergessen, in der Nacht ein Feuer anzuzünden. Felder schien sich den Gedanken an das Schwert endgültig aus dem Kopf geschlagen zu haben, denn er sprach nicht weiter davon. Er schimpfte vor sich hin und blinzelte immer noch müde im Licht der Morgensonne. Schwinge schwieg wieder. Lonnìl sah sich nach den Seiten um und schien sich unwohl zu fühlen.
»Das ist also der Feenforst«, sagte er auf die Art, welche die Menschen als Flüstern bezeichneten. Sie merkten nicht, daß es fast genauso laut wie alles andere, was sie sagte, durch die Gegend schallte.
»Du mußt nicht flüstern«, antwortete Keil daher. »Die Feen wissen längst von unserem Kommen. Sie haben sich nur dafür entschieden, sich uns nicht zu zeigen.«
»Darüber können wir fast froh sein«, sagte Morren. »Sie hätten sich auch dafür entscheiden können, uns zu piesacken. Die Feen könnten uns das Leben ganz schön schwer machen, wenn sie nur wollten. Dies ist ihr Wald, und in ihm haben sie alle Möglichkeiten. Nicht umsonst haben sie einen Bann über ihn gelegt, daß niemand außer ihnen …« Er brach den Satz ab und begann wieder zu husten. Was danach kam, hatte Keil nicht erwartet. Er hatte nicht gedacht, daß Morren in der Kunst des Fluchens an Felder heranreichte. Aber er übertraf ihn spielend. Felder hörte mit großen Augen zu und versuchte, sich die interessantesten Begriffe zu merken, denn seine Lippen formten ungesprochen die Wörter nach. Keil hoffte, daß er sie nie wiederholen würde.
»Was ist mit den Feen?« fragte Schwinge. »Was haben sie gemacht?«
»Sie haben einen Bann über den Wald gelegt, daß niemand außer ihnen dort zaubern kann. Darum habe ich mich erkältet. In dem Moment, in dem wir gestern in den Th’enlathíel kamen, endete mein Wärmezauber, und ich habe es nur nicht gemerkt, weil ich es nicht erwartet hatte. Was mir das Gefühl gegeben hat, vor der Kälte geschützt zu sein, war nur der Glauben daran, daß der Zauber noch wirkte. Wir Zauberer sind so sehr an diese kleinen Bequemlichkeiten gewöhnt, daß wir ganz auf wärmende Kleidung zugunsten eleganter Modelle verzichten können. Das habe ich jetzt davon! Ich hätte es wissen müssen!« Er mußte wieder husten.
»Aber hast du nicht noch in deine Kugel gesehen?« fragte Lonnìl.
»Vorher, mein Freund, vorher! Im Th’enlathíel selbst nicht mehr. Es wird mir eine Lehre sein. Ein Zauberer, der sich erkältet!« Zur Abwechslung begann er nun zu niesen.
»Oh ja, Herr Zauberer!« trumpfte nun Felder auf, der eine Lage entdeckt hatte, in der er seine gute Laune wiederfinden konnte. »Mir machen Herr Zauberer Vorwürfe, weil ich als einziger weiß, wie man mit einem solchen Mistwetter umzugehen hat. Und wer erkältet sich? Ich? Nein. Herr Zauberer hat sich selbst erkältet. Das hast du nun davon.« Er grinste Morren überlegen an, aber dann zuckte er zusammen. »Was war das?«
Das hohe Kichern erklang noch einmal.
»Verflixtes Feenvolk! Sie haben uns!« keuchte der Zauberer.
Jetzt kicherte es von allen Seiten, auch wenn sie noch nichts von den Feen sehen konnten. Es war gut, daß die Menschen nicht verstanden, was die Feen ihnen nun mit ihren zwitschernden Stimmen zuriefen.
»Seht es euch an! Morren, der Zauberer, hat sich erkältet, und seine Nase leuchtet fast so rot wie die des mutigen Prinzen! Aber nein - er ist ja gar kein Prinz mehr! Und er ist auch nicht sehr mutig! Wie sollen wir ihn dann nennen?«
Woher kannten sie Felders Geschichte? Aber Keil wußte nur sehr wenig über die Feen. Zwar waren sie die nächsten Verwandten der Alifwin, aber keiner wäre jemals auf die Idee gekommen, auf das Geschwätz einer Fee zu hören. Man durfte sie nicht für voll nehmen.
»Er nennt sich Felder!« zirpten die Feen und lachten schallend. »Das sind die einzigen Felder, die er noch hat, alle anderen hat er verloren! Wir wollen sehen, ob man diese Felder auch bepflanzen kann!«
»Aua!« sagte Felder. »Ich will nicht behaupten, daß es diese kichernden Feen waren, aber irgend etwas bewirft mich mit Eicheln. Na wartet!« Er versuchte, die Eicheln zurück zu schnipsen, aber ein fröhliches Kichern zeigte, daß er nicht getroffen hatte.
Keil versuchte, nicht weiter auf die Feen zu achten, denn das war vermutlich die einzige Methode, sie wieder los zu werden. Aber sie würden kaum abzuschütteln sein, jetzt, wo sie in Felder so ein nettes Spielzeug gefunden hatten. Morren sah und hörte dem Treiben mit einer gewissen Belustigung zu.
»Es ist fein, daß sie es gerade auf dich abgesehen haben, Felder! Jetzt bekommst du endlich einen Geschmack davon, was wir täglich mit dir durchstehen müssen.«
»Habe ich euch jemals mit Eicheln beworfen?« fragte Felder und traf zur Abwechslung einmal Morren am Ohr.
»Also waren es die Feen, die verhindert haben, daß deine Zauber gestern funktionierten«, sagte Keil der Hohen Sprache zu Morren. »Das bedeutet, daß wir uns umsonst Sorgen gemacht haben. Außerhalb des Waldes hättest du Felder verzaubern können, wann immer du wolltest. Er hat seinen Namen nicht verloren.«
»Ich hoffe, du hast recht«, antwortete Morren.
»Du irrst dich, Flötenspieler!« riefen die Feen. »Es ist nicht, wie du denkst! Und es ist nicht so, wie ihr dachtet! Er hat einen Namen, aber einen Namen hat er nicht! Und sieh zu, daß du selbst deinen Namen nie vergißt! Du könntest ihn allzu schnell verlieren! Und haltet alle eure Köpfe fest!«
Ein Regen von Bucheckern ergoß sich über sie. Die Feen konnten sie nicht alle einfach von dem Bäumen geschüttelt oder geworfen haben, denn es war noch viel zu früh im Jahr. Vermutlich war es ein Teil ihrer Magie, über die niemand etwas Genaues wußte, vielleicht nicht einmal die Feen selbst. Sie waren zu kindisch, um sich irgendwelche Gedanken über Magie zu machen. Sie war eben einfach da.
Keil pflückte ein paar Eckern aus seinem Haar, die sich in dem silbernen Reif verfangen hatten. Natürlich waren die Feen lästig, aber bestimmt nicht böse. Auf ihre Art waren sie sehr interessant, und er fragte sich, warum die Zauberer sie noch nicht so weit erforscht hatten.
Während sie langsam durch den Wald wanderten und darauf achteten, auf den Wegen zu bleiben, damit sie nicht in die Irre liefen, zeigte sich ihnen keine einzige Fee, aber ihre spöttischen Rufe und Wurfgeschosse begleiteten die Gruppe und zeigten, daß sie alles andere als alleine waren. Die Feen hatten jetzt etwas von Felder abgelassen und verteilten ihre Attacken ‘gerecht’ auf alle, wobei Lonnìl wohl das wenigste abbekam. Als sich ein ganzer Haufen Laub plötzlich über Schwinge ergoß, riß ihr die Geduld.
