Elftes Kapitel

And the hunter home from the hill.
Robert Louis Stevenson

Wenn Keil die Augen schloß, konnte er wieder den Fluß in der Ferne singen hören. Es war ein wundersamer, tröstlicher Klang. Er übertönte sogar das beharrliche Flüstern der Flöte aus Eis. Sein Fluß! Es war so schön, ihn noch ein letztes Mal sehen zu dürfen, bevor das Leben in den Wäldern begann. Am liebsten hätte Keil seine Freude mit Schwinge geteilt. Aber das war jetzt nicht mehr möglich. Und keiner von den anderen würde den Fluß für etwas Besonderes halten. Sie hatten sicher schon viele gesehen. Aber auf der ganzen Welt gab es keinen wie diesen.
Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie sein Dorf erreichten. Es lag dort, wo der Fluß eine Schleife machte und das Wasser seicht war, so daß man gut fischen konnte. Einen kurzen Moment lang freute Keil sich auf das Wiedersehen mit seinem Volk, vor allem mit Drachenfliege. Aber dann fiel ihm ein, daß sein Dorf nun verlassen war. Die Jäger waren zum selben Zeitpunkt losgezogen wie Schwinge und er. Sie mußten das Flußvolk längst in die Wälder geführt haben.
Aber vielleicht war ja doch noch jemand da. Einige hatten ihre Heimat nicht aufzugeben am Fluß bleiben wollen, koste es was wolle.
Plötzlich blieb Lonnìl wie angewurzelt stehen.
»Was ist los?« fragte Morren. »Warum gehst du nicht weiter?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lonnìl. »Ich habe ein merkwürdiges Gefühl.«
»Merkwürdig? Was soll das heißen? Vor einer Gefahr hätte Schwinge uns längst gewarnt. Ist irgend etwas merkwürdig, Schwinge?«
Die Jägerin blieb lauschte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf.
»Vermutlich ist wirklich nichts«, sagte Lonnìl. »Ich bilde es mir nur ein.«
»Du wirst Hunger haben«, sagte Felder ein wenig holperig. »Mir ist dann auch immer ganz flau. In der letzten Zeit ißt du nicht mehr richtig, kann das sein? Wegen Schwinge? Laß dir gesagt sein: Keine Frau auf der Welt ist es wert, daß man ihretwegen auf das Mittagessen verzichtet. Vor allem nützt es keinem von euch beiden etwas. Also Kopf hoch!«
»Es geht schon wieder«, murmelte Lonnìl. Aber sein Gesicht war noch immer grau und angsterfüllt. »Ich hatte bloß so ein Gefühl … Laßt uns weitergehen.«
Mit jedem Schritt fühlte Keil sich heimischer. In diesen Auen war er oft spazierengegangen. Gleich mußten sie das Dorf erreicht haben. Es lag direkt hinter diesem Wäldchen, dort wo …
die Rauchsäule zum Himmel aufstieg.
Alle blieben stehen und starrten auf den dunklen Rauch. Keiner sagte etwas. Dann schluchzte Lonnìl auf. Das Gesicht des Menschen erschien grau und fahl, und ein Ausdruck größten Entsetzens stand darin. Lonnìls Augen blickten starr in die Ferne, aber sie schienen etwas zu sehen, das zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, passiert war. Der große Mann zitterte von Kopf bis Fuß. »Nein«, flüsterte er immer wieder. »Nein. Nein. Nein.«
»Hey, was ist los mit dir?« fragte Felder und schüttelte ihn an der Schulter.
Lonnìl reagierte nicht. Er schien die Berührung nicht einmal wahrzunehmen. Dann riß er plötzlich seinen Stab hoch, brüllte: »Oban!« und rannte los. Die anderen folgten ihm eilig.
Von den Grashütten stand keine mehr. Hier und da schwelten die Feuer noch, aber es war nicht mehr viel übrig, das brennen konnte. Was nicht verbrannt war, war verwüstet, dem Erdboden gleich gemacht.
Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Laubhütten konnte man wieder aufbauen. Doch die beiden Alifwin, die in seltsam verrenkter Haltung am Boden lagen, würde nichts mehr ins Leben zurückbringen. Es waren zwei alte Fischerinnen. Sie hatten sogar ihr Volk verlassen und wie Geächtete gelebt, nur um an ihrem geliebten Fluß bleiben zu können - nun waren sie für ihn gestorben.
Schwinge schrie auf und stürzte sich mit ihrem Messer auf Lonnìl, der wie versteinert in die Asche starrte. Felder warf sich dazwischen, aber Schwinge war es in diesem Moment gleich, welchen Menschen sie vor sich hatte. »Mörder!« schrie sie. »Ihr habt das getan, ihr und euer Volk! Dafür werdet ihr sterben!«
Felder versuchte der Jägerin das Messer zu entwinden. Betrunken oder nicht, er hatte sofort erkannt, daß Lonnìl sich niemals gegen Schwinge gewehrt hätte. In Schwinges vor Zorn verzerrtem Gesicht stand kein Erkennen, und sie hätte vermutlich alles angegriffen, was sich bewegte. Der Mensch war zwar mehr als einen Kopf kleiner als seine Gegnerin, aber kräftig, und er versuchte, beide Arme Schwinges festzuhalten.
Keil fühlte sich, als wäre er selbst gar nicht wirklich dabei. Er war wie gelähmt, nur ein ferner Beobachter, wie Morren, der ein Ereignis in seiner Kugel sah. Irgendwie war ihm alles, was geschah, egal. Jetzt war es ohnehin zu spät.
»Aufhören!« sagte Morren. Felder und Schwinge erstarrten. »Dies ist schlimm. Es ist sogar sehr schlimm, und wir können nichts dagegen tun. Es herrscht Krieg zwischen den Menschen und den Alifwin. Beide Seiten haben es selbst so gewollt. Aber wenn ihr die eigentlichen Schuldigen für diesen Überfall sucht, müßt ihr nicht lange laufen. Es ist eine Gruppe von jungen Männern, die ihr Lager nicht weit von hier aufgeschlagen hat.«
Als er seinen Bann wieder löste, stieß Schwinge Felder so weit von sich, wie sie konnte, versuchte aber nicht, ihn noch einmal anzugreifen, sondern wischte nur angewidert ihre Ärmel ab, wo der Mensch sie berührt hatte.
»Aber warum?« fragte Lonnìl tonlos. »Warum haben sie das getan?«
»Zeit für das Herbstfest«, antwortete Felder. Er rieb sich die verschwitzten Haare aus der Stirn und atmete schwer. »Die Leute wollen sich amüsieren. Sie rotten sich zusammen, besaufen sich, mischen ein paar Elfen auf. Sie denken sich nichts dabei.« Schulternzuckend trank er noch einen Schluck, obwohl er für den Tag sicher schon mehr als genug hatte.
