Viertes Kapitel

They are not long, the days of wine and roses.
Ernest Dowson

Von der Anhöhe aus hatten sie einen guten Blick auf das Dorf. Aus der Entfernung sah es längst nicht so eindrucksvoll aus, wie Schwinge es sich immer vorgestellt hatte. Das war keine »Steinerne Stadt« wie in den Erzählungen der Flußleute, nur eine Ansammlung armseliger Holz- und Lehmhütten, von einem Holzzaun umgeben. Es war einfach nur abstoßend, insbesondere wegen des Lärmes, der von dort kam.
»Machen sie immer einen derartigen Krach, wenn sie zusammenkommen?« fragte Keil den Menschen.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte der erstaunt. »Ich kann gar nichts hören. Der Wind geht doch in die andere Richtung.«
»Eure Sinne sind nur schwach ausgeprägt«, erklärte Keil. »Unsere Ohren können Laute hören, die sehr weit entfernt oder sehr leise sind. Du hörst wirklich nichts?« Der Mensch schüttelte bedauernd den Kopf. »Hochinteressant. Es klingt wie ein Tumult.«
»Wir könnten gehen und nachsehen … oder ich gehe allein …«, schlug Lonnìl hilflos vor. Jedesmal, wenn er merkte, wie hoch die Alifwin ihm überlegen waren, wurde er kleinlaut.
»Nein«, meinte Morren. »Das wäre zu gefährlich. Wenn es dort tatsächlich einen Tumult gibt, dann würde unser Auftreten ihn nur weiter anheizen. Aber ich weiß etwas Besseres. Ich werde nachsehen.« Der Zauberer griff in seine Tasche und holte die Kristallkugel hervor. »So wissen wir sofort, was dort vor sich geht.«
Lonnìl schien noch weiter in sich zusammenzuschrumpfen, als er sah, wie der Zauberer in die Kugel blickte. Menschen konnten nichts hören, nicht zaubern - was konnten sie überhaupt, außer töten? Schwinge wußte, daß sie kein Wort sprechen würde, solange ein Feind sie begleitete. Auch wenn Keil ihn erforschen wollte, blieb es doch immer noch Verrat an den Alifwin.
»Es gibt tatsächlich einen Tumult«, berichtete der Zauberer. »Die Bevölkerung des Dorfes hat sich zusammengerottet und bewirft einen Mann mit Steinen und … fauligem Obst, wenn ihr mich fragt. Dabei schreien sie. Der Mann hüpft hinkend hin und her und versucht, ihren Geschossen auszuweichen.«
»Nein!« schrie Lonnìl und riß dem verblüfften Morren die Kugel aus der Hand. »Aber … da ist ja gar nichts!«
»Natürlich ist da gar nichts!« zischte der Zauberer verärgert. Niemand durfte die Kugel auch nur berühren, und Lonnìl hätte daran denken müssen. Aber Morren atmete nur tief durch. »Du bist kein Zauberer.«
Der Mensch hatte Glück. Morren schien ihn für diesen Frevel nicht bestrafen zu wollen. Dabei wäre es so eine gute Gelegenheit gewesen …
»Sie bringen ihn um! Sie versuchen einen hilflosen Mann zu steinigen, der sich nicht wehren kann!« rief Lonnìl wütend. »Wir müssen ihn retten! Wenn ihr nicht mit mir kommt, dann tue ich es eben allein.« Er umfaßte seinen schweren Stock mit beiden Händen und lief den Hügel hinunter. Die Alifwin und der Zauberer blickten ihm mit Verwunderung nach.
»Es wird noch lange dauern, bis ich die Menschen begreife«, sagte Keil. »Die einen schlagen sich tot, und ein anderer riskiert sein eigenes Leben, um einen Fremden, den er noch nie gesehen hat, zu retten. Jetzt frage ich mich - welches dieser Verhalten ist nun typisch für die Menschen?«
»In jedem Fall das erste«, erklärte Morren. »Denn diese Tat wird von vielen von ihnen begangen, während unser Freund Lonnìl ganz auf sich allein gestellt ist.«
»Er ist nicht mein Freund!« stieß Schwinge hitzig hervor. »Und jetzt, wo er fort ist, können wir endlich in Ruhe weiterreisen. Wer sagt denn, daß er nicht zur Ablenkung das ganze Dorf auf uns hetzt?«
»Weil er ehrlich ist«, erwiderte Morren. »Ihr werdet kaum jemals wieder einen Menschen finden, der bereit ist, auf der Seite der Alifwin gegen sein eigenes Volk zu kämpfen, nur weil er ihre Sache für gerecht hält. Er ist kein gewöhnlicher Mensch. Und ich habe ihm versprochen, daß er uns eine Weile begleiten darf. Er möchte mehr über euch lernen, um euch zu verstehen. Woran erinnert euch das?«
Beide Alifwin antworteten nicht, aber Schwinge sah, daß Keil lächelte.
»Du wirst dich an ihn gewöhnen müssen«, sagte er schließlich. »Wir können die Menschen nicht mehr wegdenken aus unserer Welt. Wir müssen uns mit ihnen abfinden. Und dazu gehört auch, daß du mit ihm sprichst. Du kannst nicht unentwegt schweigen, nur weil Lonnìl in der Nähe ist. Durch ihn kann sein Volk über uns lernen. Und dann hören sie vielleicht auch auf, uns zu töten.«
»Laßt uns aufbrechen«, sagte Schwinge noch einmal. »Wir haben den Menschen bei seinesgleichen abgeliefert, daß ist mehr, als er von uns erwarten konnte. Er kann froh sein, daß wir ihn nicht getötet haben. Und jetzt kommt. Wir haben noch einen weiteren Weg vor uns.«
Weder der Zauberer noch der Barde rührten sich. Keil blickte in das Dorf hinunter und schien angestrengt zu lauschen, und Morren verfolgte die Geschehnisse wieder in seiner Kugel. Ab und zu lachte er leise auf.
»Lonnìl greift tatsächlich die ganze Dorfbevölkerung an«, berichtete er. »Er schreit und schlägt mit seinem Stock um sich. Vier starke Männer sind schon zu Boden gegangen. Das Opfer ist noch am Leben und scheint nicht einmal schwer verletzt zu sein. So wie es aussieht, wird Lonnìl den Mann tatsächlich retten.«
»Brüllen und wild um sich schlagen«, sagte Schwinge abschätzig. »Das ist alles, was sie können.« Der Lärm war nahezu unerträglich, und sie fragte sich, wie die beiden anderen das aushielten.
»Jetzt werfen die Menschen ihre Steine auch auf Lonnìl. Ich werde einmal sehen, ob ich da nicht etwas machen kann.« Schwinge wußte nicht, was der Zauberer tat, aber sie hörte, wie er leise zu lachen begann. »Das dürfte sie im Zaume halten.«
»Du hast ihnen geholfen!« rief Schwinge entsetzt. »Du hast für unsere Feinde gezaubert.«
»Du scheinst es nicht begreifen zu wollen, Schwinge. Ich habe es dir schon so oft erklärt. Die Zauberer sind neutral. Sie sind keine Feinde der Menschen. Ich halte mich aus eurem Krieg heraus. Ich helfe euch auf eurer Suche. Aber wenn ich mag, helfe ich auch Menschen. Und ich müßte gar nichts tun, wenn ich nicht wollte.«
Bis gerade hatte Schwinge den Zauberer weitgehend für einen Freund gehalten. Aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Vielleicht trieb er die ganze Zeit schon ein doppeltes Spiel, bei dem es nur um seine eigenen Interessen ging. Er benutzte die Alifwin nur, um zu bekommen, was er wollte. Danach hatte er keine Verwendung mehr für sie. Um Morren nicht ansehen zu müssen, drehte Schwinge sich um und schaute in die andere Richtung. Keil spielte ein Lied auf seiner Flöte, um die Situation wieder zu entspannen. So verharrten sie einige Zeit schweigend, bis sie ein lautes Rufen am Hang hörten. Der Mensch kehrte zurück. Langsam stieg Lonnìl den Hügel hinauf. Den Stock hielt er nur noch mit einer Hand. Mit der anderer stützte er den Mann, der sich mühsam hinkend neben ihm nach oben schleppte.
»Ich habe ihn gerettet«, sagte er. »Es war merkwürdig. Plötzlich flogen die Steine auf die zurück, die sie geworfen hatten, und wir konnten unbehelligt fliehen.«
Morren lächelte, aber so, daß Lonnìl es nicht sah. Das also hatte er getan.
Erschöpft ließ sich der Gerettete zu Boden sinken. Er war mit schmutzigen, zerrissenen Lumpen bekleidet, und sein rechtes Auge bedeckte ein dunkler Stoffetzen. Über dem Haar trug er eine eng anliegende Lederkappe. Eigentlich war von dem Menschen nicht mehr zu sehen als ein rundes Auge, eine breite Nase und ein Mund, dessen Lippen nervös zuckten. Er schien schon recht alt zu sein, denn seine Stimme war rauh und zittrig. Beim Sprechen spuckte und hustete er.
»Ich danke dir, daß du mich vor diesem wildgewordenen Mob beschützt hast«, keuchte er. »Genaugenommen hast du mir sogar das Leben gerettet, und das werde ich dir nicht verzeihen - ich meine vergessen.«
Immer noch hustend, versuchte er, sich aufzurichten, aber eins seiner Beine war steif, und er kam nicht allein vom Boden hoch. Lonnìl half ihm auf und bot ihm seinen Stock als Stütze an.
»Und du bist sicher, daß du nicht verletzt bist, mein Alter?« fragte er besorgt.
»Da bin ich mir sogar ziemlich sicher. Du bist zur rechten Zeit gekommen. Es ist mir genaugenommen noch niemals besser gegangen.« Der abstoßende Mensch stieß ein widerliches heiseres Lachen aus. »Ich hätte niemals gedacht, daß jemand freiwillig auf die Idee käme, mich zu retten. Wärst du einen Augenblick später erschienen - ich hätte meine Tarnung auffliegen lassen müssen, und der ganze Spaß wäre vorbei gewesen.«
Während der letzten Worte hatte die Stimme des Mannes sich stark verändert. Sie war nicht länger alt und schwach, sondern jung und kräftig, mit etwas darin, das Schwinge noch nie zuvor gehört hatte. Es klang, als würde der Mensch gleichzeitig reden und lachen. Dafür hörte er auf, zu spucken, husten und mit der Lippe zu zucken. Auch seine Körperhaltung war nun anders, viel aufrechter, jünger. Schwinge warf einen kurzen Blick zu Morren, um zu sehen, ob der Zauberer seine Hände im Spiel hatte, aber der schaute den Fremden mit verwirrter Belustigung an und wußte augenscheinlich nicht, was genau mit ihm los war.
Schließlich ließ der Mensch den Stock fallen und plumpste wieder zu Boden, wobei er darauf achtete, das linke Bein nicht zu bewegen. Er nahm die Kappe ab und entledigte sich auch der obersten Lumpenschicht. Unter der vor Schmutz starrenden Kutte trug er ein zwar abgetragenes, aber im Vergleich zum Rest guterhaltenes braunes Wams und ein paar enganliegender lederner Hosen. Und was eben noch wie ein grotesker Buckel ausgesehen hatte, war nichts weiter als ein Reisebündel. Nun sahen sie alle, warum sein linkes Knie so steif war. Ein eisernes Schwert war mit Riemen an seinem Bein festgebunden.