»Hört auf, ihr Feenpack!« rief sie. »Belästigt uns nicht weiter!«
»Ihr versteht, was sie sagen, nicht wahr?« fragte Lonnìl. »Was wollen sie?«
»Man kann es nicht übersetzen«, sagte Keil schnell. »Und … ich glaube nicht, daß du das wirklich wissen willst.«
Lonnìl seufzte. »Ihr versteht die Sprache eines jeden Lebewesens. Und ich könnte nicht einmal verstehen, was Felder redet, wenn ihr nicht dabei wärt.«
»Wie kommst du darauf?« fragte Keil erstaunt. Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Manchmal konnte es auch lästig sein, alle Sprachen zu verstehen.
»Ich habe mit Felder darüber geredet. Die Menschen von Thoria sprechen eine andere Sprache als mein Volk. Felder hat zwar auf seinen Reisen viele verschiedene Sprachen gelernt, doch Dunistani kann er nicht. Aber mit uns sprecht ihr eine Sprache, und wir verstehen alles. Wie geht das?«
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll …«, sagte Keil. Er hätte nicht erwartet, daß die Menschen das Sprachproblem überhaupt bemerkt hätten. »Sagen wir es so: Es ist keine bestimmte Sprache, oder eigentlich doch. Es ist die Sprache der Menschen. Sie besteht aus allen Sprachen, die ihr sprecht, und obwohl kein Volk auf der Welt diese Sprache verwendet, versteht sie doch jeder Mensch. Aber die Menschen wissen nicht, daß sie diese Sprache haben, und darum verstehen sie einander nicht.«
»Das hast du schön gesagt, Flötenspieler!« riefen die Feen.
»Aber haben wir diese Sprache jetzt gelernt?« fragte Felder, der interessiert zugehört hatte. »Oder werden wir uns in einigen Jahren wieder begegnen, ohne Elfen in Reichweite, und uns nichts mehr sagen können?«
»Das weiß ich nicht«, gab Keil zu. »Vielleicht hängt es nur davon ab, daß ihr euch sonst nicht verstehen wollt? Ich habe noch nie Menschen erlebt, wenn keine Alifwin in der Nähe waren. Ihr werdet es sehen.«
»Also sprechen wir keine Sprache«, versuchte Felder zusammenzufassen, »sondern nur die Idee ein Sprache … Nun, Ideen kann man sich merken und sie in der Welt bekannt machen. Wenn wieder alle Menschen eine gemeinsame Sprache hätten, dann …« Er brach ab, aber Keil wußte, was er hatte sagen wollen: Daß dann alle Menschen vereint über die Welt herrschen konnten. Keil war ein wenig erstaunt, daß Felder den Satz nicht zu Ende gesprochen hatte. Sonst wägte er seine Worte weniger ab. Überhaupt war er heute irgendwie ernster als sonst. Vielleicht machten die Feen ihm zu schaffen, so daß er sich nicht traute, seine üblichen Späßchen zu treiben? Auch Lonnìl schien es zu merken.
»Was ist mit dir heute los?« fragte er. »Ist es noch wegen dem Schwert, oder warum bist du jetzt so … vernünftig?«
»Es ist noch viel schlimmer«, schwirrten die Feen. »Er ist nüchtern!«
»Es ist noch schlimmer, als du denkst«, sagte Felder gleichzeitig, mit einem bedauernden Tonfall. »Ich bin nüchtern.«

Der Nachmittag ging vorüber, ohne daß sich die Feen zeigten. Die Reisenden aßen ihre Vorräte und tranken von dem mitgebrachten Wasser, weil sie es nicht wagten, im Wald der Feen etwas zu jagen oder zu pflücken. Wenn sie ihn gegen sich aufgebracht hätten, würde er sie vielleicht nicht mehr gehen lassen, so wie das Schwert seine Opfer auf alle Zeiten festhielt.
Zwischen dem Th’enlathíel und dem Reich der Dunklen herrschte ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Für sich betrachtet, war der Wald der schönste, in dem Keil jemals gewesen war: Er war hell, fröhlich, einladend und hatte ganz und gar nichts Bedrohliches an sich. Vor allem aber wirkte er so jung, als ob er an diesem Morgen erst aus der Erde geschossen war, voller Kraft und voller Leben. Ihm fehlte jene ruhige Behäbigkeit, die es in Schwinges Wald gab. Dieser Wald war so munter wie ein fröhlicher Fluß. Und doch war es kein Ort, an dem Keil sich hätte wohl fühlen können. Auch wenn von den Feen gerade einmal nichts zu sehen oder zu hören war, so blieb doch immer daß Gefühl, daß sie jeden Schritt, der in ihrem Wald getan wurde, genau beobachteten. Niemand konnte hier das Gefühl haben, allein zu sein. Auf seine Art war der Th’enlathíel ebenso beklemmend wie das Dunkle Reich.
»Kommt heraus, ihr Feen!« rief Morren. »Wir sind eure Freunde! Wir wollen mit euch reden.«
»Aber wir reden schon die ganze Zeit mit euch!« riefen die Feen zurück. »Wenn ihr nicht zuhören wollt, seid ihr selber schuld! Wir wissen, was ihr sucht, und vermutlich besser als ihr, weil wir es haben. Aber ihr bekommt es nicht!«
»Also besitzt ihr die Harfe?« fragte Keil. Die Feen kicherten nur.
»Sie haben sie«, stellte Schwinge fest. »Hört zu, ihr Feen, wir gehören zusammen! Die Kinder der Hohen stehen sich gegenseitig bei! Ihr braucht die Harfe nicht, weil ihr viel zu klein seid, um auf ihr zu spielen, und ihr habt euren Wald, der euch beschützt. Die Alifwin brauchen diese Harfe, und wir bitten euch, sie uns zu geben. Sie gehört den Alifwin genauso wie euch.«
»Sie weiß es nicht!« zwitscherten die Feen fröhlich. »Die grimmige Jägerin weiß selbst nicht, was sie sucht! Aber ihr Herz ist zu sehr von Zorn erfüllt, als daß sie an etwas anderes denken könnte als ihre Rache! Alle lieben sie, und sie liebt niemanden!«
»Das ist nicht wahr!« rief Schwinge zornig. »Gebt ihr uns nun die Harfe?«
»Du kannst sie nicht haben, grimmige Jägerin! Niemand kann sie haben, außer dem Licht! Und das Licht sind wir!«
Plötzlich war Schwinge von vielen tanzenden kleinen Lichtern umgeben.
»Glühwürmchen! Um diese Tageszeit!« frohlockte Felder, obwohl er sicher selbst wußte, daß es nur die Feen sein konnten. Sofort wurde auch er umschwirrt. Die Feen setzten sich in sein Haar wie kleine Sterne und zupften an seinen Ohren, während er vergeblich versuchte, eine von ihnen zu fangen. Aber es schien ihm ebenso viel Spaß zu machen wie ihnen.
»Na wartet, ich kriege euch noch!« rief er lachend. »Ich kann einen guten Preis für euch erzielen, wenn ich euch auf dem Jahrmarkt anbiete! Man könnte dunkle Verließe mit euch erhellen, wenn man euch mit einer Schnur an die Decke hängt.«
»Hör auf damit!« sagte Morren ärgerlich. »Und zapple nicht so herum! Wir müssen ernste Dinge mit den Fee besprechen.«
»Aber wir nicht mit euch!« riefen die Feen vergnügt. »Wir wollen den Mann ohne Namen behalten! Wir mögen ihn so sehr!« Wie als Beweis begannen sie, den immer noch herumalbernden Felder mit Küssen zu bedecken. »Ihr anderen könnt gehen, aber den Menschen behalten wir hier!«
Jetzt mußten sie aufpassen. Möglicherweise machten die Feen nur Witze, aber es war ebensogut möglich, daß sie Felder tatsächlich nicht mehr gehen lassen würden. Der Mensch konnte nicht wissen, um was es ging.
