Zehntes Kapitel

I feel my fate in what I cannot fear..
Theodore Roethke

An jenem Tag meinte es das Wetter gut mit ihnen. Noch bis in die Nacht hinein hatte es geregnet, als ob seit Monaten kein Tropfen mehr gefallen war, und zum Glück hatten ihnen einige mächtige Bäume Unterschlupf geboten. Natürlich waren sie trotzdem naß geworden, aber Morren hatte aus feuchtem Holz ein prasselndes Feuer entfacht, dem das Wetter nichts anhaben konnte. Und als sie an diesem Morgen früh erwachten, überzogen die Strahlen der Morgensonne alles mit einem goldenen Schimmer, und der Tau auf Gras und Blättern glitzerte silbrig. In der Luft lag ein klarer frischer Hauch, aber es begann bereits warm zu werden.
»Dies«, sagte Morren, »Nenne ich eine wahre Entschädigung.« Er summte vor sich hin, während er den morgendlichen Kräutertee aufbrühte. Keil griff die Melodie mit seiner Silberflöte auf und verwob sein Spiel zugleich mit dem Singen der Vögel. Es war ein wunderschöner Morgen, und es war leicht, so zu tun, als ob nichts geschehen sei.
Aber der Klang seiner eigenen Flöte versetzte Keil einen Stich. Er würde sie nie wieder spielen können, ohne dabei an die andere, die ungespielte Flöte, zu denken. Und obwohl jetzt Lonnìl wieder bei ihnen war und eigentlich nur noch Felder fehlte, würde nichts mehr so sein können wie früher. Als Schwinge von ihrer Runde zurückkam, brach Keil die Melodie ab und steckte die Flöte hastig wieder ein. Sie bemerkte es, sagte aber nichts. Morren nickte nur. Lonnìl, der nicht wissen konnte, was in der Zwischenzeit geschehen war, starrte unbewegt in seinen Tee, als wisse er nicht, wen er sonst ansehen sollte. Er tat Keil leid. Da hatte er die ganze Zeit auf Schwinge gewartet, und nun hatte sie in fünf Tagen kein einziges Wort mit ihm gesprochen. Es war nicht zu übersehen, daß Lonnìl so unglücklich war, wie ein Mensch nur sein konnte. Aber Keil konnte ihm nicht helfen.
»Möchte noch jemand von dem Kaninchen?« fragte Morren. Wie immer gelang es ihm an besten, die Situation zu ignorieren. Aber er hatte recht. Da sie es nicht ungeschehen machen konnten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als einfach weiterzuleben. Felder hätte vermutlich nichts anderes gemacht. Nun, es war vielleicht ganz gut, daß der Prinz jetzt nicht bei ihnen war. Er hatte immer einen ausgesprochen guten Appetit gehabt, und ihr Frühstück reichte selbst für vier kaum aus. Es war zwar noch etwas kaltes Kaninchen vom letzten Abend übrig, aber ihr Brot war so gut wie aufgebraucht, so daß jeder nur wenige Bissen davon bekam. Lediglich Morrens würziger Tee war in ausreichender Menge vorhanden.
»Lonnìl?« fragte Morren. Der Mensch blickte auf. »Hast du Geld?«
»Ein wenig«, sagte Lonnìl. »Ich habe eigentlich nur für meinen Unterhalt gearbeitet, aber zwischendurch hat mir die Bäuerin ein paar Münzen gegeben. Warum?«
»Wir brauchen frisches Brot«, sagte Morren. »Und das Einfachste ist immer noch, es zu kaufen.«
Noch am Vormittag erreichten sie ein Dorf der Menschen, das, von einer Steinmauer umgeben, am Ufer eines Flusses lag. ‘Dorf’ war eigentlich nicht mehr die richtige Bezeichnung. Es war die größte menschliche Ansiedlung, die Keil jemals gesehen hatte.
»Laßt uns unser Brot dort kaufen«, bat er. Dieser Ort zog ihn magisch an, obwohl er schon von vorn herein sagen konnte, daß es dort eng, laut und übelriechend sein würde. Es war unmöglich zu erklären, warum er unbedingt dorthin wollte. Vielleicht lag es daran, daß sie nun auf dem Heimweg waren. Bald würden sie die tiefen Wälder erreicht haben, und dann würde er nie wieder ein Menschendorf sehen. Da war es wohl am besten, wenn ihm das Letzte in besonders abschreckender Erinnerung blieb.
Nicht einmal jetzt widersprach Schwinge. Sie war zwar nicht bereit, die Stadt zu betreten, aber sie sagte nur: »Tut das, was ihr müßt. Ich werde hier draußen auf euch warten.« Sie konnte ihn nicht mehr Verräter nennen.
Lonnìl, Morren und Keil betraten die Stadt ungehindert. Bevor der Wachmann Keil auch nur bitten konnte, die dunkle Kapuze des Umhangs, den ihm Lonnìl geliehen hatte, von seinem Gesicht zu nehmen, hatte Morren seinen Blick längst in eine andere Richtung gelenkt. Allerdings hatte Keil das Gefühl, mit der Kapuze noch stärker aufzufallen als ohne. Es war tatsächlich ein ziemlich heißer Tag geworden, und viele auf den Straßen arbeitende Handwerker, an denen sie unterwegs vorbeikamen, trugen überhaupt keine Hemden. Ein lustiger Anblick.