»Ihr Menschen denkt nie, das ist der Punkt«, sagte Morren. »Was nun? Ich schlage vor, wir bleiben hier, löschen das Feuer und bestatten die Leichen so, wie es in Keils Stamm Sitte ist.«
»Nein«, sagte Schwinge. Ihre Stimme war ruhig und vollkommen kalt. »Es ist unsere Pflicht zu rächen. Wir töten diejenigen, die das getan haben. Alle. Das bin ich meinem Volk schuldig - und meinen Eltern. Wenn du weißt, wo sie ihr Lager haben, führe uns hin, Zauberer.«
Morren nickte. Wie in Trance folgte ihm Keil, aber er konnte nicht sagen, ob sie rannten oder langsam gingen. Etwas war dabei, von ihm Besitz zu ergreifen, aber Keil konnte nicht sagen, was es war. Er fühlte sich nur leer. Alle Geräusche drangen gedämpft, wie durch einen Nebel in seine Ohren. Keil biß die Zähne fest zusammen, bis es schmerzte und er einen hohen Ton spürte, der den Nebel vertrieb.
Die Menschen hatten sich für ihr Lager eine gute Stelle ausgesucht: Eine flache Wiese, auf der nur ein großer Baum stand. Früher hatten die Bauern von Keils Stamm dort ihre Tiere gehütet, langhaarige Ziegen, aus deren Wolle ein warmer Stoff für den Winter gewebt wurde. Aber das Gras war schon längst wieder gewachsen. Es gab einige große Steine und Büsche, und einige Menschen, die am Boden saßen und sangen. Morren blieb bei einem Gehölz in sicherer Entfernung stehen.
»Da habt ihr sie«, sagte er. »Und ich hoffe, Schwinge, du siehst, daß es hoffnungslos wäre, sie anzugreifen. Es sind zu viele. Sie würden dich töten, bevor du auch nur einen von ihnen erwischst. Sie sind gefährlicher, als sie im Moment wirken.«
Es war fraglich, ob Schwinge ihn überhaupt hörte. Ihren Bogen griffbereit, schlich sie geduckt durch das hohe Gras auf den Baum zu. Kein Laut war zu hören, nicht einmal ein Rascheln, und bald war sie nicht mehr zu sehen.
Auch Lonnìl wollte sofort mit gezogenem Schwert losrennen, aber Felder hielt ihn zurück. »Warte!« schrie er. Es war ein Wunder, daß die Männer ihn nicht hörten und zu ihren Waffen griffen.
Lonnìl blieb stehen und drehte sich um, sein Gesicht wutverzerrt. »Aber wir müssen etwas tun! Sie werden sonst noch mehr töten!«
»Ja«, sagte Felder. »Aber du hast keine Chance gegen sie.«
»Aber ich muß -«
»Gib mir das Schwert!« befahl Felder. Seine Stimme duldete keinen Widerstand, und es war sicher besser, jetzt keinen Streit mit ihm anzufangen. Keil hielt den Atem an. Es waren so viele! Aber Lonnìl würde sich nicht davon abhalten lassen, es zu versuchen. Schwinge war inzwischen unbemerkt bei dem großen Baum angekommen, und sie hatte schon einen Pfeil zwischen den Zähnen, um ihm sofort anlegen zu können, wenn sie oben war. Aber was konnte sie schon ausrichten? Es sah hoffnungslos aus.
»Gib mir das Schwert endlich!« schrie Felder. Lonnìl sah ihn unschlüssig an. Laut brüllend stürzte Felder auf ihn zu, riß ihm das Schwert aus der Hand - und griff die Menschen an. »Kommt her, ihr Hundesöhne! Kämpft mit mir, wenn ihr euch traut, aber laßt die Elfen in Frieden! Ich werde euch eure eigenen Gedärme um die Ohren hauen!«
Lonnìl rannte hinterher. Kaum daß sie losliefen, kam Leben in die Gruppe. Und schon waren beide in einem Kampfgetümmel verschwunden.
»Bleibt stehen!« rief Morren. »Ihr lauft in euer Verderben!« Aber niemand achtete auf ihn.
Keil stand dabei wie versteinert. Dies geschah nicht wirklich! Es war ein Traum oder eine Illusion. Gleich würde er um die nächste Ecke biegen, und da würde sein Dorf sein, unversehrt und verlassen. Er mußte nur ruhig stehenbleiben, zusehen und abwarten. In Wirklichkeit war alles so, wie es sein mußte.
»Keil!« schrie Morren und schüttelte ihn. »Du kannst hier nicht stehenbleiben! Träum nicht! Bring dich in Sicherheit!« Ein Blitz schoß aus der Hand des Zauberers in die Menge. Das Licht riß Keil aus seiner Erstarrung. Der Nebel in seinem Kopf war wie fortgeblasen. Dies war die Wirklichkeit. Es fand ein schrecklicher Kampf statt. Diesmal war es Angst, die Keil lähmte. Der Zauberer schüttelte ihn noch einmal.
»Renn, Keil! Lauf, so schnell wie du kannst! Rette die Flöte!«
Aber Keil konnte nicht wegrennen. Es war feige zu fliehen.
»Du kannst jetzt nichts tun! Bring dich und die Flöte in Sicherheit! Wir kommen nach, sobald der Kampf vorbei ist! Es wird nicht lange dauern! Worauf wartest du?«
Hielten ihn alle für einen Feigling oder ein kleines Kind? Glaubten sie vielleicht, er könnte es aushalten, daß seine Freunde mitten in einem Kampf steckten, während er selbst irgendwo in Sicherheit war? Keil spürte, wie seine Angst sich langsam in große Wut verwandelte. Nein, es war mehr als Wut - es war blanker Haß, nicht nur auf diese Menschen, sondern auch auf alle, die ihn behandelten wie ein Kind. So wie Morren jetzt Blitze gegen die Feinde einsetzte, hatte auch Keil seine Magie. Er griff in seinen Beutel und holte seine Flöte hervor.
Aber gerade als er sie an die Lippen setzen wollte, bemerkte er, was er getan hatte. Er hatte nicht nach der Silberflöte gegriffen. Es war die Flöte aus Eis. Keil erschrak und wollte sie schnell wieder einstecken. Aber er konnte nicht.
Morren blickte zu ihm hinüber und bemerkte die Flöte. Er nickte.
»Du hast dich also doch entschlossen, auf ihr zu spielen? Gut. Hab keine Angst. Konzentriere dich. Ich verhindere im Moment, daß sie auf dich oder mich achten. Denk nur an deine Musik und spiele die Flöte.«
Das Instrument der Hohen fühlte sich nicht länger kalt und tot an. Es war warm, etwas Lebendiges. Keils Hände krampften sich um das Eis, das jetzt wie Glas aussah. Er konnte sie nicht spielen. Er durfte es nicht.