Morren schnauzte ihn barscher an, als es nötig war. »Felder, du wirst jetzt sofort wieder ernst, oder es gibt Ärger!«
»Wenn sie ihren Spaß haben dürfen - warum dann ich nicht?«
Ohne weitere Vorwarnung gab ihm Morren eine Ohrfeige.
»Tut unserem Felder nicht weh!« riefen die Feen. »Wenn wir mit ihm spielen dürfen, sagen wir euch, wo ihr die Harfe aus Laub findet, die ihr sucht!«
Morren blieb stehen und hob eine Hand. »Laßt uns eine Rast machen!« sagte er zu dem Menschen. Und er fügte in der Hohen Sprache hinzu: »Darüber müssen wir reden.«
»Ich wüßte nicht, was er da zu bereden gibt«, sagte Keil. »Du wirst ihnen doch wohl kaum Felder überlassen wollen!«
»Ich wüßte nicht, warum wir es nicht sollten«, sagte der Zauberer ruhig. »Sie haben uns ein sehr verlockendes Angebot gemacht. Was hältst du davon, Schwinge? Du wolltest Felder doch immer gerne loswerden, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Schwinge. »Es kommt darauf an, was sie mit ihm vorhaben. ‘Spielen’ kann so vieles bedeuten. Sicher, ich mag ihn nicht besonders, aber trotzdem … es wäre falsch, ihn einfach zu verraten. Immerhin vertraut er uns. Und wir dürfen nicht vergessen, daß er sich um ein Haar für uns geopfert hätte. Um uns zu helfen, hat er alles verloren - sogar seinen Namen.«
»Es überrascht mich, diese Worte aus deinem Mund zu hören«, sagte Morren erstaunt. »Ich hätte erwartet, daß du als erste von uns allen zugestimmt hättest.«
»Und mich wundert, mit welcher Leichtigkeit du Felder opfern willst«, rief Keil wütend. »Ich hatte gedacht, er ist unser Freund! Gestern hast du dir noch Sorgen um ihn gemacht. Und jetzt willst du ihn ans Messer liefern?«
»Keil, du verstehst das falsch.« Morren Stimme blieb ruhig und belehrend. »Natürlich ist Felder unser Freund. Aber es geht doch nicht darum, ihn den wilden Tieren zum Fraß vorzuwerfen. Die Feen wollen nur eine Zeitlang mit ihm spielen. Dann verlieren sie sehr schnell die Lust an ihm. Sie sind ein unstetes Völkchen. Und er hat an ihnen genau so viel Vergnügen. In gewisser Hinsicht sind sie verwandte Seelen: Nicht dumm, aber kindisch und töricht und nur auf ihr Vergnügen aus. Sie werden ihm nichts tun. Und wir bekommen die Harfe.«
»Und wenn sie ihn wirklich behalten wollen?« fragte Keil. »Da hätte er besser bei den Dunklen bleiben können - mit denen konnte er sich noch verständigen.«
»Aber wir sind durch die halbe Welt gereist, um diese Harfe zu bekommen!« wandte Schwinge ein. »Wir haben Felder niemals gebeten, mit uns zu kommen. Es kann doch nicht plötzlich unser Ziel sein, um jeden Preis einen närrischen Menschen zu beschützen! Es geht doch um viel mehr! Was ist dir wichtiger - die Zukunft dieses Menschen, oder die der Alifwin?«
»Außerdem wäre Felder selbst der erste, der zustimmen würde«, sagte Morren. »Es ist genau die Art von Abenteuer, für die er sich begeistert. Er hat es geschafft, die Dunklen auszutricksen. Da wird er auch noch mit ein paar Feen fertig!«
»Und warum besprechen wir das Ganze dann heimlich hinter seinem Rücken, wenn ihr davon ausgeht, daß er einverstanden wäre?«
Und warum war er dann selbst noch nicht aufgestanden und hatte Felder und Lonnìl in das Angebot der Feen eingeweiht? Schwinge hatte recht. Es ging um mehr als Felder. Es ging um die Harfe. Und die Feen würden sicher bald genug von Felder haben.
»Und? Wißt ihr jetzt, was ihr wollt?« fragten die Feen.
Schwinge und Morren blickten zu Keil hinüber, aber der sagte nichts. Er schaute zu Boden, um Felder nicht direkt ansehen zu müssen.
»Wir haben uns entschieden«, sagte Morren und hustete. »Wir nehmen euer Angebot an.«
Die Feen brauchen in ein Freudengeheul aus und stürzten sich auf Felder, bis dieser fast ganz in eine Wolke aus tanzendem Licht eingehüllt war.
»Hört auf!« rief der Mensch. »Was zuviel ist, ist zuviel! Ich kann gar nichts mehr sehen!«
»Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht«, sagte Keil leise.
»Das wird sich noch herausstellen«, erwiderte Morren.
Dann schwiegen sie. Nichts war zu hören als das schrille Kichern der Feen.
»Und?« fragte Schwinge dann. »Was ist nun mit der Harfe?«
»Sie ist hier!« riefen die Feen.
»Wo ist sie?« fragte Morren. »Ich kann sie nicht sehen.«
»Dann mußt du blind sein, Zauberer! Sie ist hier!«
Im Schein der roten Abendsonne tanzten die Lichter zwischen den Zweigen umher. Das war alles, was es zu sehen gab. Und plötzlich begriff Keil.
»Der Wald!« flüsterte er. »Die Harfe ist der Th’enlathíel.«
»Der Flötenspieler hat gewonnen!« jubelten die Feen. »Die Harfe gehört dem Licht ganz allein, und darum könnt ihr sie nicht mitnehmen. Jetzt freut ihr euch, oder?«
Wütend schleuderte Schwinge ihren Bogen zu Boden. »Sie haben uns reingelegt!« rief sie.
»Ja«, sagte Morren, und er klang nicht im mindesten überrascht. »Das haben sie. Und sie haben Felder.«
»Du hast es gewußt, Zauberer!« rief Keil. »Und du hast Felder absichtlich in die Falle geschickt! Warum hast du das getan?«
»Ich habe es nicht gewußt«, entgegnete Morren. »Aber ich hätte es wissen müssen. Wir dürfen niemals die Feen unterschätzen. Sie sind genau wie die Dunklen, nur, daß sie leuchten.«
»Wir sind nicht wie die Dunklen!« zirpten die Feen. »Wir sind besser! Die Dunklen haben Felder nicht bekommen! Wir schon! Wenn die Dunklen euch einen Tausch angeboten hätten - Felder gegen die Laute - dann hätten sie ihn bekommen. Aber sie wollten ihre Laute behalten. Und jetzt haben wir ihn.«
Langsam wurde Keil alles klar. Es ging von Anfang an nur um Felder. Die Dunklen hatten die Laute als Köder ausgelegt. Aber in Wirklichkeit ging es ihnen darum, Thoria zu bekommen. Und weil sie wußten, daß sie es von dem herrschenden König nicht bekommen konnten, mußten sie den Tag abwarten, an dem er starb. Dann hatten sie seinen Sohn in ihr Reich geholt. Felder hatte nicht heldenhaft sein Land verloren, um den Alifwin zu helfen. Er war nichtsahnend in eine sorgfältig vorbereitete Falle gelaufen.