Um zum Viertel der Bäcker zu gelangen, mußten sie die ganze Stadt durchqueren, und Keil versuchte, so viel wie möglich in sich aufzunehmen. Es war überfüllt, es war laut, und es stank, aber irgendwie war es herrlich. Er bemerkte, daß Morren ihm zwischendurch immer wieder belustigte Blicke zuwarf, aber es gab doch soviel zu sehen! Die Häuser standen viel dichter nebeneinander als in den kleinen Dörfern, so daß zwischen ihnen nur sehr enge, dunkle Durchgänge blieben. Und die Gebäude waren hoch - einige hatten sogar drei Stockwerke. Vielleicht hatten die Menschen dieser Gegend von den Elben etwas über das Bauen gelernt. Auf den Straßen war es trotz der strahlenden Sonne dämmrig, da die oberen Stockwerke auf die Straße hinaus ragten und lange Schatten warfen. Manche standen so weit vor, daß die fast mit dem Haus auf der anderen Straßenseite zusammenstießen. Mehrmals wäre Keil fast verlorengegangen, aber Morren zog ihn weiter.
Schließlich kamen sie auf einen großen Platz - den Marktplatz, wie Lonnìl erklärte - auf dem ein reges Treiben herrschte. Noch nie hatte Keil so viele Menschen auf einem Haufen gesehen, und er konnte nicht anders, als stehenzubleiben und zu staunen. Hier herrschte ein solcher Lärm, daß er alles bisher dagewesene in den Schatten stellte.
»Was ist hier los?« fragte er neugierig. Es waren zwar einige Händler zu sehen, aber das erklärte nicht diese große Menge von offenbar aufgebrachten Menschen, die sich in der Mitte des Platzes drängten.
Lonnìl schien ihn bei diesem Getöse nicht verstanden zu haben, wohl aber Morren. »Warte«, sagte er. »Warum sollten wir versuchen, uns bis zur Mitte durchzuwühlen, wenn man es auch viel einfacher haben kann?« Er holte den Elbenkristall hervor, blickte hinein und begann nach Luft zu schnappen. Dann hustete er und fing schließlich so sehr an zu lachen, wie es Keil kaum jemals erlebt hatte. Endlich hörte er auf, steckte die Kugel ein und sagte: »Ihr werdet mir nicht glauben, was ich gerade gesehen habe.«
Und er begann, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.
In der Mitte des Marktplatzes stand ein absonderliches Gebilde, um das sich die Menschen drängten. Da Keil im Vergleich zu ihnen recht groß war, konnte er es über die Köpfe hinweg ziemlich gut erkennen. Allerdings hatte er keine Ahnung, was es darstellte. Auf einer erhöhten Plattform hatte man etwas errichtet, das auf den ersten Blick wie ein massiver Holzblock aussah, aus dem Kopf und Hände eines Mannes ragten. Bei genauerem Hinsehen erkannte Keil, daß es eigentlich zwei Hälften waren, die übereinandergelegt wurden, mit Aussparungen für Kopf und Hände in der Mitte. Seitlich waren die Teile über Riegel und ein Vorhängeschloß miteinander verbunden. Obwohl Keil dies zum ersten Mal in seinem Leben sah, brauchten ihm weder Lonnìl noch Morren erklären, was er da vor sich hatte. Offensichtlich steckte dieser Mann nicht zu seinem Vergnügen in diesem Block - er wurde auf barbarische Art bestraft.
Der Mann war Felder. Keil wußte es sofort, obwohl man vom Gesicht so gut wie nichts erkennen konnte. Die Gestalt ließ den Kopf nach vorne hängen, so daß Keil hauptsächlich auf ein Durcheinander aus dunkelbraunem Haar blickte, und der Körper wurde von der Menge und dem Block verdeckt, aber es konnte nur Felder sein. Eigentlich hatte Keil es schon geahnt, als Morren in seine Kugel blickte. Es war genau wie damals, als Lonnìl Felder aus dem wütenden Dorf gerettet hatte. Alle Ereignisse neigten dazu, sich zu wiederholen. Lonnìl stieß einen unterdrückten Schrei aus.
»Sie haben ihn an den Pranger gestellt!«
»Hattest du etwas anderes erwartet?« fragte Morren.
»Nein«, gab Lonnìl nach einem Moment des Überlegens zu.
»Ich schon«, sagte Morren. »Als ich den Lärm hörte, war ich ziemlich sicher, daß man ihn gerade aufhängen würde.«
»Aber wir müssen ihn retten!« rief Lonnìl.
Keil hatte genau gewußt, daß er das sagen würde.