Als Lonnìl losstürmte, hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, mit was für einer Übermacht sie es zu tun hatten. Aber mitten im Kampf wurde es ihm schlagartig bewußt, daß Felder und er alleine im Getümmel steckten. Schwinge schoß aus ihrem Versteck auf die Gegner, und Morren stand am Rand und schleuderte Blitze und Feuer, doch die beiden Männer kämpften allein.
Felder schlug wild mit dem Schwert um sich, als wäre ihm klar geworden, daß er in solch einem Kampf sein Leben verlieren konnte. Von der spielerischen Leichtigkeit, mit der er früher gefochten hatte, war nicht mehr viel zu merken. Der Schweiß lief dem Prinzen übers Gesicht, und er schien blind um sich zu schlagen, erwischte mal den einen, mal den anderen Gegner. Bis jetzt war er nicht verwundet, weil sich keiner in die Nähe seines unberechenbaren Schwertes wagte, aber lange würde er nicht mehr durchhalten. Doch das schien ihm egal zu sein, ebenso wie er sich vermutlich nicht bewußt war, daß er auf der Seite Elfen gegen die Menschen kämpfte.
Lonnìl sah keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Er war zwar in besserer Verfassung, aber auch er wurde langsam müde, und er hatte alle Hände voll damit zu tun, sich die anderen vom Hals zu halten. Längst konnte er nicht mehr angreifen, nur noch Schwertern ausweichen oder Schläge abfangen. Wenn sein Stab zerbrach, war er verloren. Jetzt begriff er, warum Felder versucht hatte, ihm den Schwertkampf beizubringen. Ein Schwert mochte vielleicht die Waffe der Tyrannen sein, aber es war einem Stock, ganz gleich wie hart und schwer, bei weitem überlegen.
Der Baum … er mußte es irgendwie schaffen, zu dem Baum dort hinüberzukommen! Zumindest seine Rückendeckung wäre dann gewährleistet, auch wenn es die Bewegungsfreiheit stark einschränkte. Rücken an rücken mit Felder kämpfen - das war zu gefährlich. Es half nichts - der Baum war seine einzige Rettung.

»Die Flöte!« schrie Morren. »Du mußt auf der Flöte spielen, sonst sind wir alle verloren!«
»Ich kann nicht«, flüsterte Keil. »Ich darf nicht.«
»Du mußt! Ich kann nur mich selbst retten! Ihr werdet alle getötet! Und dann ist auch die Flöte verloren!«
Keil stand immer noch wie erstarrt. Die Flöte aus Eis fühlte sich so heiß an, als wollte sie sich durch seine Handflächen brennen, aber er konnte sie nicht einmal fallenlassen. Sie war wie festgewachsen. In seinem Kopf erklang eine wunderschöne fremde Melodie. Er mußte sie jetzt nur spielen, und alle wären gerettet. Aber gleichzeitig wußte er, daß er es nicht durfte. Wieder und wieder formte er im Kopf die Worte der alten Bardin, um die Melodie zum Verstummen zu bringen: Auf der Flöte spielt man nicht. Auf der Flöte spielt man nicht. Niemand durfte es. Nicht einmal er. Aber er konnte doch nicht zulassen, daß alle seine Freunde getötet wurden! Egal was er tat, es war falsch. Auf der Flöte spielt man nicht.

Schwinge schoß nicht auf irgendwelche namenlosen Menschen, die Keils Dorf überfallen hatten. Sie schoß auf die Mörder ihrer Eltern. Endlich war der Tag der Rache gekommen. Sie hatten kein Recht mehr, weiterzuleben. Die Pfeile trafen mit tödlicher Sicherheit. Sie sah Männer getroffen zu Boden stürzen, nicht sofort tot, aber so verwundet, daß sie bis zu ihrem sicheren Ende leiden würden. Eigentlich hätte Schwinge jetzt so etwas wie Genugtuung fühlen müssen. Aber sie spürte gar nichts, außer Schuld. Ihr Verrat blieb bestehen. Wofür hatte sie es getan? Was brachte es den Alifwin? Nichts. Keil würde die Flöte nicht spielen. Was immer sie gegen ihn sagen konnte - er hatte eine Willenskraft wie kaum ein zweiter. Zu seinem Verrat, dazu, daß er ein Freund der Menschen geworden war, würde er stehen. Dafür würde man ihn genauso ächten wie sie. Schwinge mußte ihn anklagen, weil sie sonst nicht selbst anklagen konnte.
Aber nicht nur Keil hatte sich mit den Menschen angefreundet. Die Menschen waren jetzt auch seine Freunde. Da waren sie beide, und sogar Felder kämpfte nun auf Seiten der Alifwin. Darüber konnte sie nicht einfach hinwegsehen. Dieser Mensch hatte beim Versuch, den Alifwin zu helfen, seinen Namen verloren und sein Volk ins Verderben gestürzt. Und Lonnìl war ihr bedingungslos gefolgt, immer bereit, zu helfen, und hatte niemals eine Belohnung verlangt außer einem wenig Liebe, das sie ihm nicht geben konnte. Sie war nicht in der Lage, Menschen zu mögen. Nicht einmal ihn.
Vielleicht waren ihre Eltern jetzt gerächt. Aber Schwinge konnte sich nicht darüber freuen. Sie wußte nur eines: Daß sie so nicht weiterleben konnte.