»Ich denke, auf dieses Kostüm muß ich in Zukunft verzichten«, sagte der junge Mensch, in den sich der schäbige Alte verwandelt hatte. »Wenn ich mich noch einmal darin hier in der Gegend sehen lasse, fliegen gleich die ersten Steine. Ich fürchte, fürs Erste muß ich einmal mit meinem wahren Gesicht herumlaufen. Ich bin dir immer noch zutiefst dankbar, daß du mich gerettet hast.« Während er das sagte, schnürte er das Schwert von seinem Bein und nahm zu guter Letzt den Lappen von seinem Auge ab. Darunter kam nicht eine gähnende Öffnung zu Tage, wie die Binde vermuten ließ, sondern ein zweites braunes Auge. Vom äußeren Augenwinkel zog sich eine etwa einen halben Finger lange Narbe über die Schläfe in Richtung Ohr und gab dem Auge etwas Schlangenhaftes. Es war nicht so rund wie gewöhnliche Menschenaugen, sondern erinnerte auf seine schmale, leicht schräge Art an die Augen der Alifwin. Kurze dunkle Locken fielen ihm in die Stirn. Alles in allem schien dieser Mensch nur wenig älter zu sein als Lonnìl. Schwinge fragte sich, wie alt die beiden wohl sein mochten. Sie hatte gehört, daß Menschen viel schneller wuchsen und alterten als Alifwin. Vielleicht waren sie noch nicht einmal hundert.
Erst, nachdem der Mensch das Schwert an seinem Gürtel befestigt und einen Schluck aus einer Feldflasche genommen hatte, schien er die Anderen überhaupt zu bemerken.
»Das gibt es doch nicht!« rief er aus. »Spitzohrige Elfen! Du hast mich in eine Falle gelockt! Bist … bist du überhaupt selbst ein Mensch?« Er zog sein Schwert.
Lonnìl starrte ihn an, sein Gesicht weiß vor ohnmächtiger Wut. Er antwortete nicht, sondern sagte nur zwischen den Zähnen: »Sag mir lieber, wer du in Wirklichkeit bist!«
»Ich denke, es ist zwecklos, das noch weiter zu verheimlichen, jetzt, wo mein Kostüm weg ist und ich gleich gegen euch alle kämpfen darf. Ich bin Felder.« Spielerisch machte er einen Ausfall in Richtung des anderen Menschen. »Und ganz nebenbei bin ich der Prinz von Thoria.«
Mit einem Aufschrei packte Lonnìl den Stab und griff den Fremden an.
»Ich kämpfe nur ungern gegen Leute, die mir zuvor das Leben gerettet haben«, sagte Felder, während er den Stock mit seinem Schwert abwehrte. »Du bist ganz sicher, daß wir uns nicht irgendwie friedlich einigen können? Vielleicht sollte ich dabei sagen, daß ich einer der besten Schwertkämpfer meines Landes bin, und du hast nichts weiter als diesen Stock. Ich könnte dich sofort töten, wenn ich wollte. Warum tun wir uns nicht zusammen und kämpfen gemeinsam gegen die Spitzohren? Vergiß nicht, auf welcher Seite du stehst!«
»Lügner!« schrie Lonnìl. » Verbrecher! Hundesohn! Tyrann!«
Jedes Wort bedeutete einen Hieb mit dem Stab. Es schien Lonnìl egal zu sein, daß seine Waffe schlechter war als die seines Gegners. Felder dagegen schien an dem Kampf sogar Vergnügen zu finden. Er duckte sich geschickt vor den Schlägen des anderen oder machte einen Sprung über die Stange, als Lonnìl damit auf seine Beine zielte.
»Ich werde sie niemals begreifen«, murmelte Keil. »Erst rettet er ihm das Leben, und jetzt versucht er, ihn umzubringen? Menschen sind wirklich unberechenbar.«
»Sie müssen kämpfen. Dauernd müssen sie kämpfen und töten«, entgegnete Schwinge.
Felder ließ das Schwert fallen, und als Lonnìl wieder zuschlagen wollte, packte der kleinere Mensch den Stab mit beiden Händen, hielt ihn fest und drückte ihn zu Boden. Lonnìl schüttelte den Stab, um Felder loszuwerden, aber es gelang ihm nicht.
»Das hätte ich eigentlich sofort tun sollen«, erklärte Felder. »Aber man muß dabei immer aufpassen, daß man sich nicht die Hände bricht, und außerdem hatte ich irgendwie Lust, mein Schwert zu schwenken, wenn du verstehst, was ich meine.«
Er mochte vielleicht geschickt sein, aber Lonnìl hatte erkannt, was er tun mußte. Durch eine unvermutete Drehung des Stabes ließ er Felder durch die Luft fliegen, so daß der loslassen mußte und auf seinem Rücken zu liegen kam. Das Schwert befand sich nun außerhalb seiner Reichweite.
»Schon gut, schon gut«, ächzte Felder. »Du hast gewonnen. Wenn du nun so freundlich wärst, mir zu sagen, was du eigentlich gegen mich hast? Sind wir uns schon einmal irgendwo begegnet? Habe ich dich irgendwie gekränkt oder betrogen?«
»Du bist ein Prinz«, schnaubte Lonnìl wütend. »Und das allein genügt schon, wenn man davon absieht, daß ich mich deinetwegen zum Narren gemacht habe.«
»Ich wüßte nicht, wieso du dich zum Narren gemacht haben solltest. Genaugenommen hast du eine weitaus bessere Figur gemacht als ich, als du mich gerettet hast. Und dafür, daß ich ein Prinz bin, kann ich nichts. Ich wurde zufällig so geboren, so wie du als ein Bauer oder was weiß ich zur Welt gekommen bist. Wenn ich es mir hätte aussuchen können, wäre ich ganz sicher kein Prinz geworden. Du ahnst gar nicht, wie langweilig das Leben als Prinz sein kann! Theoretisch müßte ich in der Burg meines Vaters sitzen und Däumchen drehen, bis er das Zeitliche segnet. Da nutze ich doch lieber die Zeit, die ich noch habe.«
Lonnìl wollte wieder auf ihn losgehen, aber nun hielt Morren ihn am Arm zurück.
»Genug jetzt. Es reicht. Ihr hattet euren Kampf, aber jetzt müssen wir weiter.«
»Nicht, bevor der Lügner bezahlt hat!«
»Vergiß ihn. Er ist es nicht wert. Außerdem hat er nicht einmal gelogen.«
Immer noch wutschnaubend, aber überredet wandte Lonnìl sich zum Gehen. Schwinge und Keil warteten schon ungeduldig auf den Zauberer und den Menschen. Aber Felder, anstatt froh zu sein, daß er überhaupt noch lebte, ließ Lonnìl nicht gehen. Er verstellte ihm den Weg.
»Nein, nein, du hast Recht!« sagte er. »Natürlich muß ich mich irgendwie bei dir revanchieren. Du hast mir immerhin das Leben gerettet. Ich werde dich solange begleiten, bis ich dir selbst irgendeinen Dienst erweisen kann. Da ich sowieso in die gleiche Richtung muß, macht es mir auch überhaupt nichts aus. Und ich muß doch irgendwie meine Ehre retten und beweisen, daß ich etwas tauge, obwohl ich ein Prinz bin.«
»Je länger ich dich kenne«, bemerkte der Zauberer spitz, »desto stärker zweifle ich daran, daß du etwas taugst, und daß du überhaupt so etwas wie Ehre besitzt.«
»Ich kann es schon noch beweisen. Und außerdem brenne ich darauf zu erfahren, warum zwei Menschen gemeinsam mit zwei verdammten Spitzohren durch die Gegend reisen. Wenn ihr vorhabt, die Menschen an die Elfen zu verraten, dann ist es vielleicht das Beste, wenn ich euch unschädlich mache. Immerhin habe ich ein schweres scharfes Schwert, und ihr habt zu zweit nur diesen Stab.«
»Verstehe ich dich richtig?« sagte Morren ruhig und packte Felder so plötzlich bei den Schultern, daß dieser gar nicht anders konnte, als ihm in die Augen zu sehen. »Du willst uns so etwas sagen wie ‘Nehmt mich mit, sonst töte ich euch alle’?«
»So direkt wollte ich das nicht sagen.« Noch ließ sich Felder nicht einschüchtern.
»Dann sage ich dir einmal etwas. Ich bin überhaupt kein Mensch.«
»Erzähl das deiner Amme!«
»Ich bin ein Zauberer, und ich bräuchte keinen Stock, um gegen dein Schwert anzukommen. Und da ich unsterblich bin, dürftest du große Probleme bekommen beim Versuch, mich zu töten.«
Wie gebannt starrte Felder in die schwarzen Augen. Er sagte nichts mehr, und als Morren seine Schultern losließ, stolperte der Mensch rückwärts, fiel über seine eigenen Füße und landete im Gras. Im Gehen hörte Schwinge noch, wie er sagte: »So ein Mist, so ein verfluchter Mist!« Dann ignorierte sie ihn und versuchte, die ganze unangenehme Geschichte zu vergessen. Dieser Mensch war ihr so unglaublich zuwider, daß sie es gar nicht in Worte fassen konnte. Er war bis jetzt das Abstoßendste, was sie je getroffen hatte, mindestens so schlimm wie die drei Männer in dem Haus. Selbst Lonnìls Begleitung erschien ihr dagegen angenehm, so daß sie sogar bereit war, ihn anzusprechen.
»Ich hoffe, das wird dir eine Lehre sein«, sagte sie. »Wir haben dir ja gesagt, daß es falsch ist, ihn zu retten. Du solltest öfter auf uns hören, Mensch.«
Er war mit hängendem Kopf hinter den Alifwin und Morren hergeschlichen, aber als er ihre Stimme hörte, hellte sich seine Miene auf. »Du … du sprichst mit mir?« fragte er strahlend. »Du hast mir verziehen, daß ich ein Mensch bin?«
»Ich verzeihe keinem von euch etwas«, sagte Schwinge eisig. »Und ich rede auch nicht mit dir. Geh zurück zu deinesgleichen.«
»Aber ich kann nicht anders«, sagte Lonnìl. »Ich liebe dich! Ich muß dir folgen!«
»Also folgen die Menschen anderen Menschen, weil sie sie lieben?« fragte Keil neugierig. Lonnìl nickte unglücklich. »Sehr interessant. Dann folgt dir also Felder, weil er dich liebt?«
Die anderen fuhren herum. Es stimmte - sie konnten gerade noch sehen, wie der Mensch ein Stück hinter ihnen eilig hinter einem Baum verschwand, so als würden sie ihn dann nicht bemerken.
»Wir werden von einem Menschen verfolgt«, sagte sie angewidert, »weil der einen Menschen verfolgt, der mich verfolgt. Ich bin es leid.«
Sie nahm den Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil an und zielte.

Keil fragte sich, ob den Menschen vielleicht ihr Leben nicht viel wert war. Kein Alifwin würde auf derartige Weise ständig versuchen, es loszuwerden. Aber Lonnìl hatte an diesem Tag nicht nur dem Zauberer seine Kugel fortgenommen, allein gegen ein ganzes Dorf gekämpft und war mit einem Stecken gegen ein Schwert angetreten, jetzt machte er den vermutlich größten Fehler des Tages: Er schlug Schwinge den Bogen aus der Hand, gerade als sie einen Pfeil abschießen wollte.
Noch im selben Moment fuhr sie herum, und möglicherweise hätte sie den Menschen sogar mit dem Pfeil aufgespießt, wenn Morren ihn nicht zu Boden gerissen hätte.