»Und warum möchtest du es diesmal?« fragte Morren. »Du wirst doch wohl kaum behaupten wollen, man habe ihn unschuldig dort aufgebaut, oder? Es scheint in dieser Gegend gültiges Recht sein, Übeltäter anzuprangern. Willst du gegen den Gang des Gesetzes einschreiten?«
»Aber es ist zu grausam! Wer weiß, wie lange er dort schon steht, in dieser Hitze! Und jeder, der vorbeikommt, darf ihn verprügeln.«
»Und du wirst wütend, wenn das jemand anderes als du tut«, stellte Morren fest. »Wahrscheinlich wird er schon heute oder morgen, allenfalls übermorgen, wieder freigelassen. Diesmal wird er nicht hingerichtet. Meinst du nicht, es tut gut, ihn einmal ein wenig zappeln zu lassen?«
»Aber er zappelt nicht«, sagte Keil. »Er ist kaum bei Bewußtsein.«
Sie standen jetzt direkt vor der steinernen Erhöhung. Trotz des großen Gedränges waren alle Leute Morren ausgewichen, als er sich den Weg bahnte - er mußte nicht einmal die Hände ausstrecken Der Block war in einer Höhe aufgebaut, in der Felder gezwungen war, gebückt und mit eingeknickten Knien zu stehen - er war zu niedrig für eine aufrechte Haltung, aber zu hoch, um zu sitzen oder zu knien. Felders Beine waren zur Seite weggerutscht, und wären sein Kopf und seine Hände nicht eingeklemmt gewesen, wäre er jetzt sicher ganz so Boden gesackt. Er war barfuß, sein Hemd und sein Umhang waren zerrissen, und nur seine ledernen Hosen schienen das Ganze unbeschadet überstanden zu haben. Außerdem war er über und über mit Schmutz und Unrat bedeckt, wohl auch deswegen, weil die Umstehenden ihn unter großem Gejohle mit Dingen bewarfen, von denen fauliger Kohl noch das Harmloseste war. Keil spürte eine große Wut in sich aufsteigen gegen diese Leute, die sich an einem wehrlosen Mann ausließen, und er begann zu begreifen, weswegen Lonnìl immer losstürmen und eingreifen mußte, wenn er so etwas sah.
Felder schien wieder etwas zu Bewußtsein zu kommen, er rappelte sich auf und hob den Kopf. Sein Gesicht blutete, und eines seiner Augen war blau-rot angelaufen und zugeschwollen. In seinem Blick lag etwas Wildes, Gehetztes, wie bei einem verwundeten Tier, daß seinem Jäger gegenübersteht: Keine Angst, aber eine hilflose Wut. Er sah geradeaus, über die Köpfe der Menge hinweg, und so bemerkte er seine drei Freunde nicht, die direkt vor ihm standen.
»Aber wir müssen ihm helfen!« wiederholte Lonnìl. »Er hat vielleicht seit Tagen nichts zu essen und zu trinken bekommen.«
»Letzteres dürfte sein Hauptproblem sein«, murmelte Morren, fuhr plötzlich herum und faßte Lonnìl bei den Schultern, um ihm direkt in die Augen zu blicken. »Was glaubst du wohl, was ich bin? Ein Steinklotz? Glaubst du vielleicht, ich hätte nicht in dem Moment, in dem ich ihn in meiner Kugel gesehen habe, beschlossen, ihn zu befreien? Glaubst du, ich will meine Freunde leiden sehen? Die Frage ist nur, wie wir es anstellen sollen.«
»Wenn du das Schloß aufbrechen könntest …«, schlug Keil vor.
Morren sah ihn herablassend an und schüttelte den Kopf. Langsam hob er seine Arme, richtete die Hände auf Felder und spreizte die Finger.
Im nächsten Moment brannte der Pranger.
Keil und Lonnìl schrien gleichzeitig auf, als sie sahen, wie die roten Flammen das Holz verschlangen, aber ihr Schrei ging unter im entsetzen Aufkreischen der Menge. Alle Leute wichen zurück, so schnell sie konnten. Aber sie flohen nicht. Sie vergrößerten lediglich ihren Abstand, gerade genug, um vor den Flammen in Sicherheit zu sein, während sie das Schauspiel beobachteten. Nachdem der erste Schreck vorbei war, ertönten schon wieder johlende Beifallsrufe. Inmitten der Flammen stand Felder. Er war bei vollem Bewußtsein, sein Gesicht vor Grauen verzerrt, und er starrte Morren an, der dastand und lächelte.
»Du bringst ihn um!« schrie Lonnìl, aber ebenso wie Keil schien er unfähig, sich zu rühren und einzugreifen. »Lösch das Feuer! Er wird verbrennen!«
»Dummkopf!« herrschte Morren ihn an. »Sieh doch hin! Brennt vielleicht Felder? Natürlich nicht. Es ist magisches Feuer. Die Flammen greifen nur das Holz an. Glaubst du nicht, ich weiß, was ich tue? Ich weiß mehr über Feuer, als die ganze Menschheit jemals erfahren kann. Felder kann nicht einmal die Hitze spüren.«
»Aber er hat Angst«, sagte Keil leise. Es stimmte - die Flammen konnten weder Felders Kleidung noch seinem Haar etwas anhaben. Aber selbst wenn er sie nicht spüren konnte, konnte er sie doch sehen, und er war von ihnen eingeschlossen.