Felder versuchte, es sich nicht einzugestehen, aber er war am Ende. Dies war kein Spiel mehr. Es klang vielleicht merkwürdig in den Ohren anderer Leute, aber Felder war keine Kämpfernatur. In seinem ganzen Leben hatte er gegen nichts gekämpft, außer gegen seine ureigene Feindin, die Zeit. Alles andere, seine Turniere und Duelle, waren nur Spiele, auch wenn es denen, die er getötet hatte, sicher anders vorgekommen war. Felder war ein Spieler. Spiele waren etwas Feines, selbst wenn man sie ab und zu verlor. Aber dies hatte aufgehört, ein Spiel zu sein. Es waren einfach zu viele. Natürlich kamen allerhöchstens vier auf einmal an ihn heran, und es war nicht weiter schwer, gegen vier zu kämpfen. Aber für jeden, den er niederstreckte, kam ein neuer nach. Mehr als hacken konnte er jetzt nicht - und bald würde er nicht einmal mehr das können.
Spiel bedeutete: ‘Tod für mich oder Tod für dich’. Dies hier war anders. Dies hier war: ‘Lebt weiter, soviel ihr wollt, oder beißt ins Gras, ganz nach Belieben, solange zumindest ich das Ganze irgendwie überlebe’.
Du denkst zuviel
, schrie Tarnil. Wer denkt, kann nicht kämpfen. Hör auf zu denken!<<br> - Aber ich kann nicht aufhören!
- Dann verlierst du!

Ein Schmerz in seinem linken Arm riß Felder aus seinen Gedanken. Es hatte ihn erwischt. Gut. Schmerz lenkte ab. Es gab keine Gedanken mehr. Es gab nur noch eine Menge Blut - vorwiegend das seiner Gegner. Felder biß die Zähne zusammen, konzentrierte sich darauf, die Schmerzen zu ignorieren, wich aus und schlug zu. Aber ihm ging die Luft aus. Von der Schulter an abwärts wurde ihm sein Schwertarm lahm. Er war nicht im Training. Früher hätte ihm so ein Kämpfchen nichts ausgemacht. Aber jetzt fehlte ihm die Kraft.
Halte durch, solange es geht. Stirb ehrenvoll.
- Aber ich habe mir nie etwas aus Ehre gemacht!
- Das ist egal!

Nicht denken! Hatte er nicht einmal der beste Schwertkämpfer der Welt werden wollen? Wo waren jetzt seine Finten? Felder versuchte es. Mit erhobenem Schwert setzte er zu einer Drehung an, als wolle er den Kerl zu seiner Linken köpfen, bremste jedoch mitten in der Bewegung ab, riß die Klinge herunter und wirbelte zurück, wobei er den völlig überrumpelten rechten Mann mit voller Wucht traf. Dieser hatte keine Möglichkeit mehr, zu reagieren, als ihn die Klinge der Länge nach aufriß. Er stürzte nach hinten. Das Manöver war geglückt, ein Gegner weg. Aber Felder war zu sehr damit beschäftigt, sein eigenes Gleichgewicht wiederzufinden, als daß er sich darüber hätte freuen können. Früher einmal hatte er diesen Trick besser als jeder andere beherrscht, doch nun riß es ihn fast selbst von den Füßen. Vor seinen Augen drehte sich alles. Statt den Schwung zu nutzen, sich einmal um die eigene Achse zu drehen und nun auch den vom Schicksal seines Kameraden abgelenkten zweiten Gegner zu erledigen, prallte er mit voller Kraft gegen den Baum. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Wenn er schon sechs Wochen und mehr kein Schwert angerührt hatte, warum hatte er sich dann nicht zumindest aufgewärmt? Jetzt mußte er die Konsequenzen tragen. Er fing sich gerade noch rechtzeitig, um einem von links oben kommenden Hieb auszuweichen. In diesem Kampf durfte sich Felder keine gewagten Spielchen mehr erlauben.
Zwei Schritte vor, schlagen, ausweichen, Schritt nach links. Aber da war kein Platz mehr. Überall waren Männer mit Schwertern. Er saß fest. Ducken, schlagen, Drehung. Was war aus diesem wundervollen Gefühl geworden, dem Nervenkitzel? Jetzt war ihm einfach nur noch übel. Felder war zu betrunken zum Kämpfen, und zu betrunken, um das zu merken. Tarnil hatte ihn immer gewarnt, daß so etwas eines Tages passieren mußte.
Deine Deckung, verdammt! Achte auf deine Deckung!

Zu spät.

»Lonnìl, paß auf! Hinter dir!« schrie Schwinges Stimme im Baum direkt über ihm. Er sah nach oben. Aber er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen - nicht einmal von Schwinge. Sonst waren sie vielleicht alle verloren.
Schnell drehte er sich in die Richtung, die Schwinge ihm deutete. Es war Rettung im letzten Moment. Dort stand ein grimmig dreinblickender Mann, sein Schwert erhoben, und um ein Haar hätte es ihn erwischt. Einzig Schwinges Warnung hatte Lonnìl das Leben gerettet. Wie betäubt riß er dem Stab herum und schlug zu.
Wieder hatte er das Gefühl, daß die Zeit um ihn herum zusammenbrach. Alles geschah gleichzeitig, und alle Geräusche vermischten sich zu einem. Felders Brüllen, das Knacken der Zweige, der Schlag und das Krachen, als er im Herumfahren die Knie des Angreifers traf - für Lonnìl gehörten sie alle nur zu einem Laut: dem Schrei, den Schwinge ausstieß, als sie direkt in das noch erhobene Schwert des zusammenbrechenden Feindes stürzte.
Danach gab es nichts mehr. Nur noch Schwinge.