»Tu das nie wieder, mein Freund, hörst du?« sagte der Zauberer. »Komm ihr nicht zu nahe! Noch einmal rette ich dich nicht.«
»Aber sie wollte Felder erschießen! Sie hätte ihn getötet!«
»Wenn ich dich erinnern darf, das hast du heute auch versucht.«
»Aber ich hatte allen Grund dazu! Sie wollte ihn einfach nur niederschießen, ohne daß er sich wehren konnte! Und außerdem …«
»… ist es ein Unterschied, ob ein Mensch von einem Menschen oder einem Elfen getötet wird, wolltest du doch sagen?« vollendete der Zauberer seinen Satz.
Lonnìl schaute verlegen zu Boden. »Es tut mir leid, aber es stimmt doch. Und ich bin nun einmal ein Mensch. Ich kann nichts dafür.«
Schwinge würdigte ihn keines Blickes, aber immerhin machte sie keine weiteren Versuche, ihn zu töten. Keil hätte es ihr gegenüber niemals zugeben dürfen, aber irgendwie mochte er diesen Menschen mit seiner ehrlichen, impulsiven Art.
»Dann wäre ja alles in Ordnung«, sagte Morren. Laut rief er: »Es ist alles in Ordnung, Felder! Du kannst wieder rauskommen! Lonnìl hat dir soeben zum zweiten Mal das Leben gerettet, und er würde sich freuen, wenn du uns begleiten könntest!«
»Niemals!« - »Bist du des Wahnsinns?« und »Was soll das?« schrien Schwinge, Keil und Lonnìl durcheinander. Hatte der Zauberer den Verstand verloren? Wie konnte er diesen Menschen dazu einladen, sie zu begleiten? Oder wollte er ihn nur heranlocken und ihm eine Falle stellen? Aber Morren lachte nur.
»Wenn du etwas über die Menschen lernen willst, Keil, so ist er bei weitem ein besseres Anschauungsobjekt für dich als Lonnìl. Er ist viel typischer. Wenn ihr es genau wissen wollt, ich kenne die Menschen jetzt seit mehreren hundert Jahren, aber ein derart heimtückischer, verkommener und skrupelloser Vertreter ist selbst mir noch nicht untergekommen. Daher würde ich ihn auch persönlich ganz gerne beobachten. Ich wüßte gerne, ob er von Lonnìl etwas lernen kann - oder Lonnìl von ihm. Beobachtet beide, und ihr habt die komplette Bandbreite des menschlichen Verhaltens - von den Paarungsritualen einmal abgesehen.« Er redete in der Hohen Sprache, damit Lonnìl ihn nicht verstehen konnte. Zu dem Menschen sagte er nur: »Da du heute einen derartigen Wert darauf legst, das Leben dieses Mann zu schützen, solltest du dich besser auch in Zukunft um ihn kümmern. Er scheint mir etwas selbstmörderisch veranlagt zu sein.«
Da tauchte auch schon Felder aus dem Gebüsch auf und grinste Lonnìl an. »Menschen, Elfen, Zauberer … ihr wollt mir also noch eine Chance geben.«
Sein etwas eckiges Gesicht war aus der Nähe betrachtet sehr interessant. Es war so menschlich wie das von Lonnìl, aber weniger hager. Und alles an ihm wirkte breiter - auch die Nase und der Mund. Bemerkenswert war eine leichte Einkerbung in der Mitte von Felders Kinn, die Keil zuerst für eine weitere Narbe hielt, weil Lonnìl nichts in der Art hatte. Sie schien jedoch ganz natürlich zu sein. Alles in allem wirkte Felders Gesicht freundlich und einladend, auch wenn ihm das langgezogene Auge etwas Verschlagenes gab. Jetzt begriff Keil auch, warum die Menschen so runde Augen hatten. Normale Augen hätten gar nicht zu ihren runden Gesichtern gepaßt. Keil fragte sich, welchen der beiden Männer wohl ein Mensch für schön gehalten hätte. Gegen Lonnìls blaue Augen hatte Felder wahrscheinlich wenig Chancen, aber dafür war Felder lustiger. Ihm fehlte die Düsterheit, die Lonnìls Miene umgab. Selbst Felders Augen schienen zu lachen. Wahrscheinlich würde es Spaß machen, ihn zu beobachten.
»Sagen wir es einmal so«, sagte Morren zu dem Menschenprinzen. »Aus verschiedenen persönlichen Gründen sind wir zu dem Schluß gekommen, daß du uns ein Stück weit begleiten darfst. Dies geschieht aber unter der Bedingung, daß du weder Lonnìl, noch mich, noch einen von den Alifwin angreifst.«
»Von mir aus … äh, Ali-was
Morren seufzte. »Alifwin. Das Volk, das im Licht lebt. Die beiden Leute dort sind Alifwin.«
»Ach so, du meinst Elfen! Sag das doch gleich! Ich hoffe mal, daß man zumindest ihre Namen aussprechen kann! Denn abgesehen davon, daß ich mitbekommen habe, daß mein Retter Lonnìl heißt, habe ich bis jetzt noch keine Ahnung, wie ich euch anreden soll.«
»Mein Name ist Morren, und die beiden heißen in deiner Sprache Keil und Schwinge. Das ist kein Grund zum Lachen!«
Aber der Mensch war schon nicht mehr zu beruhigen. Keuchend und hustend versuchte er sich auf Lonnìl zu stützen, der ihn unwirsch abschüttelte.
»Das muß ich mir merken, auch wenn es mir niemand glauben wird! Keil und Schwinge, das ist gut. Das muß ich mir merken. Vielleicht sollte man alle Spitzohren nach ihrem Namen fragen, bevor man sie erschl-«
Indem Lonnìl ausholte, um ihn zu schlagen, rettete er dem Menschen vermutlich zum dritten Mal an diesem Tag das Leben. Felder hatte zwar keine Probleme damit, sich zu ducken und dem Schlag auszuweichen, aber jetzt erst ging ihm auf, was er da gerade hatte sagen wollen.
»Ich meinte - oh, Entschuldigung. Ihr dürft nicht auf das achten, was ich sage. Für gewöhnlich rede ich Unsinn. Nehmt es mir nicht übel, Leute! Aber ich bin noch nie zuvor echten Elfen begegnet, und ich kenne auch keinen, der je mit ihnen geredet hat. Verstehen sie, was ich sage?«
»Wir verstehen und sprechen deine Sprache, Prinz«, erklärte Keil.
»Ups! Aber ihr könnt keine Gedanken lesen, oder?«
Keil war froh, daß er es nicht konnte. Er wollte lieber gar nicht erst wissen, was dieser Mensch über ihn dachte. Vermutlich war es nicht unbedingt etwas Nettes.
»Und bitte - reibt mir nicht dauernd unter die Nase, daß ich ein Prinz bin! Ich gebe mir schon selbst die größte Mühe, es zu vergessen. Ich benehme mich nicht anders als alle anderen Menschen.«
»Das haben wir gemerkt«, sagte Schwinge. Keil blickte erstaunt zu ihr hinüber. Seit wann redete sie mit Menschen? Allerdings konnte sie jetzt froh sein, wenn Felder sie überhaupt zu Wort kommen ließ. Sein Redeschwall schien kaum zu bremsen.
Wenn Keil den Wunsch gehabt hatte, etwas über das Leben der Menschen zu erfahren, dann war jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür. Während Felder gleichzeitig ziemlich erfolglos versuchte, Morren über die Zauberer auszufragen, erzählte er munter von seinem Leben, vorzugsweise von Mädchen, die er einmal gekannt, und Kämpfen, die er gewonnen hatte. Und da er, wie er immer wieder betonte, der beste Schwertmeister seines Landes war, nahm allein das Aufzählen dieser Kämpfe viel Zeit in Anspruch. Wie es schien, kämpfte dieser Mensch einfach nur aus reinem Vergnügen daran, und Keil bemerkte, wie Schwinges Gesichtsausdruck beim Zuhören immer grimmiger wurde. Vermutlich waren es solche Menschen wie Felder gewesen, die aus reinem Vergnügen ihre Eltern getötet hatten.
Wer den Bericht des Prinzen jedoch regelrecht zu genießen schien war Morren. Inzwischen kannte Keil dieses bestimmte Lächeln des Zauberers, welches anzeigte, daß er etwas besonders amüsant fand.
»Ist von euch schon einmal jemand in Thoria gewesen?« fragte Felder gerade. »Müßt ihr auch nicht. Aber sonst würdet ihr verstehen, warum ich von dort weggegangen bin. Seitdem habe ich richtige Abenteuer erlebt. Ich bin ziemlich weit herumgekommen.«
»Und heruntergekommen«, fügte Morren hinzu. Aber Felder ließ sich nicht provozieren.
»So direkt würde ich das nicht sagen. Mein Kostüm täuscht da vielleicht etwas. Ich verkleide mich eben gern. Es erinnert mich nicht ständig daran, daß ich in Wirklichkeit ein Prinz bin. Ein gemeiner Mann hat doch viel mehr Spaß am Leben.«
»Paß auf, was du sagst!« warnte Morren. »Unser Freund Lonnìl hier, der dich unglücklicherweise gerettet hat, ist nicht gut auf Prinzen zu sprechen. Er hat ziemlich schlechte Erfahrungen mit Adligen wie dir gemacht. Und ich bezweifle, daß er bisher sehr viel Spaß am Leben hatte.«
»Es gibt eben stets Ausnahmen«, sagte Felder vergnügt. »Und für das Retten bin ich dir immer noch dankbar.«
»Wie kam es eigentlich«, fragte Keil, weil es ihm die ganze Zeit schon durch den Kopf ging, »daß er dich überhaupt retten mußte? Warum hat ein ganzes Dorf versucht dich umzubringen? Haben sie erfahren, daß du in Wirklichkeit ein Prinz bist?«
»Bewahre, nein! Die ganze Sache ist eskaliert. Eigentlich habe ich nur harmlos im örtlichen Wirtshaus gesessen und mit ein paar Bauern gewürfelt, als sie plötzlich auf die Idee kamen, ich würde falschspielen, womit sie auch vollkommen recht hatten. Ich wollte daraufhin möglichst unauffällig wieder gehen, aber der Wirt fand, ich solle zuerst meine Zeche bezahlen und hielt mich auf. Es gab einen kleinen Krawall, und der nächste Schritt war, daß mich die Dorfbevölkerung in geschlossener Front durch den Ort jagte. In diesen kleinen Nestern ist sonst nie etwas los, und die Leute nutzen jede Gelegenheit, die sie bekommen können. Und dann kam unser Freund Lonnìl und hat mich gerettet. Ansonsten hätte ich entweder ein unrühmliches Ende genommen oder mein Schwert benutzen müssen, obwohl es nicht zu meiner Verkleidung als halbblinder lahmer Spinner gepaßt hätte. Es wirkte doch sehr überzeugend, nicht? Wobei ich sagen muß, als ich die Tochter vom Wirt gesehen habe, war ich schon drauf und dran, meine Maske auffliegen zu lassen. Ich kann nicht behaupten, daß ich in diesem Kostüm sonderlich attraktiv bin …«
So redete er noch fast ununterbrochen weiter, bis der Abend dämmerte. Es gelang Morren ohne großen Aufwand, Felder fast seine komplette Lebensgeschichte zu entlocken, die sich so sehr von dem wenigen unterschied, was Lonnìl ihnen erzählt hatte, wie es nur irgendwie möglich war. Bis dahin waren für Keil alle Menschen irgendwie gleich gewesen, aber jetzt lernte er an einem Tag mehr über sie als in seinem ganzen vorherigen Leben.