»Angst? Warum sollte er? Es kann kaum schlimmer sein als das, was er im Verlauf des letzten Tages durchgestanden haben muß. Und selbst wenn - es wird ihm vielleicht eine Lehre sein. Oder es gibt ihm den Nervenkitzel, den er sich so sehr wünscht.«
»Aber warum Feuer?« fragte Keil. »Du hättest wirklich nur das Schloß öffnen müssen.«
»Hier ist eine halbe Stadt versammelt, bereit, einen armen Sünder in Stücke zu reißen. Wenn wir ihn einfach so mitnähmen, würden sie über uns herfallen, und kein Zauberer, egal wie mächtig, kann gegen Hunderte auf einmal kämpfen. Das Feuer hält den Mob auf Abstand. Es lehrt ihn Respekt. Jetzt werden sie sich nicht an uns heranwagen. Und es ist ja auch gleich schon durchgestanden. Feuer kann sehr schnell sein.«
Er ballte seine immer noch ausgestreckten Hände langsam zu Fäusten. Die Flammen erloschen ohne Rauch. Schwarz verkohlt stand der Pranger inmitten der Plattform, und als Morren mit der Hand winkte, zerfiel er zu einem Häuflein weißer Asche. Die Menge jubelte vor Begeisterung auf, als das unversehrte Vorhängeschloß klirrend zu Boden fiel.
»Kümmert euch um ihn!« befahl Morren. »Ich halte das Volk zurück.«
Keil und Lonnìl eilten zu Felder, der mit den Überresten des Blockes zu Boden gesunken war. Er atmete schwer und versuchte sich aufzustützen, aber er schien keine Kraft zu haben.
»Wie geht es dir?« fragte Lonnìl. »Bist du verletzt?«
Felder blickte ihn an, sein Gesicht glühte, und sein gesundes Auge glitzerte fiebrig. Dennoch lächelte er. »Muß gehen. Diesmal habt ihr euch aber Zeit gelassen.«
Sie halfen ihm auf, und einen Moment lang stand er, wenn auch schwankend, auf seinen Füßen, bevor er ohnmächtig zusammenbrach.

»Und jetzt steh auf!« sagte Morren.
Felder stöhnte. Konnten sie ihn nicht in Ruhe schlafen lassen? er war müde. Aber warum … Morren? Das ging nicht. Oder hatten sie ihn wieder aufgestöbert? Was war los? Und wieso lag er im Gras? Es gab kein Gras in der Stadt. Es gab Dreck und Schlamm und Pfützen, aber kein Gras. Träumte er immer noch? Und wieso hatte er keinen Kater? Er hatte das Gefühl, als könne er im nächsten Augenblick aufstehen und herumlaufen. Kein Zweifel. Er träumte.
»Steh auf!« wiederholte Morren. Es war Morren. Und dieser Stimme sollte man sich nicht widersetzen. Felder träumte nicht. Er war wach, er lag im Gras, und es ging ihm gut.
»Ich komme ja schon«, murmelte er und öffnete vorsichtig die Augen. Es war Tag. Über ihn beugten sich die vertrauten Gesichter von Morren, Keil und Lonnìl. »Was um alles in der Welt tut ihr hier?« Er blinzelte, aber seine Freunde verschwanden nicht. »Und wo ist dieses hier? Wie komme ich hierher?«
»Auf Lonnìls Rücken«, erklärte Morren, der mit diesen Fragen gerechnet haben mußte. »Aber er konnte dich nicht auf Dauer tragen. Also habe ich dich geheilt. Du kannst jetzt selbst laufen, und das solltest du auch tun, denn wir haben nicht ewig Zeit. Woran kannst du dich erinnern?«
»Man hat mir meine Stiefel geklaut!« antwortete Felder ohne zu zögern. Das war das Letzte, was er getan hatte: Er war losgezogen, um seine Stiefel wiederzufinden.
»Während du am Pranger standest?« fragte Lonnìl.
»Nein, während ich schlief.« Pranger? Verschwommene Bilder aus seinem Alptraum zogen wie kalte Nebelschwaden durch Felders Kopf. Schreie. Schmerzen. Dreck. Morren. Feuer. Pranger. Langsam kam alles wieder. »Verdammte Scheiße.«
Sie erzählten ihm, wie sie ihn gefunden und befreit hatten. Er fragte nicht, wo sie nach über einem Monat - es mußte ungefähr ein Monat gewesen sein, aber er hatte aufgehört, die Tage zu zählen - so plötzlich hergekommen waren. Er wollte es gar nicht wissen. Der Traum war vorbei. Und das süße Leben in Freiheit auch.
Süßes Leben?
Es war die beschissenste Zeit, die er jemals hatte. Freiheit war nur ein anderes Wort dafür, daß man nichts mehr hatte, was man sonst noch verlieren konnte. Außer vielleicht seinen Stiefeln und seiner Selbstachtung. Aber woher kamen schon wieder diese Gedanken?