Nicht die Flöte war aus Eis - er selber war es. Sie lebte in seinen Händen, heiß und unglaublich mächtig, während Keil sich nicht bewegen konnte. Selbst sein Herz schien stillzustehen, es war erstarrt, wie alles andere. Er konnte nichts tun, nur zusehen.
Er sah, wie Schwinge direkt aus dem Baum in das Schwert zu springen schien. Er sah sie sterben. Er sah, wie plötzlich Morren vor ihm stand und die Hände ausstreckte, und er hörte ihn sagen: »Närrisches Kind, wenn du es nicht tust, dann tue ich es!« Er sah die Flöte in Morrens Händen. Er sah die Flöte an Morrens Lippen. Aber er konnte nichts machen.
Und Morren spielte auf der Flöte.
Er blies einen einzigen Ton, hoch, dünn und leise, aber doch allesdurchdringend.
Im selben Moment schrie der Zauberer auf. Die Flöte entglitt seinen Händen und fiel zu Boden, rollte noch einige Fuß weiter, als ob eigenes Leben in ihr wohnte. Morren schrie weiter. Es war das Schrecklichste, was Keil jemals gehört hatte. Blutrote Flammen schlugen aus dem Körper des Zauberers, hüllten ihn ein, während er immer noch schreiend zu Boden stürzte. Er zuckte noch einmal. Das Feuer erstarb. Dann herrschte Stille.
Jetzt erst kam wieder Leben in Keil. Aber anstatt zu Schwinge oder zu Morren zu laufen, um zu sehen, ob er ihnen irgendwie noch helfen konnte, tat er etwas anderes. Er sprang vor und ergriff die Flöte, bevor sie noch in den falschen Händen noch mehr Unheil anrichten konnte. Sie fühlte sich wieder so an wie früher, kalt und leblos, nichts weiter als ein kunstvoll geformtes Stück Eis, das nicht schmelzen wollte.
Keil blickte sich um. Die feindlichen Menschen waren verschwunden bis auf einige, die reglos am Boden lagen. Zu Füßen des großen Baumes hockte Lonnìl und hielt Schwinge in seinen Armen. In einem Kreis aus verbranntem Gras lag Morren ausgestreckt. Er sah völlig unversehrt aus, aber seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht weiß, und er rührte sich nicht.
Die schreckliche Stille dauerte an, Keil konnte nicht sagen, wie lange, bis ein Aufschrei von Felder sie zerriß. »Morren!«
Der Mensch stolperte quer über die zertretene Wiese zu der Stelle, wo der Zauberer lag. Er kniete nieder und schüttelte ihn, wobei es ihm egal zu sein schien, daß er selbst stark blutete. »Morren! Sag was! Du kannst nicht einfach sterben! Du bist unsterblich, vergiß das nicht!« Felders Stimme klang schrill wie die eines Kindes. »Steh auf! Rühr dich! Wo kommen wir denn hin, wenn auch die Unsterblichen tot umfallen? Sag doch etwas!«
»Und was«, fragte Morren, »soll ich deiner Ansicht nach sagen?«
Felder stieß einen neuen Schrei aus. »Du lebst!«
»Selbstverständlich lebe ich. Es heißt, wer auf der Flöte spielt, den zerstört sie. Aber mich kann man nicht zerstören. Der einzige, der das könnte, wäre mein eigener Bruder, und der würde das niemals tun. Es hat mich nur einige Überredungskraft gekostet, dies auch der Flöte beizubringen. Was ist geschehen?«
»Ich hatte ein Gefühl, als müßte ich entweder tot umfallen oder schreiend wegrennen. Da ich noch nie vor etwas weggerannt bin, außer vor meiner Zukunft, habe ich mich für das erste entschieden, während meine Gegner schreiend wegrannten. Ich wußte nicht, daß du auf der Flöte gespielt hast. Ich hörte einfach nur diesen Ton. Mehr weiß ich auch nicht, außer, daß ich plötzlich ganz allein da stand mit meinem Schwert und sah, wie du … Aber mit dir ist alles in Ordnung?«
»Ich bin erschöpft«, murmelte Morren und setzte sich auf. »Ich brauche etwas Ruhe. Dieser Kampf hat mich eine Menge Kraft gekostet.«
»Kann ich dir irgendwie helfen? Ich kann zwar mit meinem linken Arm im Moment nicht viel anfangen, aber das kann ich sonst auch nicht, und du -«
»Laß mich in Ruhe!« sagte Morren so schneidend, daß Felder zurückfuhr. Er zuckte die Schultern, ließ den Zauberer am Boden sitzen und ging statt dessen zu Lonnìl hinüber. Keil blickte ihm nach, aber er sah seine Umgebung nur noch verschwommen, wie durch einen Schleier von Tränen. Alles war seine Schuld.