»Ich hoffe, er ist bald fertig und geht seines Weges«, sagte Schwinge. »Er ist ja noch schlimmer als der andere! Ich halte ihn nicht mehr lange aus.«
»Ehrlich gesagt bezweifle ich, daß wir ihn so schnell wieder loswerden«, entgegnete Morren leise. »Und irgendwie möchte ich das auch gar nicht. Es ist schwer zu glauben, aber ich mag diesen Menschen, und nicht nur, weil er ein Musterbeispiel an Verkommenheit ist. Auf seine Art besitzt er ein einnehmendes Wesen, und ich wüßte gerne, ob sich etwas daraus machen läßt.«
»Was hast du mit ihm vor?« fragte Keil.
»Ich möchte ihn formen. Und das will ich nicht nur aus persönlichen Interesse daran tun, sondern weil ich mir vorstelle, daß es für sein Volk nur Nachteile mit sich bringen würde, wenn es ihn zum König bekäme. Lonnìls Methode, alle schlechten Herrscher umzubringen, mag vielleicht drastischer sein, aber ich denke, auf die Dauer wird sie keinen Erfolg haben. Jeder tote schlechte Herrscher kann von einem weitaus schlechteren abgelöst werden, aber ein guter Herrscher ist ein guter Herrscher.«
»Du hast also vor, seinen Verstand zu verändern?« Dieser Gedanke gefiel Keil nicht, egal, wie löblich die Absicht sein mochte, die dahinter steckte.
»Nein«, sagte Morren und lachte. »Das wäre zu einfach und würde nichts bringen. Ich habe vor, ihn mit eurer und Lonnìls Hilfe umzuerziehen, weiter nichts.«
»Ich sehe nicht ein, was das bringen sollte«, wandte Schwinge ein. »Wir haben eine andere Aufgabe zu erledigen, und er wird uns nur davon abhalten, abgesehen davon, daß er sicher noch weitere Schwierigkeiten machen wird.«
»Du wirst ihn mir überlassen, in Ordnung?« Plötzlich war wieder dieser drohende Unterton in Morrens Stimme. »Und wenn du beschließen solltest, deinen Haß auf die Menschen an ihm auszuleben, dann wirst du Ärger mit mir bekommen. Ich begleite euch als neutrale Figur aus persönlichem Vergnügen. Aber niemand zwingt mich, euch bei eurer Suche zu helfen. Ich sagte euch doch, daß ich sowieso vorhatte, auszuziehen, um einige Studien zu betreiben. Sehen wir vorerst einmal Felder als ihren Inhalt an.«
»Es ist eine interessante Sprache, die ihr da sprecht«, stellte Felder fest. »Ich frage mich, warum ihr nicht schon alle Knoten in der Zunge habt! Es ist mir ein Rätsel, wie man so reden kann. Bringt ihr es mir bei?«
»Nein«, war alles, was Morren hierauf antwortete - sehr zu Keils Erleichterung. Es hätte an Verrat gegrenzt, wenn der Zauberer einem Menschen, selbst wenn er sein Studienobjekt war, die Hohe Sprache beigebracht hätte. Felder begriff sofort, daß dies ein endgültiges ‘Nein’ war, denn er fragte nicht mehr weiter danach. Statt dessen holte er eine Wolldecke aus seinem Bündel und begann, ein Nachtlager aufzuschlagen. Schweigend half ihm Lonnìl, ein Feuer in Gang zu setzen, obwohl ein Wink von Morren vollkommen genügt hätte.
Zumindest im Schlaf redete Felder nicht mehr. Aber er schnarchte mit der Lautstärke und Ausdauer eines Bären. Während er einzuschlafen versuchte, hörte Keil noch, wie Morren murmelte: »Ich gebe zu, vielleicht war es doch ein Fehler, ihn zu behalten. Aber was soll’s.«
Im nächsten Moment herrschte Ruhe. Nichts war mehr zu hören als das leise zufriedene Lachen des Zauberers.

Am nächsten Morgen wurde Lonnìl von Kampfeslärm wach. Er hörte Schreie und etwas, das wie schwere Schläge klang. Erschrocken setzte er sich auf. Was war passiert? Griff man sie an? Immer noch schlaftrunken, langte er instinktiv nach seinem Stab. Dann erst sah er, was eigentlich los war. Was wie ein größerer Kampf klang, war in Wirklichkeit nur eine einzelne Person. Felder, der mit seiner Hose bekleidet, hieb mit geschlossenen Augen auf einen Busch ein.
»Felder, wach auf!« rief Lonnìl. »Du hast einen Alptraum!«
Felder ließ das Schwert sinken und sah zu ihm herüber. »Das wüßte ich aber«, sagte er, bevor er den Busch erneut angriff.
»Was um alles in der Welt tust du da?« fragte Lonnìl.
»Ich trainiere. Es ist für einen Schwertkämpfer sehr wichtig, in Form zu sein. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang einen kleinen Kampf - das solltest du auch einmal versuchen. Wenn du keinen geeigneten Gegner findest, muß eben auch mal ein Strauch herhalten, obwohl die Klinge dann schnell schartig wird. Aber es macht so wenig Spaß, in der leeren Luft herumzufuchteln, nicht wahr? Habe ich dich geweckt? Die Elfen sind schon länger auf. Frag mich nicht, wo sie hingegangen sind.«
»Das kann ich dir sagen«, antwortete Morren, der neben den Resten des Feuers am Boden hockte und den ‘Kampf’ interessiert verfolgt hatte. »Sie suchen nach Wasser und frischer Nahrung, und wenn sie sehen, was du diesem Busch angetan hast, werden sie ein ernstes Wort mit dir reden wollen. Die Alifwin mögen es nicht, wenn man einer Pflanze unnötig Schaden zufügt. Sie sind die Hüter des Waldes.«
Felder warf einen bedauernden Blick auf die traurigen Überreste des Busches. »Nichts für ungut, mein grüner Freund. Ich hoffe, du vergibst mir die Art, wie ich mit dir umgesprungen bin, und falls es dich tröstet, hat diese Aktion meinem Schwert mindestens so weh getan wie dir - Wenn du das die ganze Zeit gewußt hast, Zauberer, warum hast du mich dann nicht gewarnt? Überhaupt - sich anzustellen wegen ein paar Blättern! Sie können froh sein, daß ich mich nur an dem Busch abreagiert habe! Aber wie ist es, Lonnìl - hast du Lust auf einen kleinen Kampf?«
»Sei froh, daß ich nicht mit dir kämpfen will, Prinz«, sagte Lonnìl. »Denn ein zweites Mal würdest du nicht überleben. Ich hege keine Freundschaft für Leute wie dich.«
»Hörst du das, Zauberer!« beschwerte sich Felder. »Er hat etwas gegen mich. Grundlos! Kannst du mir vielleicht sagen, was an mir nun verkehrt ist?«
»Ich verabscheue alle sogenannten Edelleute«, sagte Lonnìl. »Einer von euch ist schlimmer als der andere.«
»Ja, du hast gestern etwas in der Art anklingen lassen … aber wie kommst du auf diese Idee?«
Lonnìl rang mit sich, ob er Felder seine Geschichte erzählen sollte. Der Prinz würde vermutlich nur ein Lachen dafür übrig haben. Andererseits sollte er erfahren, was am Adel so hassenswert war.
»Meine Familie wurde durch die Willkür eines Fürsten getötet«, sagte er schließlich. »Seitdem habe ich allen Tyrannen den Krieg geschworen, und ich werde nicht eher damit aufhören, als bis es Gerechtigkeit gibt auf der Welt.«
»Welch löbliches Unterfangen«, sagte Felder, der kein bißchen berührt schien. »Aber das erklärt noch lange nicht, was du jetzt gegen mich hast. Noch bin ich kein Tyrann. Von mir aus kannst du gegen mich kämpfen, wenn ich erst einmal König bin. Aber ich sehe nicht ein, warum wir nicht bis dahin Freunde sein können. Du könntest noch einiges von mir lernen.« Er sah zu Morren hinüber, der angefangen hatte zu lachen. »Ist was?«
»Umgekehrt!« rief der Zauberer. »Du solltest von unserem Freund Lonnìl lernen, Felder. Er hat dir einiges voraus.«
Felder sah Lonnìl abschätzend an, und sein Grinsen wurde immer breiter. Schließlich sagte er: »Ich wüßte nicht, in welcher Hinsicht, wenn man mal von einer Handspann Körpergröße und vielleicht ein paar zusätzlichen Muskeln absieht. Ansonsten … nein.«
Lonnìl ließ sich gerade noch durch einen scharfen Blick von Morren zurückhalten, sonst wäre er jetzt vermutlich wirklich auf Felder losgegangen.
Während des Frühstücks redete der Prinz fast ununterbrochen, was ihn jedoch nicht vom Essen abhielt. Er schien nicht einmal zu bemerken, daß ihm eigentlich niemand zuhörte, außer vielleicht dem Zauberer, der in ihm jedoch mehr eine Belustigung als einen ernstzunehmenden Begleiter sah. Lonnìl verfluchte sich zum wiederholten Mal dafür, den Burschen gerettet zu haben. Bevor er das nächste Mal etwas derartiges tat, würde er sich zunächst über die Hintergründe informieren. Aber das war jetzt leichter gedacht als getan. Zum einen sah er einfach rot, wenn er irgendwo Zeuge eines Unrechtes wurde, und konnte gar nicht anders, als einzugreifen. Und zum anderen war es jetzt zu spät. Er hatte den Prinzen am Hals, und so, wie es aussah, würde er ihn so schnell nicht wieder loswerden.
Lonnìl blickte zu Schwinge hinüber und hoffte, daß sie es nicht merken würde. Sie mochte es nicht, wenn er sie ansah, und versuchte, seinen Blicken auszuweichen. Aber mehr wollte er doch gar nicht. Ihm war klar, daß sie ihn jetzt noch nicht würde widerlieben können. Solange er einfach in ihrer Nähe sein konnte, ihr helfen konnte, wenn sie es brauchte, war er glücklich. Zumindest glücklicher, als er ohne sie wäre. Die Morgensonne gab ihren Haar einen goldenen Stich und ließ ihre Haut schimmern. Mit jedem Tag erschien die Elfe Lonnìl schöner, aber sie war ihm immer noch so fern wie an dem Tag, an dem er sie zuerst gesehen hatte.
Felder riß ihn aus seinen Gedankengängen, indem er ihm gegen den Arm schlug. »Könntest du, statt dazusitzen und zu träumen, vielleicht endlich mal meine Frage beantworten?«
»Was ist denn nun schon wieder?« fragte Lonnìl verärgert.
»Ich habe dich jetzt schon dreimal gefragt, was einen Menschen wie dich dazu bringt, mit einer Gruppe von Elfen und anderem nichtmenschlichen Gesocks herumzuziehen, statt deiner selbstauferlegten Aufgabe nachzugehen und Grafen abzuschlachten.«
»Ich kann nicht anders«, murmelte Lonnìl. »Ich liebe sie. Ich muß ihr folgen.«
Felder sah sich verwirrt um. »Wem denn?«
»Schwinge«, flüsterte Lonnìl und spürte, wie er über und über rot wurde. Es war ein Fehler gewesen, das zu sagen. Felder mußte so lachen, daß er sich an seinem Kräutertee verschluckte und zu husten begann.