»Was hast du mit mir gemacht, Zauberer? Ich bin nüchtern!«
»Zum ersten Mal seit wann?« fragte Morren schneidend. »Was ist aus deinen guten Vorsätzen geworden? Aus deinen Vorträgen über kontrolliertes Trinken? Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du nichts anderes getan als Saufen, so ist es doch!«
»Nur die letzte Woche.« Konnte auch etwas mehr sein. Seitdem er in der Stadt gelandet war. Was für eine Stadt eigentlich? Er hatte keine Ahnung. Es war mehr ein dummer Zufall gewesen, daß er dort hängengeblieben war, wo er eigentlich zurück zum Feenforst wollte, um sich das Schwert doch noch zu holen. Einen Versuch wäre es allemal wert gewesen. Aber dann war er in dieser Stadt gelandet und hatte das Weiterreisen immer weiter aufgeschoben, bis er schließlich überhaupt nicht mehr daran dachte.
»Du kannst vor Glück sagen, daß sie dich an den Pranger gestellt haben! Sonst hätten wir dich nicht bemerkt, selbst wenn wir über dich gestolpert wären in der Gosse, in der du gelegen hättest. Das nennst du also Spaß?«
»Mir hat mein Schwert gefehlt«, antwortete Felder nur. Wenn sie es verstanden, war es in Ordnung. Wenn sie es nicht verstanden, konnte er es auch nicht erklären. Es war einfach so, daß er sein Schwert viel stärker gebraucht hatte als den Schnaps. Sein Schwert konnte so viel. Es konnte ihm wahre Nervenkitzel verschaffen, die besser waren als jeder Rausch, und es hatte immer verhindert, daß er ein Säufer wurde, weil ein Schwertmeister das nicht sein durfte. Es war ja auch nicht irgendein Schwert. Es war sein Schwert, und so etwas würde er nie wieder bekommen. Er hatte dabeigestanden, als es geschmiedet wurde, mit glänzenden Augen den Blasebalg bedient und den besten Schmied Thorias verblüfft, als er ihm genau beschrieb, was er wollte: Nicht irgendein Schwert, sondern das beste Schwert der Welt. »Du willst also ein Schwert, das ein Seele besitzt«, hatte der Schmied gesagt. Und er, damals gerade sechzehn Jahre alt, entgegnete: »Jedes gute Schwert hat eine Seele. Aber dieses Schwert soll meine Seele haben.« Jetzt war es ihm, als hätte er genau das verloren: Seine Seele. Solange das Schwert durch Lonnìl stets in Reichweite war, war noch fast alles in Ordnung. Aber nachdem er einmal alleine war, hatte er gemerkt, daß regelrecht ein Stück von ihm fehlte. Diese innerliche Leere hatte er irgendwie auffüllen müssen, bevor sie unerträglich wurde. Erst hatte er es mit Abwechslung versucht. Aber neue Länder waren nur halb so schön, wenn er dort nicht nach neuen Gegnern suchen konnte. Und es gab auch keine neuen Sprachen zu lernen. Diese Gabe, alle Menschen zu verstehen, war hängengeblieben. Allein dafür schon hätte er die Elfen erschlagen können. Sie hatten ihm das einzige weggenommen, was er jemals außer Fechten wirklich hatte lernen wollen und worin er gut war.
Früher hatte er immer davon geträumt, einmal ein berüchtigter Räuber zu werden. Dafür konnte es ganz vorteilhaft sein, alle Sprachen zu sprechen. Jeder würde ihn verstehen, wenn er »Geld oder Leben!« rief. Aber ohne Waffen konnte er kein Räuber werden. Er brauchte ein Schwert. Schwerter kosteten viel Geld. Um an so viel Geld zu kommen, hätte er viele Leute überfallen müssen. Und das ging eben nicht ohne Schwert. Also hatte er den Gedanken wieder verworfen. Das Einzige, was ihm wirklich noch blieb, war das Trinken. Es mußte ihm eine Menge ersetzen. Und das tat es auch erstaunlich gut. Schnaps kostete auch Geld, aber weniger. Felder hatte gewürfelt, was er gut konnte, und einige kleine Diebstähle versucht, die weniger sein Fall waren, und nachts in den dunklen Gassen mit seinem Dolch das getan, was ein richtiger Räuber auf einer Landstraße mit einem Schwert machte. Aber er war nicht so weit gesunken, als daß er um Geld gebettelt hätte. Zumindest nicht oft. Dann kam der Tag, an dem er aufwachte und festgestellte, daß man ihm die Stiefel gestohlen hatte. Das ging dann doch eine Nummer zu weit. Es reichte, daß er alles verloren hatte, was möglich war - sein Schwert, seine Krone, sein Land und sein Volk -, und daß er innerhalb von nur einem Monat tiefer gesunken war, als jeder andere nicht einmal in einem halben Jahr geschafft hätte: Er mußte sich nicht alles gefallen lassen. Immerhin war er einmal ein Prinz gewesen, ein begnadeter Schwertkämpfer und begehrter Liebhaber, und er war immer noch mehr als irgendein besoffenes Stück Dreck. Er war Felder von Thoria, und obwohl er keinerlei Waffen besaß - sein Dolch steckte vielleicht noch immer in seinem rechten Stiefel -, war er ausgezogen, um den Dieb seiner Stiefel zu finden und in seine Einzelteile zu zerlegen. Und - jetzt fiel es ihm langsam wieder ein - er hatte ihn auch gefunden und zur Rede gestellt. Das Ergebnis davon war, daß er wegen Erregung Öffentlichen Ärgernisses im Block landete. Und seine Stiefel hatte er immer noch nicht wieder.