Lonnìl hatte nichts von dem, was mit Morren geschehen war, mitbekommen. Er kauerte am Boden, und die Welt stand für ihn still. Es gab nur noch Schwinge, die in seinen Armen lag. Erst als Felder an ihn herantrat und ihm die Hand auf die Schulter legte, sah er auf. Sein Blick fiel auf Morren, der scheinbar untätig herumsaß, und er schrie ihn verzweifelt an.
»Tu etwas, Zauberer! Du kannst sie retten, du hast die Macht dazu! Warum tust du nichts?«
»Das kann und darf ich nicht«, sagte Morren. »Es ist zu spät.«
»Aber sie darf nicht sterben! Es ist nicht gerecht!«
»Das Leben ist nicht gerecht, Lonnìl. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.« Die Stimme des Zauberers klang leise und sanft. Vielleicht hätte er Schwinge retten können, aber er mußte viel Kraft verloren haben.
Schwinges Augen waren geschlossen, ihr Gesicht entspannt, als ob sie nur schliefe. Doch ihre Tunika war blutdurchtränkt, da, wo das Schwert eingetreten war. Lonnìl hielt die Elfe fest an sich gedrückt. Tränen liefen über das Gesicht des großen Mannes.
»Nein«, sagte Felder. »Es ist gerecht. Sie ist genau den Tod gestorben, den sie verdient hatte.«
»Wie kannst du so etwas sagen?« schrie Lonnìl. »Sie war viel zu jung, um zu sterben!«
»Jung?« fragte Felder. »Was meinst du mit ‘jung’? Sie war mehr als dreihundert Jahre alt! Egal, wie sehr wir uns anstrengen, wir werden doch nur einen Bruchteil davon erreichen können. Sie hat ihr Leben gehabt, und sie ist auf eine Art gestorben, wie man es einer Jägerin nur wünschen kann: Schnell, und in einem Kampf.«
Seine Worte verfehlten ihr Ziel. Lonnìl sah Felder nur noch anklagender an.
»Du hast sie nie gemocht! Ihr Tod geht dir nicht einmal nahe. Du bist gar nicht in der Lage, um irgend jemanden zu trauern!«
»Wenn wir um jemanden trauern, dann trauern wir doch in Wirklichkeit nur um uns selbst, weil wir in Zukunft ohne diese Person auskommen müssen. Der Tod ist Bestandteil unseres Lebens. Es ist wahr, es herrschte keine Freundschaft zwischen mir und Schwinge. Sie mochte mich nicht, und ich mochte sie nicht, aber ich habe sie respektiert. Ich trauere nicht um sie, aber ich zolle ihr eine letzte Ehre, indem ich sage, daß sie zumindest einen guten Tod hatte.«
Aber es war unmöglich, Lonnìl jetzt zu trösten. Er wollte in seinem Leid alleine sein, und Felder wußte nicht, was er noch hätte sagen sollen. Schwinges Tod war ihm nicht wirklich gleichgültig. Er berührte ihn nur auf andere Weise. Um Lonnìl irgendwie seine Anteilnahme auszudrücken, stieß Felder das Schwert neben ihm in die Erde, als Zeichen dafür, daß es immer noch seines war. Lonnìl merkte es nicht. Erst jetzt fiel Felder auf, daß seine Klinge fast bis zum Heft blutverschmiert war. Natürlich. Irgendwo mußten diese Toten schließlich herkommen. Langsam begriff Felder, was er da gerade überlebt hatte und weswegen ihm so übel dabei geworden war. Plötzlich spürte er auch seine Verletzungen wieder. Jeder Atemzug bereitete größere Schmerzen. Felder blickte an sich herunter. Er war über und über blutbesudelt, und er konnte sich unmöglich einreden, daß es nur das seiner Gegner war. Fahrig, mit Händen, die plötzlich zitterten, wand er sich aus den Resten seines Hemdes. Wenn das Blut erst einmal geronnen war, würden alle Wunden wieder aufreißen, sobald er versuchte, auch nur sein Wams abzulegen. Schwinge hatte jedesmal einen Aufstand gemacht, wenn er ohne Hemd herumlief. Aber Schwinge war tot, und überhaupt war es Felder herzlich egal, was sie von ihm dachte.
Keil stand reglos einige Schritt entfernt. Sein Blick war starr auf die Flöte gerichtet, die er in seinen Händen hielt. Felder ging zu ihn hinüber.
»Wie geht es dir?« fragte er. Es war nicht unbedingt das, was er hatte sagen wollen, aber der Elf reagierte sowieso nicht darauf. Felder wußte nicht, was er sonst noch hätte tun können, und er haßte es, untätig herumzustehen und sich nutzlos vorzukommen. Außerdem mußte er sich irgendwie davon ablenken, daß sein Arm blutete und pochte, und das gleiche galt für die Stelle über seinen Rippen, wo es ihm um ein Haar die Seite aufgerissen hatte. Am liebsten hätte er auf irgend etwas eingedroschen, aber hier gab es nichts Geeignetes, und außerdem gehörte das Schwert jetzt wieder Lonnìl. Schließlich fiel sein Blick auf einen von den Männern, die sie niedergemacht hatten. Sein Schwert lag neben ihm. Er würde es nicht mehr brauchen. Und bestimmt hatte er noch andere nützliche Sachen bei sich, ebenso wie seine toten Kumpanen. Für einfache Bauern waren diese Männer bemerkenswert gut ausgerüstet. Aber vielleicht waren es ja auch junge Landadlige.
Seine Schmerzen ignorierend, kniete Felder sich hin und wälzte den Toten herum. Wer ein derart feines Schwert hatte, der besaß auch den passenden Dolch dazu. Und tatsächlich - er trug ihn an seinem Gürtel, in einer hübsch verzierten Scheide. Es war kein Problem, beides an sich zu nehmen, denn offensichtlich war auch der Gürtel durchtrennt worden, als das Schwert dem Mann den Bauch aufriß. Ein lederner Geldbeutel, blutverschmiert, aber prall gefüllt, weswegen Felder auch diesen an sich nahm. Ein Räuber durfte nicht zimperlich sein. Er hatte diesen Kerl ehrenvoll im Kampf besiegt, und nun war es sein gutes Recht, die Wertgegenstände an sich zu nehmen. Was sollte ein Toter auch damit? Aber der wohl erfreulichste Ausrüstungsgegenstand des Erschlagenen war seine Feldflasche. Nicht mehr viel drin, aber es war immer noch besser als nichts. Gierig trank er. Vielleicht hatten die anderen Toten noch mehr. Eine Sekunde lang schoß Felder durch den Kopf, was für einen Anblick er in diesem Moment bieten mochte, wie er halbnackt, blutbesudelt und abgerissen die Taschen von toten Männern ausleerte, gleich einer Krähe, die über ein Stück Aas herfiel. Aber was sollte er jetzt noch mit einem Gewissen? Es war sicherlich verwerflicher, diese Menschen getötet zu haben, als sie nun auszurauben. Und in der Reihe der Leute, die er schon umgebracht hatte, fielen sie auch nicht weiter ins Gewicht. Felder hatte nur, wie jedesmal nach einem Kampf, aus dem er siegreich hervorgegangen war, das dringende Bedürfnis zu trinken. Immerhin hätte es genauso gut er sein können, der da lag.