»Ich glaube es nicht!« ächzte er schließlich. »Das ist ja noch schlimmer, als ich für möglich gehalten hätte. Willst du damit sagen, das ist ein Mädchen? Wie hast du das erkannt? Für mich sehen beide gleich aus. Bist du dir vollkommen sicher?«
Lonnìl wäre am liebsten im Boden versunken. »Sei doch still!« zischte er. Aber Felder ließ sich nicht beirren. Immer noch lachend, löste er die Flasche von seinem Gürtel.
»Ich trinke auf das junge Glück! Möge es ewig währen. Mit Verlaub - bist du dir wirklich sicher, daß nicht der andere das Mädchen ist? Ich kann mir keine Frau mit Bogen vorstellen … aber ich bevorzuge sowieso Frauen, die man von weitem als solche erkennt. Es ist deine Sache, an wen du dein Herz verlierst. Über Geschmack läßt sich streiten. Zum Wohlsein.«
»Wenn ich dir einen gutgemeinten Rat geben darf, mein Freund«, sagte Morren leise, »sag jetzt am besten gar nichts mehr! Denn es könnte sein, daß irgendeinem von uns die Geduld reißt. Und in dem Fall dürftest du das Nachsehen haben, Mensch
Felder hörte auf zu lachen, wich verstört zurück und blieb still, bis sie das Lager abbrachen und sich wieder auf den Weg machten. Auch danach waren seine Bemerkungen nicht mehr so geschmacklos wie zuvor.
»Ich wüßte auch gerne etwas«, sagte Lonnìl. »Was bringt einen Prinzen wie dich, der offensichtlich für Elfen nicht sonderlich viel übrig hat, dazu, sich uns anzuschließen? Es ist doch nicht nur, weil ich dich gerettet habe, oder?«
»Ich kann nicht lange an einer Stelle bleiben«, antwortete Felder. »Mich lockt das Abenteuer. Es gibt von Haus aus wenig Beschäftigung für einen Kronprinzen außer Warten. Und ich vertreibe mir die Zeit lieber mit etwas Aufregendem.«
»Das ist keine Antwort«, sagte Lonnìl.
»Es erscheint mir interessant, eine Zeitlang mit einer Gruppe zu reisen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es mit euch langweilig wird. Selbst wenn die Elfen mich weiterhin weitgehend ignorieren, seid ihr doch beileibe interessanter als diese zurückgebliebenen Bauerntrampel. Ich wollte schon immer jemanden treffen, der …« Felder brach ab und blickte versonnen in die Ferne.
»Der was?«
»Nicht so wichtig. Zaubern kann, meine ich. Glaubst du, wir könnten es lernen?«
Lonnìl war sicher, daß Felder eigentlich etwas anderes sagen wollte, aber er hatte keine Idee, was gemeint war. Es hatte zu ernst geklungen, um eine abfällige Bemerkung über die Elfen zu sein.
»Es ist nicht leicht, ein Prinz zu sein«, seufzte Felder. »Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr man sich dabei langweilt! Glaub mir, ich beneide dich!«
»Und ich beneide dich kein Bißchen«, sagte Lonnìl eisig. »Um nichts in der Welt möchte ich ein solcher Dreckskerl sein, wie du einer bist.« Damit ließ er ihn stehen. Einen Moment lang fürchtete er, Felder würde hinter ihm herlaufen, aber dieser zuckte nur die Schultern und wandte sich dem Zauberer zu.

Plötzlich blieb Schwinge stehen und hob warnend die Hand. »Halt, wartet! Gefahr!«
Keil lauschte angestrengt: Die Vögel sangen, und Felder redete, so wie es schon den ganzen Tag über gewesen war. »Was ist denn?«
»Riechst du es nicht?« fragte Schwinge. »Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe es schon seit einiger Zeit in der Nase. Wir sollten gewappnet sein.«
Als Keil noch einmal schnupperte, mußte er ihr recht geben. Er wußte, wie Wälder rochen. Und zwischen den Geruch von Moos und Bäumen mischte sich jetzt etwas Fremdes. Keil hätte weder sagen können, was es war, noch den stechenden Geruch genau umschreiben. Es war unangenehm, und Keil spürte, als er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, ein leichtes Gefühl von Übelkeit. Schwinge hatte recht: Es lag Bedrohung in der Luft. »Was ist das?« fragte er beunruhigt.
Felder sah ihn an und begann nun ebenfalls, lautstark zu schnüffeln. »Also, ich rieche nichts«, sagte er dann, griff aber schon nach seinem Schwert.
»Natürlich kannst du nichts riechen«, erklärte Morren, der bei ihm stand. »Und das hat seine guten Gründe. Schwinge, du solltest einfach versuchen, das zu ignorieren. Es ist zwar nicht unbedingt angenehm, aber harmlos. Ihr werdet euch daran gewöhnen.«
»Du weißt, was es ist?« fragte Schwinge. »Sag es mir!«
»Du bist eine Jägerin und wirst mir zustimmen, daß jeden Tier seinen eigenen Geruch hat, nicht wahr? Mit Menschen verhält es sich ebenso. Sie mögen für euch vielleicht alle mehr oder weniger gleich aussehen, aber so habt ihr jetzt eine Möglichkeit, unsere Freunde Lonnìl und Felder selbst mit geschlossenen Augen auseinanderzuhalten. Felder, wärst du so freundlich und würdest den Alifwin erläutern, wie es dazu kommt?«
»Wie gesagt, ich rieche nichts«, sagte Felder. »Ich nehme aber mal an, daß ihr einfach feinere Nasen habt als wir. Ich kann es mir nur so erklären, daß ich bei Hofe erzogen wurde und schon von Kindesbeinen an gelernt habe, wie wichtig es ist, sich regelmäßig zu waschen. Ich bitte euch, daß ihr ein Nachsehen mit Lonnìl habt. Er hatte es nicht leicht im Leben, und -« Im letzten Moment wich er einer Ohrfeige aus.
»Das war vollkommen falsch«, sagte Morren. »Du scheinst nicht ganz verstanden zu haben, daß es hierbei um dich geht. Zu deiner Information: Bis jetzt hat sich Lonnìl jeden Tag, seit ich ihn kenne, gewaschen, ganz gleich, wie hart er es im Leben hatte. Kein Alifwin würde jemanden in seiner Nähe dulden, der stinkt wie ein ungewaschener Zwerg. Aber überlegt noch einmal, Keil und Schwinge: Ihr seid diesem Geruch schon einmal begegnet … in dem Menschengasthaus, in dem wir Lonnìl kennengelernt haben. Dies ist ein typischer Geruch für Menschen, darum fällt er ihnen nicht weiter auf. Versteht ihr langsam, was ich meine?«
»Wir wollen keine Rätsel raten«, sagte Schwinge ärgerlich. »Sag uns, was los ist!«
»Ich wollte es nur unterhaltsamer gestalten«, entschuldigte sich Morren mit einem Schulternzucken, »und weniger peinlich für Felder, obwohl ihm ja kaum etwas peinlich genug sein kann. Wärest du so freundlich, Felder, ihnen für einen Moment deine Feldflasche zu leihen? So ist es gut. Ihr habt euch ja nun schon öfters gefragt, wieso gerade die Menschen die Welt erobern konnten, obwohl sie über keinerlei Magie verfügen. Aber sie haben einen Trank entdeckt, der sie unbesiegbar macht. Zumindest glauben das diejenigen, die davon trinken. Er birgt allerdings gewisse Risiken.«
Schwinge, welche die Flasche geöffnet und daran gerochen hatte, verzog derart angewidert das Gesicht, daß Keil es lieber nicht erst genauer wissen wollte. Darum gab er die Flasche schnell an Felder zurück, der sie eilig wieder an seinem Gürtel festmachte. Er war im Gesicht ganz rot und blickte zu Boden.
»Können wir vielleicht jetzt über etwas anderes sprechen?« fragte er verlegen. »Das hier … das ist nichts für Elfen.«
»Es ist aber wichtig«, sagte Morren. »Sie wollen etwas über Menschen wissen, und du mußt zugeben, daß Alkohol in eurem Leben eine große Rolle spielt. Ich wollte auch nur noch abschließend sagen, daß sie, was die Wirkung angeht, einfach nur dich beobachten müssen. Sie sind nicht dumm. Wenn sie erst einmal die Hintergründe kennen, wissen sie schnell, um was es geht.«
»Jetzt übertreibst du wirklich, Zauberer! Ich trinke eigentlich immer nur wenig. Wie, glaubst du, könnte ich der beste Schwertkämpfer meines Landes sein, wenn ich ein Säufer wäre? Man kann nicht kämpfen, wenn man betrunken ist. Ich habe diesen Fehler im Leben erst einmal begangen - falls ihr euch gefragt haben solltet, was mit meinem Auge passiert ist. Damals hatte mein Gegner das Pech, daß er noch einiges mehr getrunken hatte als er - oder zumindest weniger vertrug. Aber ich meine - seht mich doch an: Es ist Nachmittag, und ich bin immer noch fast vollkommen nüchtern!«
»Ist das etwas Besonderes?« fragte Morren und lächelte. »Wenn ich dir jetzt deine Flasche wegnähme und sie hier auf dem Waldboden ausgösse, was würdest du dann tun?«
Felder überlegte einem Moment, dann begann er zu lachen. »Das, was ich in solchen Zeiten der Leere immer tue: Ich würde zum nächsten Bauern gehen und sagen, man habe mir wahre Wunderdinge über seinen Hausgebrannten erzählt. Ich bin noch nie einem Bauern begegnet, der nicht irgendein Fäßchen im Keller hatte. War die Drohung ernst gemeint?«
»Worauf willst du hinaus?« fragte Morren.
»Nun, ich könnte dir vorgreifen und die Flasche auch selber leeren, aber nicht auf den Boden. Dann hätten die Elfen ihr Anschauungsobjekt. Aber ich glaube nicht, daß ihr das wirklich wollt.«
»Mach es nicht schlimmer, als es ohnehin schon ist«, sagte Lonnìl gequält. » Ich habe vielleicht nicht so eine feine Nase wie die Elfen, aber …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
»Nun gut«, sagte Morren. »Ihr sehr also, daß es auch vernünftige Menschen gibt.«
»Vernunft liegt immer im Auge des Betrachters. Ihr wißt einfach nicht, was gut für euch ist.« Felder lachte. »Habe ich euch eigentlich schon …«

Keil konnte die Vögel nicht mehr hören, es sei denn, er strengte sich an. Felders Gerede übertönte ihren plappernden Gesang nahezu ununterbrochen. Innerhalb von drei Tagen, die sie mit ihm zusammen reisten, fielen mehr Worte als in der ganzen Zeit, seit Schwinge und Keil aufgebrochen waren. Und fast alle kamen aus Felders unermüdlichem Mund.