»Ich wollte dir das Schwert ja wiedergeben«, sagte Lonnìl kleinlaut. »Aber ich habe dann nicht mehr daran gedacht, als es dir so schlecht ging.«
»Ich will es gar nicht wiederhaben. Behalt es!« Jetzt war es sowieso zu spät. »Vielleicht kannst du es mir irgendwann einmal leihen, damit ich im Training bleibe?«
Lonnìl drückte ihm das Schwert in die Hände. Felder hielt es unschlüssig fest. Es kribbelte ihm in den Fingern, jetzt einen von den anderen anzugreifen und endlich wieder einmal einen richtigen Kampf zu haben. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Aber es würde eine Blamage werden. Er hatte über einen Monat lang keine Klinge angerührt. Auch wenn er jetzt nüchtern war, würde er nicht mehr besser kämpfen können als an dem Tag, an dem er beinahe sein Auge verloren hatte - eher sogar schlechter. Fehlendes Training war schlimmer als Trunkenheit. Er würde viel üben müssen, um das Verlorene wieder aufzuholen.
»Nicht jetzt«, sagte er und gab das Schwert zurück. »Ich kann mich ohne Stiefel nicht richtig bewegen.« Es waren feine Stiefel - der beste Schuhmacher hatte sie aus dem besten Leder für ihn gemacht. Feine thorianische Stiefel. So etwas wurde heute gar nicht mehr hergestellt.
Als er demonstrativ an sich herunterblickte, um auf die fehlenden Stiefel aufmerksam zu machen, stellte er fest, daß seine Kleider sauber und heile waren, so gut wie neu. Morren hatte sich regelrecht an ihm ausgetobt.
»Du hast mich komplett geheilt?« fragte Felder vorsichtig. »Was genau …«
»Da war nichts, was nicht früher oder später von selbst geheilt wäre. Ein paar Prellungen, Abschürfungen, Platzwunden, ein blaues Auge, ein oder zwei gebrochene Rippen. Außerdem ein mittelschweres Fieber, entweder von dem Regen gestern oder der Sonne heute, vielleicht auch von beidem.«
»Und das hast du einfach so geheilt? Ohne Probleme?«
»Es ist nichts Schweres daran, Verletzungen und zu heilen, solange der Patient noch am Leben ist, zumindest größtenteils.«
»Und warum hast du mich dann dieses Kraut schlucken lassen, als ich den Kater meines Lebens hatte? Warum wolltest du mir damals nicht helfen?« Felder war bereit, dem Zauberer einiges zu verzeihen, aber sinnlose Grausamkeit würde er niemals tolerieren. Doch Morren lächelte nur.
»Du erwartest doch nicht etwa eine Antwort darauf?«

Felder war wieder bei ihnen. Die Gefährten waren vereint, so als sei keine Zeit vergangen, seit sie Thoria verlassen und sich getrennt hatten. Es war wie früher. Jetzt erst merkte Keil, weswegen ihm gerade Felder in den letzten Tagen so gefehlt hatte. Der lebhafte Mensch lenkte ihre Gedanken von anderen Sachen ab, zum einen dadurch, daß er sie ständig in Gespräche zu verwickeln suchte, und zum anderen, weil er sie zwang, über ihn und seine Art zu leben - oder zu überleben - nachzudenken. Da blieb kein Platz für andere Dinge. Keil konnte Schwinge, die Flöte und seinen Namen fast vergessen, wenn er sich auf Felder konzentrierte und seine Bemühungen, Morren zum Erschaffen von zwei Stiefeln zu bewegen, was der Zauberer natürlich nicht wollte.
»Du bist gar nicht so mächtig, wie du immer behauptest, wenn du nicht einmal ein läppisches Paar Stiefel machen kannst.«
»Legst du es darauf an, meinen Zorn zu erregen?«
»Legst du es darauf an, daß ich deine Unsterblichkeit überprüfe?«
Morren lachte nur. Nun fiel Felder auf, daß ihm außer seinen Stiefeln noch etwas fehlte. »Morren«, sagte er langsam, »meine Feldflasche ist weg.«
»Ich weiß«, antwortete der Zauberer. »Du brauchst sie jetzt nicht mehr.«
»Woher willst du wissen, was ich brauche und was nicht? Gib sie mir wieder!«
»Ich habe dich vollständig geheilt. Du bist kein Säufer mehr.«
Jetzt schrie Felder ihn an. »Ach ja? Und wer hat dir gesagt, daß ich geheilt werden wollte? Ich habe euch oft genug meine Gründe erklärt, und trotzdem glaubst du, ich trinke nur, weil ich zittere, wenn ich es nicht tue? Ich habe es mir selbst so ausgesucht. Meine Gründe haben sich nicht geändert. Du mußt deine Heilung nicht rückgängig machen. Aber gib mir meine Flasche wieder. Ich muß vielleicht nicht mehr trinken, aber ich will es.«
Morren schien zu erstarren, dann wirbelte er herum, und seine Augen glühten förmlich. Seit dem Th’enlathíel hatte Keil ihn nicht mehr so wütend erlebt, und einen Moment lang sah es so aus, als erhebe der Zauberer seine Hände, um den Menschen für diese Schmähung zu Boden zu strecken. Aber er lächelte nur, griff in die Luft und reichte Felder seine Flasche.