»Was ist los?« fragte Lonnìl. »Worum geht es, das wir nicht wissen dürfen? Wir können vielleicht eure Sprache nicht verstehen, aber eure Gesichter sprechen deutlicher als alles andere. Was ist mit uns?«
»Wir dürfen es ihm nicht sagen!« sagte Schwinge. »Wenn sie erfahren, daß wir Felder den Feen überlassen haben, werden sie vermutlich beide gegen uns kämpfen.«
»Das übernehme ich schon«, sagte Morren. »Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht, meine Freunde. Die gute ist: Wir haben die Harfe gefunden.«
»Und was ist die Schlechte?« fragte Felder und versuchte vergeblich, ein paar Feen von seinen Schultern zu schütteln.
»Die schlechte Nachricht lautet: Sie ist aus Laub, weil sie dieser Wald ist. Und wir sind alle Gefangene der Feen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Felder. »Wie wollen sie uns denn gefangennehmen? Denn abgesehen davon, daß sie um so vieles kleiner sind als wir, haben sie nicht einmal richtige Körper. Sie sind einfach nur diffuse Lichtwesen. In einem Kampf würden sie auf jeden Fall den Kürzeren ziehen.« Es klang weder überzeugt noch überzeugend. Felder hatte selbst gesehen, zu was die Feen fähig waren, und ihm war sicher klar, daß sie nicht aus diesem Wald herauskamen, wenn die Feen es nicht wollten.
»Der Zauberer lügt!« riefen die Feen. »Wir haben euch nicht gefangengenommen! Warum tust du das, Zauberer? Keiner von euch muß hierblieben außer dem Felder!«
»Wenn er hier bleibt, bleiben wir alle«, sagte Morren.
»Das war eine dumme Entscheidung!« riefen die Feen. »Schön für uns, aber dumm für euch. Wir können warten. Wir haben Zeit. Wir haben unsere Harfe bereits, während ihr eure Flöte noch lange nicht gefunden habt. Und ihr werdet sie hier auch nicht finden. Aber bleibt nur, ihr alle. Uns soll es recht sein.«

Es wurde ein sehr langer und ungemütlicher Abend. Die Feen umschwirrten sie, aber was sie ihnen zuriefen, konnte Lonnìl nicht verstehen. Die fremde Sprache blieb ein unüberwindbares Hindernis. Auch wenn Felder anscheinend alles unternahm, um sie zu lernen.
»Die Feen«, fragte er Keil ganz beiläufig, »müßten sie nicht eigentlich wie Fwin ausgesprochen werden?«
»Woher weißt du das?« antwortete Keil erstaunt und merkte zu spät, daß er angefangen hatte, seine geheime Sprache zu verraten, als Schwinge ihn böse anfauchte. Aber Morren war hellhörig geworden und zog Felder zu sich herüber.
»Wie kommst du darauf?« fragte er langsam und überdeutlich, so als müsse er sich mühsam von einem Wutausbruch abhalten. Er war ohnehin in sehr gereizter Stimmung, und Felder hätte sicher keinen schlechteren Zeitpunkt wählen können, um Sprachforschungen zu betreiben.
Aber Felder war sich seines Überaschungserfolges durchaus bewußt, und diesen Triumph gedachte er bis zum letzten auszukosten - so wie er es mit allen Erfolgen tat. »Habe ich nicht einmal erwähnt, daß ich gut bin in fremden Sprachen? Es ist eine der drei Sachen, in denen ich wirklich gut bin, neben Fechten und einem dritten Aspekt, auf den ich nicht näher eingehen möchte. Ich spreche vier oder fünf Sprachen mehr oder weniger fließend und kann in den meisten anderen Sprachen oder Dialekten zumindest ein Bier bestellen, einen Mann beleidigen und einer Frau schmeicheln. Ich lerne, indem ich zuhöre. Aber bei euch weiß man nie, wo ein Wort aufhört und das nächste anfängt, so wie ihr die Sätze zusammenzieht. Wenn wir nicht bei den Elben gewesen wäre, würde ich immer noch im Dunkeln tappen. Bildlich gesprochen, meine ich. Die Elben machen zumindest Atempausen. Zuerst wußte ich nur, daß euer merkwürdiger Name, Alifwin, wörtlich übersetzt Leben im Licht bedeutet. Danach konnte ich es immerhin in seine Einzelteile zerlegen: Al-i-Fwin. Fwin heißt also Licht. Diese Feen hier sind süße kleine Lichterwesen. Was läge also näher, als sie schlicht und ergreifend ‘Licht’ zu nennen, so wie es umgekehrt die Dunklen tun? Und jetzt hat Keil meinen Verdacht bestätigt. Feen kommt von Fwin. Scheint, als würde euch eure eigene Sprache zu schwierig. Dann dürft ihr euch nur nicht beschweren, wenn wir euch Elfen nennen. Es ist im Prinzip das Gleiche.«
»Ich muß sagen, ich bin beeindruckt«, sagte Morren. »Das hätte ich dir nicht zugetraut.«
»Manchmal schaffe ich es eben doch noch, die Leute zu verblüffen. Ich wäre aber vermutlich nicht darauf gekommen, wenn ich nicht nüchtern wäre und mich nicht irgendwie ablenken müßte.«
»Was weißt du noch von der Hohen Sprache?« fragte Morren weiter.
Felder mußte den drohenden Unterton überhört haben, denn er fuhr munter fort: »Nicht entsetzlich viel. Eigentlich nur die Sachen, die ihr mir übersetzt habt. Dolua’d’llán heißt ‘Hort der Trommel’, aber ich nehme vom reinen Klang her an, daß Dolua Trommel heißt. Man kann viel von einer Sprache übers Lautmalerische erfahren. So ein langgezogenes Llán kann einfach nicht Trommel heißen. Llaaaaan - das klingt wie ein Gähnen. Während Dolua Dolua Dolua - das klopft richtig. Ich habe doch Recht, oder? Und was bedeutet Th’enlathíel? Es kann nicht wirklich Feenforst bedeuten. Es ist kein Fwin drin.«
»Du mußt nicht glauben, daß wir so dumm sind, dir das auch noch zu verraten«, sagte Morren. »Hör mir zu, und zwar gut: Es wird niemals ein Mensch die Hohen Sprache lernen. Du wirst alles, was du über sie gelernt hast, wieder vergessen, und Lonnìl auch, selbst wenn er damit weniger Schaden anrichten könnte. Wenn ich dich dabei erwische, daß du Fortschritte machst oder dich eines Tagen in einer Kneipe mit deinen Sprachkenntnissen protzen höre, dann bekommst du Ärger mit mir. Wirklich großen Ärger.«
»Ich zittere vor Angst«, sagte Felder ungerührt. »Wenn das nicht ungerecht ist! Die Elfen dürfen alle möglichen Sprachen sprechen, und ich darf nicht einmal drei Brocken von ihrer Sprache aufschnappen? Vermutlich soll ich auch noch so tun, als hätte ich nie auch nur einen Elfen getroffen, am Besten, als hätte es überhaupt nie welche gegeben?«
»Du hast es erraten. Und das solltest du auch ernst nehmen. Ich werde ein Auge auf dich haben in der Zeit nach diesem Abenteuer - sofern du es überlebst. Ich werde genau hören, was für Geschichten du erzählst, damit man dir etwas zu trinken ausgibt.«
Felder schwieg beleidigt, nicht nur wegen Morrens neuem Seitenhieb auf seine unrühmliche Zukunft, sondern auch, weil er wahrscheinlich eher mit einem Lob für seine Überlegungen gerechnet hatte als mit einer derartigen Zurechtweisung.