Gerade als er sich wieder aufrichten wollte, hörte Felder ein leises, gurgelndes Röcheln. Der Mann war überhaupt noch nicht tot! Einen Moment lang wurde Felder übel. Wenn bei einem Toten die Gedärme freilagen, war das nicht weiter tragisch. Aber bei einem Lebendem … Egal, was dieser Mann getan hatte, als er das Elfendorf überfiel, zumindest hatte er das Grundrecht, das Felder jedem zubilligte: Einen angenehmen, schnellen Tod. Ohne noch länger zu zögern, zog er den neuen Dolch aus der Scheide und durchschnitt mit einer schnellen, glatten Bewegung die Kehle des Mannes. Das Röcheln verstummte. Die Klinge war wirklich gut.
Felder wischte sie an einer Stelle im Gras ab, wo es noch sauber war, denn das Blut schien hier wirklich überall zu sein, und befestigte dann die Scheide an seinem Gürtel. Es juckte ihn in den Fingern, nun auch das Schwert auszuprobieren, und er stand vorsichtig auf. Bis die Wunden richtig verheilt waren, würde er sich etwas schonen müssen, aber das war schon in Ordnung. Das hier war kein Anderthalbhänder, sondern eine reine Einhandwaffe, und so würde er den linken Arm in der nächsten Zeit nicht unbedingt brauchen. Und was die andere Stelle anging - das war nur eine Fleischwunde, ein groß geratener Kratzer, der schlimm aussah, aber keine Folgen außer einer weiteren interessanten Narbe mit sich bringen würde.
Die Schmerzen in seinem Arm und seiner Seite endeten schlagartig. Felder sah an sich hinunter und konnte einen Aufschrei knapp verhindern. Dort, wo eben noch die frischen Wunden geklafft und geblutet hatten, war nun nichts mehr zu sehen als unversehrte, sonnengebräunte Haut, als hätte er sich alles nur eingebildet. Alles, was er nun noch spürte, war der Blick des Zauberers, und er drehte sich um, das Schwert erhoben.
»Du schaffst es jedes Mals aufs Neue, mich in Erstaunen zu versetzen«, stellte Morren trocken fest. »Jedesmal, wenn ich denke, du kannst nicht noch tiefer sinken, überzeugst du mich vom Gegenteil. Nun bist du also auch noch ein Räuber geworden.«
»Hast du was dagegen?« fragte Felder. Das Schwert lag gut in seiner Hand, wenn es auch ein Stück kürzer und leichter war als sein altes. »Irgendwas muß ich schließlich tun.« Es war ein gutes Schwert. Vielleicht würde er es eines Tages Schwert nennen. In nächsten Moment stellte er bedauernd fest, daß Morren ihn schon wieder nicht bloß geheilt, sondern auch ausgenüchtert hatte. Nun waren auch die kleinsten Spuren des Rausches weggewischt, und um ihn war nichts mehr als ein entsetzliches Schlachtfeld, auf dem ein Gemetzel stattgefunden hatte. In der Luft überlagerte sich der Blutgeruch mit dem stechend süßlichen Gestank von verbranntem Fleisch. Und Felder, der so oft dem Tod gegenübergestanden hatte, merkte, daß er kurz davor stand, sich zu übergeben.
Der Zauberer lachte. Schwinges Tod schien ihn nicht weiter zu berühren. Es war etwas an Morren, das Felder zuvor nicht aufgefallen war, eine Kälte in seiner Stimme.
»Du bist wirklich sicher, daß mit dir alles in Ordnung ist?« fragte er vorsichtig. Ihm hatte nicht viel an Schwinge gelegen, aber der Zauberer war sein Freund, und es hatte ihm einen merkwürdigen Stich versetzt, als er zu Boden ging. Er hätte ihm gefehlt.
»Mir kann niemand etwas anhaben«, lachte Morren. »Wie ich schon sagte - Unsterblichkeit hat einiges für sich. Aber du hast Recht, Felder. Jeder bekommt den Tod, den er verdient. Und wie ich dich so ansehe, als Räuber, Trinker und Leichenfledderer, bezweifle ich stark, daß dein Ende so edel sein wird wie Schwinges, noch, daß irgend jemand dann eine so anrührende Rede halten wird wie du vorhin. Ich hatte eigentlich immer angenommen, daß du dich eines Tages zu Tode trinken würdest, aber ich denke nicht, daß es überhaupt so weit kommt. Wenn du nicht gerade vorher gehängt wirst, schneidet dir jemand in einer dunklen Gasse die Kehle durch.«
Felder fröstelte. Er begriff nicht, warum der Zauberer das in diesem merkwürdigen Tonfall sagen mußte. Es wäre nicht nötig gewesen, ihm seine Sterblichkeit so direkt vor Augen zu führen. Er wußte, was auf ihn zukam, und das war auf jeden Fall besser, als irgendwann vor Altersschwäche einzugehen. Morren hatte auch früher schon derartige Dinge gesagt. Aber das war immer nur die Warnung vor einem unrühmlichen Ende gewesen. Jetzt klang es wie eine feststehende Tatsache.
»Du weißt es, nicht wahr?« fragte Felder und schauderte bei dem Gedanken. »Es ist doch etwas passiert, als du auf der Flöte gespielt hast. Du kannst jetzt in die Zukunft sehen.«
»Nein«, sagte Morren. »Das kann niemand. Die Zukunft hängt von den Handlungen einzelner ab. Deine auch. Aber du hast nicht mehr lange zu leben, wenn du dich nicht änderst. Und du wirst dich nicht mehr ändern.«
Felder überlegte einen Moment lang. Dann nickte er. »Nein. Das werde ich wirklich nicht.«