»Ich begreife nicht, warum du mir immer noch aus dem Weg gehst, Lonnìl«, sagte er zum Beispiel. »Man könnte fast meinen, du hättest Angst vor mir! Aber warum sollte ich dir etwas tun wollen? Weil du umherziehst und Grafen tötest? Glaub mir, ich trage dir da gar nichts nach. Genaugenommen habe ich sogar volles Verständnis dafür. Ich habe es schließlich auch schon getan - Grafen getötet, meine ich.«
»Wie soll ich das verstehen?« fragte Lonnìl irritiert. »Du versuchst jetzt nicht, mir weiszumachen, daß du auch ein Kämpfer gegen die Tyrannen und Unterdrücker bist?«
»Bloß nicht!« rief Felder entsetzt. »Auf diese Idee käme ich niemals! Ich will damit nur sagen, daß ich auch schon einmal einen Grafen getötet habe und dir das Abschlachten der Edlen folglich nicht weiter übelnehmen kann.«
»Und warum hast du dann einen Grafen getötet?« fragte Morren interessiert.  »Du wirst ihn doch hoffentlich nicht grundlos erschlagen haben?«
»Mir blieb nichts anderes übrig! Graf Arlin wollte mich töten, und irgendwie hatte ich zu dem Zeitpunkt etwas dagegen.«
»Und warum«, fragte Morren, zunehmend amüsiert, »wollte Graf Arlin dich töten?«
»Ihm mißfiel, was ich mit seiner Frau tat … oder sie mit mir. Genaugenommen habe ich mich sogar ziemlich lange gegen ihre Annäherungsversuche gesträubt. Aber sie wollte mich, und … nun ja, ich war ihr auch nicht gerade abgeneigt …«
»… und dann kam ihr Mann rein«, vollendete Morren den Satz.
Felder nickte. »Brüllend. Mit einem Breitschwert. Und natürlich griff er mich sofort an. Jetzt stellt euch mal meine Situation vor! Da lag ich, ohne Waffen, hilflos, nur mit einer Gräfin bekleidet, und auf der anderen Seite dieser Graf mit diesem riesigen Schwert und den Qualmwolken, die aus seiner Nase quollen!«
Jetzt blieb Keil nichts anderes übrig, als zu gestehen, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon der Mensch sprach. Das wiederum schien Felder völlig aus dem Konzept zu bringen, denn er starrte ihn fassungslos an.
»Ihr wißt nicht, was es bedeutet, wenn ein Mann seine Frau im Bett mit einem anderen erwischt?« fragte er entgeistert. »Was seid ihr nur für ein Volk? Nein, nein, ich will es gar nicht wissen! Und ihr Elfen solltet lieber froh sein, daß ihr nicht versteht, was ich meine. Ich werde es euch bei Gelegenheit erklären. Im Moment reicht es mir, wenn Lonnìl und Morren mich verstehen. Also: Auf der einen Seite Graf Arlin mit Schwert. Auf der anderen Seite ich, in Gefahr, mein Leben zu verlieren. Wenn er jetzt zuschlägt, bin ich in tot. Aber ich weiß: Der Graf ist ein Mann der Ehre.«
»Was man von dir nicht gerade sagen kann«, warf Morren ein.
Felder nickte zustimmend. »Der Graf brüllt: ‘Steh auf, du Hund!’ - ‘Das kann ich nicht, bei meinem Leben’, antworte ich kläglich. ‘Denn ihr habt so ein langes Breitschwert, und ich nicht einmal ein Taschenmesser. Ihr könnt doch nicht einen nackten Mann erschlagen wollen?’. Das kann er natürlich tatsächlich nicht. Er muß beweisen, daß er, im Gegensatz zu mir, über Ehre verfügt. Also gibt er mir die Gelegenheit, mich anzuziehen, leiht mir sein Zweitschwert und fordert mich zum Duell. Selbst schuld, sag ich.«
Keil hatte versucht, der Geschichte so gut es ging zu folgen, auch wenn er sie nicht ganz verstand. Allmählich bekam er eine vage Idee davon, worum was es ging. Der Gedanke, daß die neuen Herrscher der Welt auf einer Höhe mit balzenden Wiesenhähnen standen, erheiterte Keil, und auch Morren lachte leise vor sich hin. Aber Lonnìl war ernst geblieben.
»Und was wurde aus der Gräfin?« fragte er.
»Ich hoffe, sie war mir dankbar«, antwortete Felder. »Ich weiß es nicht genau, weil ich sie danach nie wieder gesehen habe. Irgendwie hielt ich es nach diesem … Zwischenfall für ratsam, Thoria für einige Zeit den Rücken zu kehren.«
»Wenn du zurückkämest«, fragte Lonnìl weiter, »würde man dich dann hängen?«
Felder lachte. »Natürlich nicht. Abgesehen davon, daß man den Prinzen niemals verurteilen würde - es war doch ein Duell, kein Mord. Mir wäre überhaupt nichts passiert. Aber es war diskreter für mich, zu gehen. Ich wollte nicht, daß die Gräfin hingerichtet wird.«
»Warum sollte man die Gräfin hinrichten?« fragte Keil erstaunt. »Sie hat doch niemanden getötet.«
»Ehebruch ist strafbar«, sagte Felder nur.
Keil kam zu dem Schluß, daß es wohl doch noch etwas dauern würde, bis er die Menschen zu begriff. Morren dagegen schien sie bereits voll und ganz verstanden zu haben, denn er sah Felder mit unbewegter Miene an und sagte ruhig: »Ich glaube, ein größerer Lump als du ist mir noch nie über den Weg gelaufen, und das schließt einen ausgesprochen langen Zeitraum ein.«
Felder, der inzwischen gelernt hatte, dem Blick des Zauberers standzuhalten, lächelte zurück, so als könne er dem nur zustimmen.

Sie redete nicht mit ihm. Lonnìl wußte bald nicht mehr, was er tun sollte. Er liebte sie - sie wußte, daß er sie liebte - trotzdem behandelte sie ihn immer noch so, als ob er ihr Böses wollte. Er war doch nicht wie Felder, der sich ihnen aus reinem Vergnügen angeschlossen hatte. Lonnìl hätte den Elfen in jedem Fall geholfen, einfach weil es das einzig Richtige war. Er konnte nicht von Schwinge verlangen, daß sie sich einfach so in ihn verliebte. Aber sie konnte doch wenigstens mit ihm sprechen! Keil redete doch auch mit ihm. Nicht einmal das schien sie zu billigen. Was mußte er denn noch tun, damit sie ihn akzeptierte?
Als er sie das fragte, bekam er als einzige Antwort nur einen verächtlichen Blick. Morren, der es gehört hatte, zuckte mitleidig die Schultern. Und Felder grinste.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst es aufgeben! Such dir eine richtige, gut gebaute Menschenfrau, wenn du noch keine hast. Sie will dich los sein, Freund Lonnìl. Das solltest du respektieren.«
»Sie will auch dich los sein«, bemerkte Morren.
»Das weiß ich. Aber ich stelle ihr immerhin nicht nach. Ich gehe nur zufällig in die gleiche Richtung wie ihr und nutze die Gelegenheit, um ein paar intelligente Gespräche zu führen und meinen Horizont zu erweitern.«
»Wo willst du eigentlich hin?« fragte Lonnìl, aber er erwartete gar keine klare Antwort.
»Ich will dorthin, wo ich noch nicht gewesen bin«, war auch tatsächlich alles, was von Felder kam. »Aber wo wir gerade dabei sind - was ist überhaupt euer Ziel?«
Lonnìl zögerte mit der Antwort. Egal, wie er es ausdrückte - es mußte in den Ohren des Prinzen wie ein faszinierendes Abenteuer klingen, und dann würden sie ihn wirklich nicht mehr los.  Aber auch Keil hatte Felders Frage gehört, und obwohl Schwinge etwas zu ihm sagte, das wohl ein Befehl zu schweigen war, drehte er sich zu den beiden Männern um und erzählte Felder die ganze Geschichte.
Felder hörte ruhig zu, ohne Keil auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen, was Lonnìl nicht für möglich gehalten hätte. Schließlich sagte er: »Das war wirklich mal eine schöne Geschichte. Ich habe Märchen immer schon gemocht. Nein, echt. Selbst, wenn es die Wahrheit ist, ist es immer noch eine schöne Geschichte. Was mich angeht - ich bin selbstverständlich dabei. Es könnte mir helfen, eine Legende zu werden, die über die Rolle des schlechtesten König, den Thoria jemals hatte, hinausgeht. ‘Als der legendäre Prinz Felder mit seinen getreuen Freunden auszog, um die zauberhaften Instrumente der Hohen zu finden …’, klingt doch gut. Ich bin nur noch etwas verwirrt. Du sagtest gerade, ihr seid auf dem Weg zu den Elben? Wollt ihr schon wieder zurück, obwohl ihr noch gar nichts gefunden habt?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Keil.
»Du und Schwinge, ihr seid doch selber Elben.«
Keil sah ihn verwirrt an. »Wir sind keine Elben - wir sind Alifwin.«
»Elben, Elfen … ist das nicht das selbe? Ein Spitzohr ist wie das andere, wenn du mich fragst. Obwohl du es natürlich besser wissen mußt, wo du selbst eins bist.«
»Aber die Elben haben gar keine spitzen Ohren«, erklärte Keil fassungslos. »Sie sehen ein wenig so aus wie die Menschen, oder genauer gesagt, ihr sehr aus wie sie, denn sie waren natürlich vor euch da. Und sie leben nicht in kleinen Dörfern wie die Alifwin, sondern bauen wundervolle Festen. Dafür ist allerdings ihre Magie auch schwächer als unsere. Sie ist an bestimmte Kristalle gebunden. Niemand kann die Elben mit uns verwechseln!«
»Ich denke, das tun die meisten Menschen trotzdem«, sagte Felder.

Die Worte, die Schwinge ihm zugezischt hatte, klangen noch immer hart in Keils Ohren, obwohl es schon fast einen halben Tag her war.
»Du scheinst mehr an deine Menschenfreunde zu denken, als daran, wie wir unserem Volk helfen können. Verräter!« Schwinge hatte genau das gesagt, wovor auch schon Morren ihn gewarnt hatte: Daß er seine Mission aufs Spiel setzte, wenn er sich zu sehr für die Menschen interessierte. Aber jetzt konnte er nicht mehr behaupten, daß er sie zwar interessant fand, aber keine Freundschaft für sie hegte. Je länger er die Menschen kannte, desto weniger verstand und desto mehr mochte er sie. Der menschliche Humor war vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig, aber sehr ausgeprägt. Niemand durfte auf die Idee kommen, über Schwinge zu lachen. Aber wenn jemand über Felder lachte, lachte Felder einfach mit. So machte es Keil weniger aus, daß Felder im gleichen Maße auch über ihn lachte, selbst wenn Keil sich nicht bewußt war, etwas Komisches gesagt zu haben. Keil begann Felder wirklich zu mögen - und das entging Schwinge nicht.
Die Landschaft hatte sich stark verändert. Jetzt schlängelte sicher der Weg durch ein Hügelland, und bald würden sie die Berge erreichen. Allerdings war auch das Vorankommen jetzt mühsamer. Dieser Pfad wurde nicht besonders stark genutzt - wie Morren erzählte, wußten nur die wenigsten, daß er überhaupt existierte.
Um Schwinge auszuweichen, ging Keil ganz am Ende der Gruppe. Er sang leise vor sich hin und merkte gar nicht, daß er immer weiter zurückfiel. Als er schließlich aufsah, waren seine Gefährten fast außer Sichtweite. Aber er würde die anderen schon wieder einholen.