Mit dem Fortschreiten des Abends kehrte auch Lonnìls Erkältung zurück, die ihn zum Glück den Tag über in Ruhe gelassen hatte, und Morrens Husten wurde stärker. Aber das war es wohl nicht einmal, was die schlechte Laune des Zauberers verursachte. Auch, daß die Feen sie gefangen hielten, war nur zweitrangig. Morrens Hauptproblem lag darin, daß er nicht über seine Macht verfügen konnte. Die Kraft des Feenwaldes hatte ihn auf ein menschliches Maß reduziert. Und damit kam er schwer zurecht. Normalerweise hätte er um diese Tageszeit längst ein behagliches Feuer entfacht, indem er einfach nur auf das aufgehäufte Reisig deutete, und auch seine Erkältung hätte er sofort selbst kuriert. Erst jetzt, als er darüber nachdachte, fiel Lonnìl auf, wie oft Morren seine Magie einsetzte, für welch alltägliche Dinge. Ohne sie mußte er völlig hilflos sein. Konnte ein Zauberer überhaupt ohne seine Magie leben? Konnte Morren es?
»Ich halte es nicht mehr lange aus, hier rumzusitzen!« sagte Felder und stand auf. »Wir haben ja noch nicht einmal versucht, zu entkommen. Jetzt sind weit und breit keine Feen mehr zu sehen. Warum sehen wir nicht einfach, ob wir den Wald verlassen können? Was bringen wir den Feen, wenn wir hier sitzen und uns gegenseitig anöden?«
»Jetzt ist es sowieso zu spät, um noch einen Weg nach draußen zu finden«, sagte Morren.
»Aber ich habe Hunger! Ich habe Durst! Wir haben den ganzen Tag über nichts richtiges gegessen. Wenn wir noch länger hierbleiben, werden wir krepieren!«
»Halt den Mund und betrink dich«, knurrte Morren und hustete.
Felder schüttelte bedauernd den Kopf. »Geht nicht. Reicht nicht.«
Es gab noch eine Menge Ärger, bevor sie einschliefen. Felder versuchte, aus reiner Langeweile einen Streit vom Zaun zu brechen. Schwinge redete derart aufgebracht auf Morren ein, daß Lonnìl erstmals froh war, sie nicht verstehen zu können. Außerdem beschimpfte sie Felder, dem sie die Schuld für die Ereignisse des Tages gab. Wenn er sich nicht so lächerlich und kindisch benommen hätte, wären die Feen niemals auf sie aufmerksam geworden. Keil sagte überhaupt nichts, sondern hockte regungslos auf einer Wurzel und starrte seine Flöte an, die er in den Händen hielt, als wüßte er nicht, was er damit anfangen sollte. Lonnìl fror und fühlte sich überhaupt ausgesprochen unwohl. Aber endlich kam die Nacht und ließ sie alle zur Ruhe kommen.

Keil wußte nicht, was er machen sollte. Seine Freunde schliefen schon - selbst Morren hatte sich endlich in den Schlaf gehustet -, aber er selbst war nicht einmal müde. Dieser Tag war so anders verlaufen, als er erwartet hatte! Es war nichts Besonderes, daß die Feen sie hereingelegt hatten - es wäre erstaunlich gewesen, wenn nicht. Aber Keil hatte Felder verraten für nichts und wieder nichts, und das ließ ihm keine Ruhe. Wenn Morren nicht derart halsstarrig darauf beharrt hätte, daß sie alle im Th’enlathíel blieben, hätte Schwinge längst ihren Willen durchgesetzt. Sie wollte beide Menschen zurücklassen. Und würde Keil tun? Davor fürchtete er sich mehr als vor irgend etwas anderem: Dem Moment, in dem er sich entscheiden mußte zwischen den Menschen und den Alifwin. Egal, wen er verriet, es würde falsch sein.
Morren wollte die Feen zermürben. Aber Keil wußte auch, warum Morren das machte. Der Zauberer war von den Feen überlistet worden, und das konnte er nicht verkraften. Jetzt zu gehen, ohne Harfe und ohne Felder, hätte ein Eingeständnis bedeutet. Morren war sehr stolz. Jetzt mußte er zeigen, daß er in der Lage war, auch ohne Zauberei die Feen besiegen zu können, nur um es sich selbst zu beweisen. Aber seine Methode bestand darin zu warten. Die Feen waren ebenso unsterblich wie er, und es war nicht klar, wer zuerst die Geduld verlor. Schlimmstenfalls würden sie Jahrhunderte auf dieser Lichtung sitzen, wenn sie nicht vorher verhungerten. Morren würde vielleicht nicht einmal dann aufgeben, wenn der Mensch, um den sich der ganze Ärger drehte, längst gestorben war - nur um sein Recht zu behalten.
So konnte es nicht weitergehen. Es mußte doch eine Lösung geben!
Keil dachte an jenen Tag, der nun schon so lange vergangen zu sein schien, an dem er durch Zufall den Namen des Waldes erfahren hatte. Und wenn der Wald der Alifwin einen Namen hatte, dann mußte der Th’enlathíel erst recht einen besitzen.
Natürlich war da noch die Magiesperre, die über dem Wald lag. Aber Keil hatte nicht vor, irgendwelche Magie zu wirken. Er wollte nur den Namen des Waldes wissen. Vielleicht hatte der Wald sein Spiel aufhalten können, als es um Felders Namen ging. Aber würde er einem Spiel widerstehen können, das an ihn selbst gerichtet war? Das mußte man herausfinden. Wenn Keil es probierte und scheiterte, würde es keine weiteren Folgen nach sich ziehen.
Aber wenn er Erfolg hatte? Das war das viel größere Problem. Keil konnte spüren, wie die Melodien aus ihm hinaus drängten. Wenn er jetzt seine Flöte nahm, mußte der Wald ihm den Namen sagen. Aber die Wahrheit war, daß Keil Angst hatte vor seiner eigenen Macht. Er war nicht wie Morren, für den sie etwas Selbstverständliches war - zu selbstverständlich. Macht wollte benutzt werden. Keil hatte dies noch nie so stark gefühlt wie jetzt. Und es war im Moment wirklich die einzige Rettung, dem Wald zu sagen, daß er sie gehen lassen sollte. Aber was würde Morren sagen? Wenn sie durch Keils Verdienst aus dem Wald herauskamen, dann bedeutete es zwar, daß die Feen verloren hatten, aber Morren ebenso. Und das würde Morren ihm so schnell nicht verzeihen. Die Zauberer lächelte über die Liedmagie der Alifwin. Sie durfte sich nicht als überlegen erweisen. Jetzt erst merkte Keil, was für eine Angst er eigentlich vor Morren hatte, noch größere als vor Schwinge. Noch war Morren sein Freund. Aber was, wenn er den Zorn des Zauberers auf sich zog?
Die Flöte lag warm in seiner Hand. Sie fühlte sich lebendig an. Es ging nicht anders. Keil mußte spielen. Er konnte nicht länger vor seiner eigenen Kraft davonlaufen.
Leise stand er auf und verließ die Lichtung. Es war am Sichersten, wenn die anderen ihn nicht hören konnten. Vielleicht konnte er es so anstellen, daß Morren es nicht merkte und es für seinen eigenen Verdienst hielt, wenn sie aus dem Wald entkamen. Schließlich kam er an eine Stelle, die ihm geeignet erschien. Es war eine andere Lichtung, kleiner als die erste und vollkommen ruhig. Der Wald gab keinen Laut von sich. Über den Gipfeln war das Licht der Sterne zu sehen. Keil setzte sich auf den Boden und begann zu spielen. Er machte sich keine Gedanken darüber, welche Töne er spielen mußte. Die Melodie war immer dagewesen. Jetzt ließ er sie frei.
Der Name traf ihn mit einem Schlag, der ihm fast den Atem raubte. Keil ließ die Flöte sinken; er war froh zu sitzen. Dieser Name übertraf den von Schwinges Wald um Längen. Hier hatten sich die alte Macht des Waldes und die der Hohen verbündet, um etwas zu schaffen, daß mehr war als ein Wald. Es war eine eigene Welt. Und Keil kannte ihren Namen!