»Wie du wünschst«, sagte er sanft. »Und merke dir, daß du soeben die letzte Chance, dein Leben zu retten, verspielt hast. Ich war bereit, dir zu helfen. Jetzt bin ich es nicht mehr. Und wenn du in fünf Jahren auf den Knien angekrochen kommst und mich anflehst, dich zu heilen, werde ich es nicht tun. Der Tag wird kommen, an dem dich deine Schmerzen zerreißen werden und der Tod mit seiner langsamen Hand nach dir greift, und anders als jetzt wirst du plötzlich erkennen, was du alles verpaßt hast und daß du eigentlich doch lieber weiterleben würdest. An diesem Tag werde ich dich in meiner Kugel beobachten, und ich werde mir ein Glas Wein einschenken und auf dein Angedenken trinken. Und du wirst wissen, daß ich es tue.«
»Fein«, sagte Felder ungerührt. »Und jetzt gib mir Stiefel.«
»Ich kann dir keine Stiefel machen«, sagte Morren. »Ich könnte dir etwas geben, daß so aussieht wie Stiefel, aber du wärest genauso barfuß wie jetzt. Kein Zauberer kann etwas aus nichts erschaffen. Finde dich damit ab.«
»Ich will auch nicht irgendwelcher Stiefel. Ich will meine Stiefel, wo immer sie jetzt sein mögen. Du bist mir etwas schuldig für diesen Fluch gerade.«
Morren betrachtete ihn einen Moment lang sprachlos und begann leise zu lachen. »Diese Unverschämtheit ist so unfaßbar, daß ich sie nur noch belohnen kann.« Er nahm den Kristall, blickte hinein und sagte: »Stiefel!«
Im nächsten Moment waren Felders ausgetretene Lederstiefel wieder an seinen Füßen.
»Danke«, sagte Felder.
Damit war die Freundschaft zwischen ihm und dem Zauberer in eine neue Phase eingetreten. Denn ab jetzt versuchte Felder mit allem, was er tat, Morren herauszufordern. Er trank reichlich und so betont, als versuche er den Zauberer um jeden Preis zu einer Reaktion zu bewegen.
Aber alles was er erntete, waren wütende Blicke, selbst an den Morgen, an dem er eigentlich nur zu einer Bäuerin ging, um seine Feldflasche aufzufüllen und seine Freunde fast bis zum Nachmittag hatte warten lassen, bis er dann endlich wiederkam, in überragender Laune und ziemlich betrunken. Keil vermutete, daß dahinter die verzweifelte Absicht steckte, sich ihrer Freundschaft zu versichern. Felder wollte wissen, wieviel sie bereit waren zu ertragen, damit er sie begleitete.
Lonnìl hatte keine Fragen gestellt, sondern nur schweigend hingenommen, daß etwas vorgefallen sein mußte. Felder würde nicht so ruhig bleiben. Aber vielleicht merkte er es ja nicht, weil er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Zum ersten Mal wünschte sich Keil, der Mensch möge noch mehr trinken als zuvor. Doch Felder mochte zwar betrunken sein - blind war er nicht, und nach drei Tagen kam der gefürchtete Moment. Der Mensch winkte Keil beiseite und sorgte dafür, daß sie ein Stück hinter den anderen zurückblieben.
»Kannst du mir bitte sagen, was los ist?« fragte er. »Das ist ja nicht mehr zum Aushalten mit euch! Ich wußte zwar, daß Schwinge nicht mit mir redet und auch nicht mit Lonnìl, aber seit wann ignoriert sie dich
Obwohl Keil mit dieser Frage gerechnet hatte, wußte er keine Antwort darauf. Das hieß - natürlich wußte er die Antwort. Aber er konnte sie nicht sagen. »Morren kann es dir erklären«, murmelte er schließlich zögerlich.
»Das nehme ich an. Aber ich habe dich gefragt. Ich will wissen, was passiert ist. Hängt es mit Lonnìl zusammen? Hattest du was mit Schwinge? Ich meine …« Felder strich sich verlegen durch die Haare. »Verdammt, wie soll ich es sagen? Ich glaube nicht, daß du dich ihr irgendwie genähert hast, und sie sich dir ganz sicher nicht. Also - was ist hier los?«
Keil antwortete immer noch nicht, aber unwillkürlich umklammerte er den Beutel, in dem die Flöten waren, fest mit beiden Händen. Felder bemerkte es und fragte nach. Schließlich mußte Keil es ihm sagen.