»Gehst du immer so langsam?« fragte Felder, der hinter der nächsten Biegung auf ihn wartete. »Oder bist du eingeschlafen?«
»Ich habe gesungen«, erklärte Keil. »Ich habe nicht auf euch geachtet.«
»Du singst eigentlich dauernd«, stellte Felder fest. »Nicht, daß ich etwas dagegen hätte, du hast eine ganz hübsche Stimme, aber es klingt immer so trübsinnig. Kannst du nichts Flotteres? Ich verstehe zwar kein Wort, von dem, was du singst, aber es deprimiert mich immer so, wenn ich dir länger zuhören muß. Ich kann dir ein paar fröhliche Lieder beibringen, wenn du willst. Das einzig Gute, was man über Thoria sagen kann, ist, daß die Leute dort Ahnung vom Singen haben. Ich habe immer schon gerne gesungen.«
Das verwunderte Keil. Er hätte nicht gedacht, daß die Menschen Musik hatten. Aber als Felder jetzt zu singen anfing, klang es nicht so furchtbar, wie Keil erwartet hatte. Es war natürlich anders als aller Gesang, den er zuvor gehört hatte, aber eigentlich ganz schön. Felders Stimme war nicht hell und klar wie die eines Alifwin, sondern viel dunkler, und sein Gesang hörte sich etwas rauh an. Aber dafür wirkte es sehr lebendig und ungeheuer kraftvoll. Einen Moment lang wünschte Keil sich, so singen zu können. Doch dies war Musik für Menschen. Und einen derartigen Text hätte Keil auch niemals singen können. Er spürte, wie er rot wurde, und bat Felder nach den ersten fünf Strophen, aufzuhören.
»Du hast aber auch wirklich keinen Sinn für Humor«, sagte Felder. »Wenn alle Elfen so prüde sind, tut mir Lonnìl wirklich leid. Dabei war dieses Lied völlig harmlos. Ich kann noch ein paar viel Schönere, aber die habe ich noch nie nüchtern gesungen. Was mich daran erinnert, daß es an der Zeit ist …«
Keil beobachtete ihn interessiert, wie er aus seiner Feldflasche trank. Felder nahm immer nur ein oder zwei Schlucke. Keil fragte sich, was er überhaupt daran fand. Vielleicht hielt es die Mücken und wilden Tiere fern, wenn sie den Gestank witterten.
»Wie schmeckt das eigentlich?« fragte er neugierig, nachdem Felder fertig war.
»Schwer zu beschreiben. Lecker. Es wird aus Getreide hergestellt, aber damit hat es überhaupt keine Ähnlichkeit mehr. Warum probierst du es nicht einfach selber?«
Keil überlegte kurz. Warum eigentlich nicht? Es schien Felder entgegen allem, was Morren sagte, kaum zu schaden, und ein Schluck würde Keil vermutlich nicht umbringen. Natürlich würde Schwinge entsetzt sein, und Morren wäre vermutlich auch nicht begeistert, aber sie mußten es schließlich nicht wissen. Inzwischen waren die anderen sowieso außer Sicht, und Felder und er waren völlig unter sich.
»Ich glaube, du hast recht«, sagte er schließlich. »Ich probiere es.«
Felder starrte ihn entgeistert an. »Das war ein Witz! Morren bringt mich um, wenn er erfährt, daß ich dir Schnaps gebe. Er wirft mich achtkantig raus. Und ich habe keine Ahnung, wie es auf Elfen wirkt. Andererseits bist du alt genug, um selbst auf dich aufzupassen, denke ich. Ich weiß nicht, wie alt du bist, aber ich war sicher jünger, als ich damit angefangen habe. Also bitte. Tu dir keinen Zwang an. Aber tu mir einen Gefallen - trink nicht zuviel. Zum einen würde dir vermutlich ganz furchtbar schlecht werden, und zum anderen weiß ich nicht, wo ich hier frischen bekommen kann, wenn er alle ist. Zum Wohlsein.«
Er hielt ihm die Flasche hin. Keil nahm sie vorsichtig, wobei er noch einmal darauf achtete, ob Morren auch wirklich nicht zu sehen war, dann versuchte er vorsichtig, sie aufzumachen. Der Korken saß fest, aber Keil traute sich nicht, zu stark daran zu ziehen, aus Angst, alles zu verschütten. Felder sah seinen Bemühungen zu, dann nahm er ihm lächelnd die Flasche wieder ab und öffnete sie. Überhaupt schien er im Moment Keil ziemlich genau zu beobachten.
Keil hob die Flasche an die Nase und schnupperte. Der Gestank drehte ihm fast den Magen um. Aber es gab nur einen Weg, seine Neugier zu befriedigen, selbst wenn es bedeutete, daß ihm übel wurde und er Ärger bekam. Er kniff die Augen zusammen, setzte die Flasche an den Mund und kippte sie vorsichtig an. Seine Zähne und Lippen hielt er fest zusammengekniffen, und er spürte, wie seine Hand zitterte. Etwas in ihm krampfte sich zusammen. Noch bevor der erste Tropfen seine Lippen auch nur benetzen konnte, ließ Keil die Flasche wieder sinken.
»Brauchst du Hilfe?« fragte Felder, der irgendwie enttäuscht schien, als Keil ihm seine Flasche zurückgab.
»Ich kann das nicht«, sagte Keil entschuldigend. »Ich bringe es nicht über mich. Vermutlich könnte ich es nicht einmal trinken, wenn ich am Verdursten wäre.«
»Stell dich nicht so an«, sagte Felder. »Du wolltest es probieren. Und es geht ganz einfach. Du setzt die Öffnung der Flasche an den Mund, und dann trinkst du einfach. So:« Er demonstrierte es noch einmal.
Aber Keil schauderte. »Vergiß, daß ich es jemals versucht habe. Ich kann das nicht trinken. Es ist genauso, als würde ich versuchen, dein Schwert zu berühren.«
»Warum hast du Angst, mein Schwert anzufassen? Ist es dir zu scharf?«
»Es ist aus Eisen«, erklärte Keil.
»Eins muß man euch lassen«, sagte Felder. »Ihr habt originelle Probleme.«

Am nächsten Morgen, kurz, nachdem sie aufgebrochen waren, blieb Morren plötzlich stehen.
»Felder, mein Freund, ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich dir einmal etwas zeige. Ich brauche aber dazu deine Erlaubnis, denn ich habe einen Zauber mit dir vor, dessen Ergebnis dich vielleicht erschrecken könnte.«
»Wenn du versprichst, es wieder rückgängig zu machen … von mir aus. Ich bin noch nie zuvor verzaubert worden. Aber mittlerweile wundert mich gar nichts mehr. Nur zu. Fang an.« Felder grinste Morren an. »Aber laß mich leben.«
»Das ist es, was ich vorhabe«, sagte der Zauberer. »Ich bitte außerdem dich, Lonnìl, einen Moment lang wegzuschauen. Der Anblick ist mehr als ich deinen Augen zumuten möchte.«
»Augenblick mal!« rief Felder. »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das tatsächlich will!«
Aber es war bereits zu spät. Morren machte eine Handbewegung in seine Richtung. Nun wirkte der Zauber. Keil spürte ein gewisses Entsetzen, als er sah, wie der Mensch sich verwandelte. Derartiges hatte er noch nie gesehen, und er war nicht sicher, ob er es jemals wieder sehen wollte.
Felder blieb Felder, soviel war klar. Und doch veränderte er sich stark. Sein Gesicht wurde größer, verlor aber dabei an Kontur, es wurde uneben und schwammig. Dunkle Ringe und Hautfalten bildeten sich um die eben noch munteren Augen, die nun trüber und kleiner wurden. Keil hatte das Gefühl, daß der Mensch vor seinen Augen verfiel.
Felder merkte wohl nicht direkt, was mit ihm geschah, aber er las aus den Blicken der Alifwin, daß es etwas Furchtbares sein mußte. »Was tust du da mit mir?« fragte er, und zum ersten Mal schwang Panik in seiner Stimme mit. »Was immer es ist - hör auf damit! Hör sofort damit auf!«
Morren machte eine weitere kleine Handbewegung. Es hatte nur wenige Augenblicke gedauert. Jetzt war Felders Gesicht rot und aufgedunsen, und die Narbe an seinem Auge leuchtete weiß und grotesk. Furchen zogen sich um den Mund, der noch immer vor Schrecken verzerrt war. Niemand wäre mehr auf die Idee gekommen, dieses Gesicht irgendwie als anziehend zu bezeichnen. Keil bemerkte den Abscheu, der in Schwinges Blick lag.
»So also sehen Menschen aus, wenn sie ihr wahres Gesicht zeigen«, flüsterte die Jägerin.
»Jetzt sieh her, Felder!« Morren nahm seine Kugel aus der Tasche und hielt sie dem Menschen hin, damit er sein Spiegelbild darin sah. Die Rundung der Kugel verzerrte die Züge noch weiter. »Das bist du, Felder. Ich habe dich altern lassen, um zehn, vielleicht zwanzig Jahre. So wirst du aussehen, wenn du so weitermachst wie bisher - falls du dann überhaupt noch lebst.«
Felder lachte, aber es klang etwas unsicher. »So also sieht es aus, wenn du in deiner Kugel Bilder entstehen läßt. Sehr interessant. Ich dachte, sie wären für uns unsichtbar.«
»Das ist keine Illusion, mein Freund«, sagte der Zauberer. »Es ist dein Spiegelbild.«
Felder starrte in die Kugel, als könne er seinem eigenen Anblick nicht trauen. Er sagte nichts, aber seine Schultern bebten, und er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Nein!« schrie Lonnìl. Seine Neugier hatte gesiegt, aber er schien seinen Blick sofort zu bereuen. »Das kannst du nicht mit ihm tun, Zauberer! Verwandele ihn zurück!«
Morren hielt Felder mit einer Hand an der Schulter fest, als der versuchte, einen Schritt rückwärts zu machen, und zwang ihn unerbittlich, sein eigenes Bild zu sehen. »Du mußt der Wahrheit ins Auge blicken«, sagte er ruhig. »Es ist hart, aber es ist die einzige Möglichkeit, um dich  begreifen zu lassen, daß du dich zugrunde zu richtest.«
Felder fuhr sich tastend mit der Hand über das Gesicht, befühlte die Veränderungen.
»Glaubst du vielleicht, das wüßte ich nicht?« fragte er dann. »Ich bin nicht dumm. Aber solange es mir gefällt, werde ich genau so leben. Viel Zeit bleibt mir ohnehin nicht. Aber ihr habt weder das Recht, noch einen Grund, euch da einzumischen. Ich lebe so, wie es mir paßt, und ich schade keinem außer mir selbst.« Langsam schien er schien altes Selbstvertrauen wiederzugewinnen, denn er schaute noch einmal in die Kugel und lachte. »Im Übrigen hast du maßlos übertrieben. Du hast mir das Aussehen eines alten Säufers gegeben. Und ich bin beileibe kein Säufer. Du wirst nur selten erleben, daß ich mich wirklich betrinke. Wenn du mich also schon verwandeln mußt - mach es richtig!«
»Ich habe dein jetziges Aussehen nicht gewählt«, sagte Morren. »Dein Körper hat nur die Entwicklung durchlaufen, die im Moment am wahrscheinlichsten ist.«
Felder schien ihm noch immer nicht zu glauben, denn er beäugte nun abwechselnd sich und den Zauberer. »Mag sein, daß du recht hast«, sagte er schließlich. »Wir werden sehen. Und wenn schon. Ich wäre nur dankbar, wenn du mir jetzt mein altes Aussehen zurückgeben würdest. Ich will es genießen, solange ich es noch habe. So wie jetzt kann ich von mir aus aussehen, wenn ich König bin.«
Morren zuckte die Schultern, ließ ihn los und steckte seine Kugel wieder ein. Ein Wink, und Felder sah wieder so aus wie vorher.