Jetzt wußte er auch, warum man den Feenforst Th’enlathíel nannte - ein merkwürdiges Wort, über das sich Felder nicht zu Unrecht gewundert hatte. Es war eine Erinnerung an den wirklichen Namen, den die Hohem diesem Wald gegeben hatten: Thíl-en-la-thíèl. Keil hatte erwartet, daß sich der Name irgendwie um die Harfe drehen mußte, aber er bedeutete ‘Freude aller Freuden’.
Um ihn herum erwachte der Wald zum Leben. Die Feen hatten seine Flöte gehört, und jetzt umschwirrten sie ihn ärgerlich. Doch für Keil waren sie nicht mehr als tanzende Lichter in der Nacht. Ihre Kraft reichte nicht an seine heran. Die Feen waren an ihren Wald gebunden, und Keil konnte mit ihnen tun, was er wollte.
»Was hast du gemacht?« riefen die Feen. »Du kannst nicht flöten in unserem Wald!«
»Ich kann flöten, wo immer ich will«, lachte Keil. »Die Kraft des Waldes war nicht stark genug gegen die Kraft der Musik. Er konnte verhindern, daß ich jedwede Art von Magie ausübe, bis auf eine: Er mußte mir seinen Namen sagen.«
»Und was wirst du jetzt tun?« fragten die Feen. »Was wirst du mit unserem Wald machen?«
»Ich werde gar nichts machen - unter einer Bedingung: Daß ihr uns morgen früh ziehen laßt. Auch Felder.«
»Und wenn wir das nicht tun?«
»Ihr könnt uns nicht zurückhalten. Es war der Wald, der uns aufgehalten hätte, nicht ihr. Ich muß nur dem Wald befehlen, uns gehen zu lassen. Ihr habt keine Macht über uns, aber ich habe Macht über euch. Tut, was ich sage.«
»Du bist gemein, Flötenspieler!« schrien die Feen.
»Nicht gemeiner, als ihr es seid. Ihr habt die Wahl: Geht zu Morren und sagt ihm, daß wir gehen können - dann bin ich fort, und euer Wald gehört euch wieder ganz allein. Oder ihr sagt nichts. Dann könnte ich auf die Idee kommen, zu bleiben. Und dann befehle ich dem Wald. Entscheidet euch.«
Die Feen verschwanden. Keil war allein auf der Lichtung. Und plötzlich begriff er, was er getan hatte. Er hatte keine Macht gewonnen. Die Macht hatte ihn gewonnen. Egal, wie sich die Feen entschieden, er mußte fort aus diesem Wald. Das war es, was er immer hatte vermeiden wollte und wovor ihn Drachenfliege, sein alter Meister, immer gewarnt hatte. Das erste Mal war Zufall gewesen. Aber nun hatte er einen Namen in Erfahrung gebracht mit dem direkten Ziel, Macht auszuüben. Und genau das mußte er jetzt vermeiden.
Bedrückt schlich er zurück zu der Lichtung, auf der die anderen schliefen, und legte sich hin. Aber er fand keine Ruhe. Ihm fielen immer neue Sachen ein, die er dem Wald befehlen konnte - sein Laub abzuwerfen, den Schutz für die Feen aufzuheben, das Schwert in der Höhle freizugeben, damit Felder es bekommen konnte … Er versuchte, alle Gedanken an Thíl-en-la … den Th'enlathíel aus seinem Kopf zu verbannen, aber es ging nicht. Der Name war alles, woran er denken konnte. Schließlich nahm er seine Flöte und spielte leise traurige Melodien, bis der Morgen graute. Im Spiel gelang es ihm fast, den Wald zu vergessen.
Er spielte noch immer, als am nächsten Morgen die Sonne aufging und die anderen erwachten. Der Kampf mit sich selbst hatte ihm mehr erschöpft als der fehlende Schlaf. Das würde er nicht noch einmal machen. Keine Namen mehr von Dingen, die größer waren als er selbst. Ein zweites Mal würde er nicht durchstehen. Und auch jetzt war es noch nicht vorbei. Noch waren sie nicht aus dem Wald heraus. Noch hatten die Feen sich nicht entschieden.
Die Laune der anderen schien über Nacht eher noch gesunken zu sein.
»Wohl auf zu einem weiteren Tag in Gefangenschaft«, brummte Felder, während er Lonnìl wachrüttelte. »Es gibt nichts zu tun, aber das heißt noch nicht, daß du dich auf die faule Haut legen kannst. Nutzen wir die Zeit. Wo ist unser Schwert?«
Während Lonnìl langsam aufstand, begann Felder bereits mit seinem Aufwärmtraining. Aber schon nach den ersten Liegestützen gab er auf. »Bringt ja doch nichts. Morren! Wo bleibt unser Kräutertee?«
»Ich habe dir gesagt, du sollst den Mund halten!« schrie Morren mit heiserer Stimme. Er sah zum Fürchten aus. Die ruhige Überlegenheit war aus seinem Gesicht verschwunden, und von der Erkältung waren seine Lippen aufgesprungen, die Augen gerötet. Wut und fanatischer Eifer standen in Morrens Züge geschrieben. Um nichts in der Welt würde der Zauberer von seinem Ziel abweichen, aber er zermürbte sich selbst, ganz ohne das Zutun der Feen. Keil fragte sich, ob ihm das selbst bewußt war. Die Feen würden den Kampf gewinnen, denn dies war ihre natürliche Umgebung. Aber Morren war hier in seiner menschlichen Gestalt nicht mehr als ein Mensch. Wenn er wie ein Mensch krank werden konnte, dann würde er ohne Magie auch altern wie ein Mensch. Und er konnte auch keine andere, weniger sterbliche Gestalt annehmen. Das mußte der Grund sein, warum die Zauberer bis jetzt so wenig über die Feen erforscht hatten. Sie vermieden es aus gutem Grund, sich in ihre Nähe zu begeben. Keil konnte dem Wald sagen, daß er Morren seine Zauberkräfte zurückgeben sollte … Nein, das würde er nicht. Er hatte den Namen des Waldes nur erfahren, um ihm einen einzigen Befehl zu geben. Mehr würde er nicht tun. Und er hatte sich jetzt gut genug in der Gewalt, um es wirklich bei diesem einzigen Befehl zu belassen. Er konzentrierte sich fest auf den Namen und seinen Willen.
Laß uns ziehen. Halte uns nicht zurück.

Der Wald lachte ihn aus. Ein kleines Geschöpf war gekommen und hatte Macht über ihn gewonnen, und alles, wozu es sie nutzen wollte, war die Bitte um freien Abzug. Aber der Wald würde ihm gehorchen. Sie konnten gehen. Keil hoffte, daß die Feen kamen, bevor er es Morren selbst beibringen mußte.
Die anderen hatten zum Glück nichts gemerkt.
»Jetzt habe ich ausnahmsweise einmal morgens schon Appetit, und dann gibt es nichts zu essen!« beschwerte sich Felder. »Es kann doch nicht die Absicht der Feen sein, uns verhungern zu lassen? Diese Beeren sehen eßbar aus. Ich bin sicher, sie hätten nichts dagegen …«
In dem Moment erschienen die Feen. Keil atmete erleichtert auf.
»Zauberer!« riefen sie. »Hey, Zauberer!«
Morren, der mit verschränkten Armen im Kreis gegangen war und auf den Boden gestarrt hatte, blieb stehen. »Was wollt ihr nun schon wieder?«
»Wir haben genug von euch! Ihr seid langweilig. Macht, daß ihr wegkommt. Und nehmt euren albernen Prinzen am besten mit!« Sie hatten Keils Absicht begriffen. Niemand sollte mehr behaupten, sie wären dumm.