»Es ist die Flöte«, flüsterte er. Felder begriff.
»Die Flöte aus Eis? Also habt ihr sie gefunden? Das hätte ich fast nicht zu hoffen gewagt. Laß mal sehen!«
Keil schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Man darf nicht auf ihr spielen.«
»Nicht? Was passiert dann? Bricht der Himmel zusammen, oder was?« Felder lachte, doch es klang etwas nervös.
»Ich weiß es nicht. Ich will es gar nicht wissen. Aber Schwinge …«
»Sie will, daß du darauf spielst«, vollendete Felder den Satz. »Ihr habt euch deswegen gestritten, und jetzt redet sie nicht mehr mit dir.«
Keil blickte zu Boden und nickte unglücklich. Felder klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, so wie er es manchmal mit Lonnìl machte. »Laß dich nicht von ihr unterkriegen. Mach das, was du für richtig hältst. Wenn du nicht auf der Flöte spielen willst, solltest du es auch nicht tun. Sag Schwinge, wenn sie dich noch einmal damit belästigt, bekommt sie es mit mir zu tun.«
»Du verstehst es nicht ganz«, murmelte Keil. »Schwinge hat vielleicht Recht.«
»Das verstehe ich jetzt wirklich nicht«, sagte Felder. Aber wie sollte Keil es ihm erklären, ohne dabei … von seinem Namen zu sprechen?
Er versuchte es. »Sie sagt, ich bin dazu vorbestimmt, die Flöte zu spielen.«
»Und hat sie Recht?«
Keil antwortete nicht. Felder wiederholte die Frage noch einmal, diesmal mit Nachdruck. Keil zögerte immer noch. Dann sagte er, was er sich selbst nie eingestanden hatte: »Ja.«
»Aber du willst sie trotzdem nicht spielen?«
»Ich darf es nicht.«
»Dann solltest du es auch nicht tun. Siehst du, es ist gut, daß du mit mir darüber redest. Vielleicht sehe ich nicht so aus, aber ich bin so ziemlich die einzige Person, die dich in dieser Hinsicht völlig versteht. Wenn man dazu vorbestimmt ist, eine Sache zu tun, heißt das noch lange nicht, daß man dazu auch in der Lage ist. Nimm mich. Ich war von Geburt aus dazu auserkoren, eines Tages Thoria zu regieren. Ich bin sogar nur zu diesem Zweck gezeugt worden. Und was hat es gebracht? Nichts als Ärger, sowohl für mich, als auch für …« Er brach ab und setzte an einer anderen Stelle wieder ein. »Tu immer das, was du für richtig hältst, egal, ob es richtig ist oder nicht, und egal, was deine Freunde und Feinde sagen. Freunde und Feinde kann man loswerden. Aber bis zum Ende deines Lebens mußt du mit dir selbst zusammenleben. Um es kurz zu sagen: Tu was du willst - wenn du willst, was du tust. Wenn nicht, wird es dir früher oder später leid tun.«
Es war ein großer Ernst in diesem Worten und Bitterkeit, so daß Keil nicht anders konnte als fragen: »Tut es dir jetzt leid, was du getan hast?«
Das hätte er nicht fragen sollen. Felder starrte ihn einen Moment lang entgeistert an, dann lachte er unbekümmert. »Was sollte mir schon leid tun? Ich habe alles so gewollt. Außerdem reden wir hier jetzt nicht von mir. Es geht um dich und Schwinge. Aber du hast Recht. Es ist schon komisch.«
Keil konnte sich nicht erinnern, irgend etwas Komisches gesagt zu haben. Doch Felder redete auch schon weiter: »Du und Schwinge, ihr seid Elfen. Lonnìl und ich sind Menschen. Es ist einer Kette von Zufällen zu verdanken, daß wir überhaupt aufeinander getroffen sind. Aber es sind Lonnìl und Schwinge, die sich gleichen, und du und ich, nicht umgekehrt. Die beiden haben ein ähnliches Schicksal und leben irgendwie nur für ihre Rache, während wir gegen unsere Bestimmung ankämpfen und gegen Leute, die über unsere Zukunft bestimmen wollen. Und über allem thront Morren, der …« Felder erklärte nicht, was mit Lonnìl war, sondern brach abrupt ab und trank einen Schluck, und danach schien er das Thema völlig vergessen zu haben. »Laß dich nicht kleinkriegen«, sagte er nur. »Bleib dir treu. Sei du selbst. Spiel nicht auf der Flöte. Aber eine Frage noch: Warum wolltet ihr das dumme Ding dann überhaupt haben?«
Auf diese Frage wußte Keil keine vernünftige Antwort.
Eigentlich hatte er kaum etwas von dem gesagt, was wirklich passiert war. Aber er hatte das Gefühl, daß Felder ihn wirklich auch so verstand. Und was er gesagt hatte, stimmte. Ihre Schicksale ähnelten sich wirklich. Beiden war eine Macht verliehen worden, die sie nicht wollten. Felder hatte mit seiner Macht großes Unheil angerichtet. Was würde Keil tun?

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