»Mach das nie wieder«, ächzte er »Ihr gestattet?« Mit einem sarkastischen Grinsen in Morrens Richtung löste Felder die Flasche von seinem Gürtel und nahm einen langen Schluck. »Wenn ihr vorhabt, tatsächlich einen Säufer aus mir zu machen, dann macht nur so weiter. Ihr laßt mir quasi keine andere Wahl.«
Lonnìl sah den Zauberer mit einer Mischung aus Angst, Wut und Entsetzen an.
»Da hast du eine mächtige Waffe in der Hand«, sagte er leise. »Du könntest das im Kampf gegen deine Feinde einsetzen. Etwas Grausameres kann man niemandem antun. Aber es wäre ein falsches Spiel. Es ist unmenschlich.«
»Du vergißt, daß ich kein Mensch bin«, sagte Morren. »Aber ich verstehe, was du meinst.«
Weder Morren noch Felder gingen danach noch einmal auf dieses Erlebnis ein. Aber Keil konnte nie wieder Felders Gesicht ansehen, ohne darin deutlich die Zeichen des Verfalls zu erkennen.

Auch noch einer Woche konnte Lonnìl immer noch nicht sagen, ob er Felder nun mochte oder nicht. Was immer man ihm vorwerfen konnte, er ließ sich jedenfalls nicht hängen. Jeden Morgen trainierte er, als würde er gegen einen unsichtbaren Feind antreten. Es sah albern aus, und Felder schien es auch zu stören, daß er keinen Gegner hatte, mit dem er sich messen konnte.
»Zieh dein Hemd aus«, sagte er eines morgens. »Und jetzt greife mich an.«
»Warum sollte ich?« fragte Lonnìl.
»Du sollst lernen, mit einem Schwert umzugehen.«
»Ich kämpfe nicht mit Schwertern«, sagte Lonnìl. »Ein Schwert ist die -«
»- Waffe der Tyrannen, ich weiß. Du kannst also davon ausgehen, daß die meisten Tyrannen Schwerter tragen, und daß sie nicht wild darauf sind, sich von dir totschlagen zu lassen. Beim letzten Mal hattest du vielleicht die Überraschung auf deiner Seite, aber du mußt damit rechnen, daß sich deine Opfer zur Wehr setzen. Sie werden versuchen, dich in handliche kleine Stücke zu zerlegen. Deswegen solltest du wissen, wie man mit Schwertern umgeht. Mit Schwertern in den Händen von anderen Leuten. Und jetzt greife mich an!«
Ehe Lonnìl recht wußte, wie ihm geschah, stand er ohne Hemd auf einer Lichtung und kämpfte gegen Felder. Und schwitzte. Felder ging hart zur Sache. Zumindest schien das Lonnìl so.
»Achte auf deine Deckung! Denk daran - ich will dich töten! Das hätte ich schon fünfmal tun können. Und du solltest deinen Stock irgendwie mit Eisen beschlagen, wenn du damit Erfolg haben willst. So wird das nie etwas. Du mußt versuchen, Abstand zu gewinnen. Der Stab ist viel länger als mein Schwert. Nutz das doch aus!«
Jetzt erst bemerkte Lonnìl, daß Felder im Laufe schon etliches hatte einstecken müssen. Die Narbe an seinem Auge war nur die Auffälligste. Der Oberkörper und vor allem die Arme des Prinzen waren mit den Spuren von vielen kleineren und größeren Schnittwunden übersät.
»Trägst du niemals eine Rüstung?« fragte Lonnìl, als sie endlich eine Pause machen. Felder lachte verächtlich auf.
»Was soll ich damit? Hast du schon einmal versucht, dich in einem Kettenhemd zu bewegen? Diese Rüstungen mögen vielleicht ganz modern sein, aber glaub mir, sie werden sich nicht durchsetzen. Ich habe noch bei einem Schwertmeister der alten Schule gelernt. Er sagte, je weniger du anhast, desto mehr bist du gezwungen, auf deine Deckung zu achten. Das einzige, was ich wirklich brauche, sind Stiefel. Damit verlierst du zwar leider das direkte Gefühl für die Beschaffenheit des Bodens, aber ich muß einen festen Stand haben. Wenn du umknickst, bist du tot. Manchmal hat er mich nur in meinen Stiefeln kämpfen lassen. Manchmal auch ohne alles.«
»Ohne Hosen?« fragte Lonnìl entsetzt.
»Sicher. Natürlich nur, wenn sonst niemand dabei war. Aber du kannst mir glauben - ich habe auf meine Deckung geachtet. Es wäre einen Versuch wert … wenn ich nicht genau wüßte, daß es dann Ärger mit den Elfen gäbe. Obwohl -«
»Nein!« sagte Lonnìl nachdrücklich. Aber trotz seiner Erschöpfung war er Felder dankbar. Der Prinz war kein schlechter Lehrer, und er hatte erstaunlich viel Geduld aufgebracht. Zumindest diesmal. Ob es auf die Dauer so bleiben würde, wußte Lonnìl nicht, aber fürs erste gewöhnte er sich an die morgendliche Trainingsstunde.
Es war jedoch nicht immer klar, ob Felder ihn nun lobte oder verspottete. Meistens schien er beides gleichzeitig zu tun, und Lonnìl wußte nicht, wie er reagieren sollte.
»Du hast wirklich Talent«, sagte der Thorianer zum Beispiel. »Mein Schwertmeister Tarnil hätte seine helle Freude an dir gehabt. Er sagte auch immer, daß man das Denken sein lassen soll, wenn man kämpft. Das beherrschst du schon perfekt. Was du noch lernen mußt, ist, wieder mit dem Denken anzufangen, wenn der Kampf vorbei ist.«
Dann wieder konnte er direkt beleidigend sein. »Sag mir - was ist das für ein Gefühl, in eine Frau verliebt zu sein, und sie will nichts von dir wissen? Ich würde wirklich gerne mit dir mitfühlen, aber mir fehlt die Erfahrung.«
»Warst du noch nie verliebt?« fragte Lonnìl zurück.
»Doch, schon oft - aber noch nie unglücklich.«
Lonnìl sagte er lieber nichts mehr, sondern versuchte sich damit zu trösten, daß die große, wahre Liebe Felder offensichtlich fremd war. Er mochte vielleicht ein Prinz sein und ein brillanter Schwertkämpfer, dem die Frauen zu Füßen lagen, aber von wahrer Liebe hatte er keine Ahnung.

Wenn man Keil sah, konnte man glauben, er sei ausgeschickt worden, um die Menschen zu erforschen, und der Zauberer unterstützte ihn darin nur.
Dennoch konnte Schwinge Keils Interesse in mancher Hinsicht verstehen. Die Menschen waren so absonderlich! Manchmal bereitete es ihr fast Freude, den Prinzen zu beobachten. Er verursachte in ihr nicht dieses Gefühl des Unwohlseins, wie Lonnìl es tat, der sie immer anstarrte. Wenn das die Liebe war, von der Lonnìl immer sprach, dann war sie froh, nichts in der Art zu empfinden. Felder dagegen schien ihre Anwesenheit gleichgültig zu sein. Wie genau er aber Morren beobachtete, zeigte sich an einem Tag, als er den Zauberer an einem Tag sehr treffend nachmachte.
Der Zauberer hatte gerade in seine Kugel geblickt, als Felder plötzlich laut auflachte.
»Jetzt weiß ich es!« rief er vergnügt. »Mir ist gerade aufgegangen, warum du immerfort in diese trübe Kristallkugel starrst.« Er warf seinen schäbigen Umhang nach hinten mit einer Geste, die er von Morren abgeschaut hatte, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte dann angestrengt und leicht schielend in seine gewölbte Handfläche. »Ich kann es gar nicht glauben«, sagte er mit einer Stimme, die zwar in ihrer Intensität nicht an die von Morren heranreichte, aber seinen selbstgefälligen Tonfall schon recht gut traf. »Was bin ich doch für ein gutaussehendes Kerlchen! Ich sehe aber auch wirklich zum Anbeißen gut aus! Nein, was bin ich schön!«
Wer über diese Darbietung am meisten lachte, war Morren, aber Schwinge hatte das Gefühl, daß dieses Lachen nicht ganz echt war. Felder sollte sich besser in Acht nehmen, bevor er den Zorn des Zauberers erregte. Aber sie mußten sich auch vor diesem Menschen hüten. Er war nicht so harmlos wie Lonnìl, nicht nur, weil er sein Schwert aufdringlich geschickt führte. Hinter Felders lächerlichen Maske steckte ein Geist, der ebenso unberechenbar wie klug war und ihnen allen gefährlich werden konnte.
Schwinge trat zu dem Barden hin, um ihn zur Vernunft zu bringen. Schließlich durfte sie nicht vergessen, wie jung er war.
»Keil … bist du schon auf die Idee gekommen, daß dieser Mensch - ich meine den Prinzen - absichtlich unsere Nähe sucht, um uns an Erfüllung unserer Aufgabe zu hindern?«
»Wie kommst du darauf?« fragte Keil verwundert.
»Er ist ein Mensch, Keil. Und selbst wenn er uns nicht umbringen will, so kann es doch nicht in seinem Interesse sein, daß wir die Instrumente finden. Betont er nicht immer wieder, daß er keine Alifwin mag? Warum, glaubst du, begleitet er uns dann, wenn nicht, um uns Schaden zuzufügen?«
Darauf konnte der Barde nicht antworten, und Schwinge bemerkte, daß er dem Menschen danach immer wieder zweifelnde Blicke zuwarf. Aber trotzdem spürte sie, daß es ihr nur gelangen war, ihn zu verunsichern, nicht, ihn zu überzeugen. Und solange der Zauberer dabei war, konnte sie nicht direkt gegen Felder vorgehen.
Abends, wenn sie um das Feuer herumsaßen, redete er über die Zeit. In manchem, was er sagte, hätte Schwinge ihm gerne widersprochen, aber es war unter ihrer Würde, sich mit Menschen zu streiten.
»Eigentlich gibt es gar keine Zeit«, sagte er, von Morren belächelt, »sondern nur das, was wir daraus machen. Einige von uns leben schneller, andere langsamer. Jeder hat genau ein Leben davon, und wenn es vorbei ist, dann ist es vorbei. Also leben wir alle gleich lange, egal, wie wir es tun.«
»Haben dir das deine Lehrer beigebracht?« fragte Lonnìl verärgert. Es mußte also am Prinzen selbst liegen, wenn nicht einmal seine andere Menschen ihn verstehen konnten.
»Ich wünschte, sie hätten es«, sagte Felder leise. Wenn er über die Zeit sprach, wirkte er wie ausgetauscht. »Es hat mich einige schlaflose Nächte gekostet, bis ich es mir zusammengereimt hatte. Darum erzähle ich es euch ja auch. Ich möchte nicht, daß ihr die selben Probleme bekommt wie ich.«
»Wir werden ganz sicher nicht deine Probleme bekommen«, sagte Morren. »Immerhin bist du der einzige Trinker unter uns.«
Wenn Felders Absicht darin bestand, seine Mitreisenden zu verwirren, war ihm zumindest das voll und ganz gelungen
Aber er hielt sie nicht davon ab, Dolua’d’llán zu erreichen.

Nächstes Kapitel

Die Navigation fixieren ·  nicht fixieren (erfordert aktiviertes Javascript)
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2005 - 2010 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.