Es war unglaublich, wie schnell neue Lebensfreude in den Zauberer kam. Er hatte gesiegt. »Ha!« schrie er triumphierend. »Ha! Wir sind frei!«
Keil blickte zu den Feen hinüber. Sie blinkte heller und dunkler, als ob sie ihm zuzwinkern wollten. Er nickte. Jetzt würde er sein Versprechen wahr machen und nichts an ihrem Wald verändern. Wahrscheinlich wußten die Feen selbst, wie froh er darüber war.
»Verschwindet!« riefen die Feen und warfen wieder mit Eicheln. »Seht zu, daß ihr eure Flöte findet! Wir wissen, wo sie ist! Aber wir sagen es nicht!«
»Ihr müßt es uns verraten!« sagte Keil. »Sonst -« Er brach ab. Fast hätte er sich versprochen. Die Feen lachten nur.
»Ihr müßt es schon selbst herausfinden! Sie ist da, wo ihr sie niemals suchen würdet!«
Mit einem letzten hohen Kichern verschwanden die Feen. Sie tauchten nicht mehr auf, bis die Gefährten sicher den Waldrand erreicht hatten.

Sie wanderten an diesem Tag nicht mehr weiter. Nach den Erlebnissen im Th’enlathíel hatten sie für diesen Tag erst einmal genug erlebt. Mit Morren ging eine Veränderung vor, kaum daß sie den Wald hinter sich gelassen hatten. Keil konnte förmlich sehen, wie seine Macht zu ihm zurückkehrte. Mit dem Finger deutete er auf Felder, und als dieser rückwärts gegen den nächsten Baum stolperte, erstrahlte das Gesicht des Zauberers mit einem Lächeln. Felder hatte vielleicht seinen Namen verloren, aber verzaubern konnte man ihn noch immer. Dann erst verschwanden die Spuren der Erkältung, als ob es sie nie gegeben hätte.
»Menschen!« rief Morren. »Ich wüßte gerne, wie es euch gelungen ist, die Welt zu erobern, wenn euch beim kleinsten Regen eure Nasen den Krieg erklären! Um nichts in der Welt möchte ich das noch einmal durchmachen müssen.«
Wie zur Antwort nieste Lonnìl, und der Zauberer bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. »Kleine Heilung gefällig?« fragte er lächelnd. »Wie hättest du es denn gerne - mit Zauberei, oder lieber mit Kräutertee?«
»Tee, bitte«, sagte Lonnìl. »Ich möchte nicht verzaubert werden.«
Keil konnte es ihm nicht verdenken, und auch wenn Morren ein wenig enttäuscht zu sein schien, hatte er sicher auch mit nichts anderem gerechnet - sonst hätte er den Tee gar nicht erst angeboten. Er setzte das rasch zusammengesuchte Feuerholz mit dramatischer Geste in Brand, zog den Topf hervor und setzte das Teewasser auf.
»Also«, sagte Felder, als der Tee fertig war und er ihn mit einem Spritzer aus seiner Flasche gewürzt hatte. »Jetzt noch mal ganz langsam, für die Menschen unter uns. Was haben die Feen denn nun gesagt?«
»Sie wissen, wo die Flöte ist«, erklärte Keil. »Aber sie haben uns nicht verraten, wo.«
»Doch, das haben sie«, sagte Morren. »Auf eine gewisse Art halten die Hohen Völker tatsächlich zusammen. Die Dunklen haben nicht gelogen, als sie uns zu den Feen schickten, obwohl sie sicher auch wußten, daß wir die Harfe unmöglich mitnehmen konnten. Und genauso haben uns die Feen einen weiteren Hinweis gegeben. Aber wir dürfen eines nicht vergessen: Sie sind die Feen, und keine Fee gab jemals irgend jemandem eine klare Auskunft. Zum Glück sind wir alle intelligente Leute - zumindest einige von uns.«
»Aber sie haben nur gesagt, die Flöte ist da, wo wir sie niemals suchen würden«, wiederholte Keil.
»Na, das ist doch wenigsten etwas. Da haben wir jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder, wir stellen uns mal ganz dumm. Oder wir fragen Felder.«
»Muß ich mich jetzt beleidigt fühlen?« fragte Felder.
»Nur, wenn du Lust dazu hast«, sagte Morren. »Tatsache ist, das du eine besondere Gabe hast, simpel zu denken und damit trotzdem Sachverhalte zu verstehen, die jeden anderen verwirren würden. Ich denke da beispielsweise an deine Ausführung über die Zeit, die sich aufblähen und dehnen läßt wie eine Schweinsblase. Das fand ich sehr anschaulich.«
»Vielen Dank«, sagte Felder. »Das war das erste und netteste Kompliment, das du mir jemals gemacht hast. Aber wann soll ich das mit der Schweinsblase gesagt haben? Egal. Nicht weiter wichtig. Ich wollt also, daß ich denke. Nun gut. Eh … Was genau suchen wir?«
Die anderen starrten ihn verwirrt an, aber Felder war seine Frage vollkommen ernst.
»Was genau suchen wir? Wir sind hierher gekommen, um eine Harfe zu finden, die sich bei näherer Betrachtung als Wald herausstellte. Vorher waren wir bei einer Laute, die wir aber nie zu Gesicht bekommen haben, und davor bei einer Trommel, die womöglich ein Berg war … vielleicht die Feste selbst.«
Morren schlug so fest mit seiner Hand auf die Erde, daß Funken aus dem Feuer aufstoben, und fluchte. Keil hoffte, daß er sich diese Unart sich nicht im Th’enlathíel angewöhnt hatte. »Er hat recht! Das ist es, was Dolua’d’llán bedeutet! Nicht ‘Trommel-Hort’, sondern doch einfach nur ‘Hort-Trommel’. Keine Sprache der Welt bietet mehr Raum für Mißverständnisse, als die Hohe! Kein Wunder, daß die Elben so sehr darauf beharrten, keine Trommel zu verwahren! Aber rede nur weiter, Felder. Es wirkt schon.«
»Suchen wir jetzt eine Flöte?« fuhr Felder fort, »oder nur eine metaphorische Flöte? Wenn mir zum Beispiel ein Mann sagt ‘Ich habe eine dicke, lange Flöte’, dann weiß ich, daß er auf eine andere Art von Musik abspielt und fange eine Schlägerei mit ihm an. Und von Flöten aus Eis habe ich sowieso noch nie gehört. Sie kann ein riesiger magischer Eiszapfen sein oder sonstwas. Vielleicht schmilzt sich auch, wenn man sich ihr nur nähert. Die Frage ist, ob man sich dann überhaupt die Mühe machen soll, sie zu suchen.«
»Die Mühe, wie du es zu nennen beliebst«, erwiderte Morren, »müssen wir uns in jedem Fall machen. Wir haben uns darauf eingelassen, sie zu finden, egal, wie sie aussieht und inwieweit sie transportabel ist. Und du wirst mir doch zustimmen, daß man eine Sache, die man einmal angefangen hat, auch zu Ende bringen sollte. Man kann eine Sache nicht ungeschehen machen. Und aus diesem Grund muß man auch einen Weg bis zu seinem Ende gehen. Was sagst du dazu?«
»Ich sage dazu, daß ich Fangfragen nicht beantworte.« Felder nippte nachdenklich an seinem Tee, der vermutlich inzwischen kalt geworden war. »Also haben wir uns dafür entschlossen, daß wir ein Instrument suchen. Nun gut. Wo würde ich eine Flöte aus Eis verstecken, wenn ich nicht will, daß jemand sie findet? Da gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder bringe ich sie an einen Ort, an dem alles aus Eis ist, damit sie nicht von ihrer Umgebung zu unterscheiden ist - und ich hoffe inständig, daß dies diejenigen welchen nicht getan habe, denn ich hasse Kälte -, oder aber ich gehe dorthin, wo die größte Hitze weit und breit herrscht, weil niemand im Feuer nach etwas aus Eis suchen würde. Es wäre ja auch irgendwie Wahnsinn, nicht wahr? Eis im Feuer?« Der Gedanke schien ihn so sehr zu erheitern, daß er glucksend seinen Tee verschüttete, anstatt zu sehen, wie der Zauberer zum ersten Mal, seit Keil ihn kannte, einer anderen Person einen bewundernden Blick zuwarf. Es dauerte nur einen Augenblick lang, aber Keil wußte, daß vieles nötig war, um das spöttische Lächeln aus Morrens Gesicht zu vertreiben.