Sie bestatteten Schwinge zusammen mit den beiden toten Elfen so, wie es in Keils Stamm Gebrauch war: Auf dem Fluß. Morren hatte vorgeschlagen, die toten Elfen zusammen mit den im Kampf getöteten Männern zu verbrennen, aber das kam nicht in Frage.
»Es würde bedeuten, sie zu entweihen«, sagte Keil. »Es ist schon schlimm genug, daß ich nicht weiß, was ihr Volk mit seinen Toten macht.«
Lonnìl dachte an den Tag, an dem er ganz allein seine Familie begraben hatte. Es war niemand dagewesen um ihm zu helfen. Jetzt war es Keil, der die Schilfboote baute, auch wenn die anderem ihm ihre Hilfe anboten. Dies war etwas, das nur er tun konnte. Sie hätte niemals gewollt, daß sie von Menschen begraben wurde. Lonnìl respektierte diesen letzten Wunsch, aber es machte den Umgang mit Schwinges Tod nur noch schwerer, verstärkte seine Schuldgefühle. Sie war gestorben, indem sie ihm das Leben rettete, so als ob sie ihn im letzten Moment ihres Lebens freigesprochen hätte von ihrem Haß. Vielleicht war sie wirklich nicht in der Lage gewesen, ihn zu lieben. Aber vielleicht hatte sie auch einfach nicht damit leben können, daß sie es doch tat. Sie würden es nie erfahren.
Als seine Familie starb, hatte Lonnìl das Gefühl gehabt, daß auch ein Teil von ihm gestorben war. Nun war mit Schwinge ein weiteres Stück gestorben. Und der einzige, mit dem er seinen Schmerz teilen konnte, war Keil. Felder konnte nichts weiter, als den Tod zu einem alltäglichen Bestandteil des Lebens herunterzuspielen, und Morren … Lonnìl versuchte, sich nicht vorzustellen, was Morren wohl denken mochte.
»Ich möchte, daß ihr dabei seid«, sagte Keil. »Ihr seid zwar Menschen, aber ihr wart ihre Freunde, auch wenn sie das nicht wahrhaben wollte.« Er hatte sich doch von Morren mit den drei Booten helfen lassen. Allein wäre er niemals damit fertig geworden.
»Ihr legt eure Toten einfach in ein Boot und laßt sie auf dem Fluß schwimmen?« fragte Felder, der die Vorbereitungen mit ungerührtem Interesse verfolgt hatte. »Aber was ist, wenn sie an Land getrieben werden?«
»Sie werden nicht an Land getrieben«, antwortete Keil. »Unser ganzes Leben lang nehmen wir vom Fluß. Nun bekommt er seinen Anteil zurück. Niemand weiß, was er damit macht. Es genügt, wenn der Fluß es weiß.«
»Gruselig«, sagte Felder. »Tote Elfen, vom Fluß verschlungen.« Sein einziges Eingeständnis an das traurige Ereignis hatte darin bestanden, sich zu besaufen. »Was, glaubt ihr, passiert mit euch, wenn ihr sterbt? Ist Schwinge in die ewigen Jagdgründe eingegangen?«
»Ich kann es nicht erklären«, antwortete Keil nach einer Weile. »Wir sprechen nicht darüber. Wenn Alifwin sterben, bedeutet das, daß sie eins werden mit der Unendlichkeit. Das einzige, was sie dahin mitnehmen, ist ihr Name, während die Seele zurückkehrt zur Natur, aus der sie gekommen ist.«
»Das leuchtet mir irgendwie ein«, murmelte Felder. »Wenn Menschen sterben, sind sie einfach nur tot. Es heißt, daß man nach seinem Tod die Götter trifft, aber das wage ich zu bezweifeln. Die Götter haben besseres zu tun, als Audienzen für tote Kerle zu halten. Dafür gibt es zu viele. Tote, meine ich, nicht Götter. Das einzige, was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist das unsere Körper verrotten. Keine angenehme Vorstellung, beim besten Willen nicht. Dann doch lieber Boote, die im Nichts verschwinden.«
Lonnìl fragte sich, warum Keil solchen Wert auf Felders Anwesenheit legte. Die betrunkenen Zwischenbemerkungen des Prinzen verhöhnten die Trauer. Er gab vor, den Tod als Teil des Lebens hinzunehmen, aber in Wirklichkeit war er nur zu feige, um ihm nüchtern gegenüberzutreten. Lonnìl versuchte, ihn zu ignorieren.
Schwinges Haar umfloß ihr Gesicht wie geschmolzenes Gold. Lonnìl würde niemals vergessen, wie grün ihre Augen waren und wie traurig sie ausgesehen hatten, als er sie zum ersten Mal traf. Jetzt war ihr Gesicht entspannt, der bittere Zug um ihren Mund verschwunden, und es sah fast so aus, als ob sie lächelte. Als Keil sie auf das Boot bettete, trug sie immer noch das blutdurchtränkte grüne Gewand, in dem sie gestorben war. Er legte ihr ihren Bogen unter die überkreuzten Arme, so daß man sie im Tod noch als Jägerin erkennen konnte. Zu ihren Füßen lag der Dolch eines getöteten Mannes neben dem abgebrochenen, bis zu den Federn blutgetränkten Schaft eines Pfeiles. Lonnìl hoffte, daß ihre Eltern jetzt endlich gerächt waren, auch wenn ihre eigentlichen Mörder seit über hundert Jahren tot sein mußten.
Es war eine große Würde in der Art, wie Schwinge auf dem Boot lag. Selbst wenn die Sitten in ihrem Volk vollkommen anders waren, konnte sie doch keine bessere Bestattung bekommen. Lonnìl schluckte, als sie die Boote ins Wasser schoben. Weinen konnte er nicht mehr. Es gab nicht genug Tränen auf der Welt, um das Leid auszudrücken, das er in sich spürte.
Langsam glitten die drei Boote den Fluß hinab, während über den Wassern ein Nebel aufstieg. Die untergehende Abendsonne tauchte alles in ein blutrotes Licht, und es sah fast so aus, als stünde der Fluß in Flammen.
Dann begann Keil zu singen. Lonnìl mußte nicht die Elfensprache verstehen können, um zu wissen, daß es sich dabei um eine Totenklage handelte. Es war das Lied für eine große Kämpferin, die gestorben war. Die hohe, klare Stimme des Elfen hatte etwas Unwirkliches an sich, und Lonnìl konnte die Bedeutung der Worte spüren. Keil sang nicht nur von Schwinge, sondern auch von den zwei Elfen, die ermordet worden waren und deren Tod sie gerächt hatte. Die Melodie war sehr traurig, aber voller Hoffnung. Es war das schönste Lied, das Lonnìl jemals gehört hatte. Schwinge war gestorben, aber sie würde niemals vergessen sein.
Nach einiger Zeit fiel auch Felder in den Gesang ein. Zunächst summte er nur die Melodie mit, aber dann begann er selbst mit seiner dunklen, volltönenden Stimme zu singen. Sein Lied handelte nicht von Schlachten und Tapferkeit, und es war nicht direkt an Schwinge gerichtet, sondern an alle Leute, die dem Tod gegenüber standen:

»Leg sachte dich zur langen Ruhe nicht:
Kämpf’, kämpfe wenn die Nacht verschlingt das Licht!«

Vielleicht hatte Felder Schwinge nicht gemocht, aber dennoch hatte er sie verstanden, besser als Lonnìl es jemals gekonnt hätte.
Lange standen die vier Männer noch am Ufer und sahen den Fluß hinab, auch, nachdem die Boote längst in Dämmerung und Nebel verschwunden waren.

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