»Du hast recht. Es ist Wahnsinn. Ich wäre niemals selbst auf die Idee gekommen, aber … habt ihr jemals von den Glühenden Höhen gehört?«
Keil nickte. Der Name kam in einem alten Lied vor. Aber wo sie lagen, wußte niemand außer Morren.
»Vor langer, sehr langer Zeit, noch bevor die Hohen kamen, da herrschte in dieser Welt die Zeit der Drachen. Noch weiter davor war die Zeit der großen Bäume, aber das ist eine andere Geschichte. Die Drachen lebten sehr langsam, und ihre Herrschaft dauerte lange an, aber dann kamen die Hohen, und die Drachen gingen. Was aus ihnen wurde, ist eines jener kleinen Geheimnisse, auf die wir Zauberer so stolz sind, aber die offizielle Version ist, daß sie in die Berge gingen und sich dort in Höhlen zurückzogen. Später formten die Hohen das Angesicht der Welt, aber einige dieser Höhleneingänge existieren noch heute, und es herrscht in ihnen eine so große Hitze, daß sich die Berge selbst an ihrer Außenseite immer warm anfühlen. Darum nennt man sie die ‘Glühenden Höhen’. Die Drachen waren die Herren des Feuers, müßt ihr wissen.«
»Dann mußt du dich in dieser Zeit wohlgefühlt haben«, bemerkte Felder, ohne zu staunen.
»Ja, das habe ich. Und ich habe eine Menge von ihnen gelernt. Es hat niemals wieder derart weise Geschöpfe gegeben - und derart langsame. Im Vergleich zu ihnen waren die Hohen mindestens so hektisch, wie uns heute die Menschen erscheinen - oder euch Menschen die Ameisen.«
»Willst du damit sagen, daß in Zukunft die Ameise den Menschen ablösen wird?« fragte Felder.
»Vielleicht … Es ist mit jeder Herrschergeneration schneller geworden. Die Bäume waren sehr verärgert, als die Drachen anfingen, überall herumzuwuseln.«
»Und was war vor den Bäumen?« fragte Felder, die Augen starr auf das Feuer gerichtet, als versuche er, darin die Vergangenheit sehen zu können.
»Das Meer«, antwortete Morren. »Eine lange, lange Zeit.«
»Damals hast du aber noch anders ausgesehen als heute.«
»Ja. Feucht.«
Felder schluckte. »Und was … war vor dem Meer?«
»Ich könnte jetzt immer weiter in der Zeit zurückgehen. Es hatte immer ein davor gegeben, aber das würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen. Die Welt ist älter, als ihr euch vorstellen könnt. Versucht es gar nicht erst. Eure kleinen Köpfe könnten platzen.«
»Mhm«, machte Felder und starrte weiter in die Flammen. »Und wie schnell sind die Zauberer?«
»So schnell, wie wir wollen.«
Etwas in seiner Stimme jagte Keil einen Schauder über den Rücken und brachte Felder dazu, nichts weiter dazu zu sagen, sondern das Thema zu wechseln. »Und du meinst also, wir sollten in diesen Glühenden Höhlen suchen? Immer noch besser als ewiges Eis, würde ich sagen.«
»Wir müßten monatelang nach Norden reisen, um ins ewige Eis zu gelangen, und dort wimmelt es außerdem von Trollen«, entgegnete Morren. »Die Glühenden Höhen - nicht Höhlen - dagegen könnten wir schon in einem Monat erreichen, wenn wir Glück haben.«
»Und du meinst, die Flöte könnte dort sein?« fragte Schwinge.
»Sie kann überall sein. Ich halte es nur für möglich, daß sie dort ist. Irgendwo müssen wir anfangen zu suchen, und nachdem wir die anderen Instrumente nicht bekommen haben, ist es sehr wichtig, daß wir zumindest die Flöte finden. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte. Aber ich fand Felders Überlegungen auf ihre Art sehr schlüssig.«
Morren entnahm seiner Tasche die zusammengerollte Karte, um ihnen zu zeigen, wo die Glühenden Höhen lagen und wie sie am schnellsten dorthin kommen konnten.
»Wir müssen nur lange genug nach Südosten reisen, dann sind wir schon am Ziel«, erklärte der Zauberer und fuhr mit seinem Finger eine unsichtbare Linie auf der Karte entlang. Plötzlich verharrte er. »Wollen wir auf dem sichersten Weg reisen, oder auf dem direkten?«
»Wie groß ist der Unterschied?« fragte Lonnìl.
»Nun, ich bin mir nicht einmal im Klaren darüber, ob nun der direkte Weg überhaupt gefährlich ist, und er ist ein ganzes Stück kürzer. Aber er führt uns direkt hier entlang.« Morren winkte Felder zu sich herüber. »Kannst du Karten lesen?«
»Ich kann Karten lesen - aber nicht diese Schrift.« Felder blickte kopfschüttelnd auf die Elbenrunen, mit denen alle Eintragungen aufgezeichnet waren. »Was ist dort?«
»Dieser kleine Landstrich dort - nicht besonders viel im Vergleich zum Rest der Welt und manchen anderen Königreichen - ist Thoria. Ich weiß nicht, ob du gerne dort durch möchtest. Immerhin hast du es … abgetreten.«
Felder schluckte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Wenn es nach mir ginge, müßten wir nicht unbedingt den direkten Weg gehen. Aber ich richte mich da voll und ganz nach den Elfen. Es ist ihre Flöte. Ich bin nur der fröhliche Reisekamerad.« Er sah alles andere als fröhlich aus, eher nervös und angespannt, aber er grinste die anderen an, als ob nichts sei.
»Ich denke, wir sollten den schnellsten Weg nehmen«, sagte Schwinge. »Wir haben schon den ganzen Frühling vergeudet, und bis es Winter ist, müssen wir wieder in den Wäldern sein. Wenn die Flöte nicht in den Glühenden Höhen ist, brauchen wir noch mehr Zeit, um herauszufinden, wo sie statt dessen ist. Natürlich ist es ein Risiko, daß wir in Thoria möglicherweise wieder auf die Dunklen treffen. Aber das müssen wir eingehen.«
»Ich bin derselben Ansicht«, meinte Morren. »Und ich muß zugeben, daß mich der Gedanke daran, wie es heute in Thoria aussehen mag, eher anzieht als abschreckt. Felder, du mußt nicht mit uns kommen, wenn es dir Probleme bereitet. Was denkst du, Keil?«
Keil nickte nur. Er wollte nicht zugeben, daß er furchtbare Angst davor hatte, noch einmal den Dunklen zu begegnen, wenn selbst Felder bereits war, sich ihnen zu stellen. Auch Lonnìl war zwar skeptisch, hatte aber gegen die Argumente nichts einzuwenden. Natürlich war er bereit, Schwinge überallhin zu folgen.
»Nach Thoria, also«, sagte Felder. »Ist vielleicht auch das Beste. Irgendwie muß ich wissen, was die Dunklen noch davon übrig gelassen haben.«

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