Es war einer von diesen
Träumen, die immer wiederkehren, und doch hatte ich
ihn nur ein einziges Mal.
Wir beide auf einer Weggabelung, im Schnee. Jarvis
lächelt mich an und sagt: »Das ist ein
Dreisprung. Weißt du, was ich meine?«
Natürlich weiß ich es, aber er sagt es
trotzdem: »Hier trennen sich unsere Wege. Den, auf dem
wir gekommen sind, dürfen wir beide niemals wieder
betreten.« Wir blicken zurück auf die
gleichmäßige Reihe unserer
Fußabdrücke - und ich kann nicht sagen,
welche von wem stammen. Der Weg selbst ist unter dem Schnee kaum zu
erkennen. Wir frieren beide, und Jarvis redet weiter:
»Der Weg, den ich gleich beschreite, soll
für dich verboten sein.« Ich schlucke,
aber ich sage nichts, auch wenn ich genau weiß, was
jetzt kommt. »Und auf deinen Weg darf ich niemals
einen Fuß setzen.«
Wir nicken, umarmen uns ein letztes Mal, ein letzter
Händedruck, und dann gehen wir, er auf dem rechten
Weg, ich auf dem linken. Wir blicken uns nicht mehr um. Zwischen
unseren Händen ist ein Band, erst
hängt es nur lose zwischen uns am Boden, aber je
weiter wir uns voneinander entfernen, desto mehr strafft und spannt
es sich, und es schneidet sich tiefer und tiefer in unser Fleisch
ein. Ich beginne zu bluten, Jarvis ebenfalls, und das Band saugt es
auf, langsam frißt sich die Röte von
links und rechts das Band entlang, doch wir bleiben nicht stehen,
gehen weiter, schweigend. Die Schmerzen ignorieren wir. Aus unseren
Armen rinnt das Blut, rinnt das Band entlang, und dann vereinigt es
sich in der Mitte…
Das Band zerreißt.
Ich erwachte, schweißgebadet, und schlief lange nicht
ein.
Ich hatte den Traum nie wieder, nur dieses eine Mal.
Es war der Tag, an dem unsere Mutter starb.
Von unserer Mutter gibt es
eigentlich wenig zu sagen, außer, daß sie
unsere Mutter war. Der frühe Tod unseres Vaters
hatte sie zur Witwe gemacht, aber sie tat ihr Bestes, um nicht wie
eine zu leben. Andauernd veranstaltete sie Bälle und
Feste - das will ich ihr nicht vorwerfen, denn sie hatte sonst
nichts im Leben zu tun - und sie ließ keine
Gelegenheit aus, um uns vorzuführen.
Die Leute lachten, wenn sie uns sahen, und fragten:
»Aber wie schafft Ihr es nur, sie
auseinanderzuhalten?«
Dann war die Reihe zu lachen an unserer Mutter. »Oh,
das ist nicht weiter schwer«, pflegte sie zu
antworten. »Byron ist der Hübsche von
den beiden, und Jarvis ist der Kluge.«
»Das ist ungerecht!« rief Jarvis dann.
»Das darfst du nicht sagen!«
Und unsere Mutter strahlte ihre Gäste an und sagte:
»Zwillinge!«
Das ist ungerecht, sagte Jarvis jedesmal. Aber nie sagte er
Das ist unwahr.
Ich glaube, ich könnte noch einiges mehr
über unsere Mutter sagen. Aber dann
müßte ich auch zugeben,
daß ich sie nicht ausstehen konnte, und das will ich
nicht.
Sie starb, als wir zwölf waren. Das Fieber
wütete besonders heftig in diesem Jahr, und wir
waren nicht die einzigen, die es zu Waisen machte, und auch nicht
die Jüngsten, aber das war kein allzu
großer Trost.
Schon Tage vorher wußte sie, daß sie
sterben würde, und wir wußten es auch.
Es war anders, als unser Vater starb - damals waren wir noch klein,
und es ging schneller. Sein Pferd stürzte bei einem
Turnier, und er mit ihm. Jarvis und ich glaubten noch, das Pferd
wurde getötet, um es für den Tod
unseres Vaters zu bestrafen - wir wußten, was
Gerechtigkeit war, aber wir verstanden sie nicht.
Wir verstanden sie noch immer nicht, als wir unsere Mutter
verloren. Wir verstanden nicht, warum man uns nicht zu ihr
ließ - Jarvis meinte, wir sollten uns nicht anstecken,
und ich meinte, wir sollten keine Angst um sie haben - aber warum
rief man uns dann ausgerechnet an ihr Bett, als sie dann starb?
Wir sträubten uns beide, aber unser Onkel Sybald
schob uns förmlich in ihr Zimmer und
schloß die Tür hinter uns.
»Byron…«, sagte
unsere Mutter schwach. »Jarvis… Es
tut so gut, euch noch einmal zu sehen.« Warum nannte
sie mich zuerst, wo es doch Jarvis war, den sie lieber mochte? Ich
werde es nie mehr erfahren. Immer nannte sie mich als erstes.
Jarvis lachte leise, nicht, weil ihm danach war, sondern weil wir
wußten, daß sie so etwas von ihm
hören wollte. »Werd gesund, und du kannst
uns noch sehen, so oft du nur willst.«
Tatsächlich lächelte sie matt.
Niemand von uns glaubte es.
»Ihr müßt mir eines
versprechen«, sagte sie leise und ging nicht mehr auf
Jarvis’ Worte ein. »Wenn ich tot
bin… laßt niemals zu,
daß sie euch trennen…
niemals…«
Ich schluckte. Wir kannten unsere Mutter als eine
fröhliche Frau, die munter plapperte und eine ganze
Unterhaltung im Alleingang bestreiten konnte - und nun schien ihr
selbst für diese Worte die rechte Kraft zu fehlen.
Außerdem erinnerte es mich an meinen Traum.
»Wie meinst du das?« fragte Jarvis.
»Wer will uns trennen?«
»Sie… ihr dürft es
nicht zulassen… wenn sie euch trennen, dann
bricht das Unheil herein… über
das Haus Fadar.«
Ich kniete mich an ihrer Seite nieder und nahm ihre Hand.
»Wir versprechen es, Mutter. Niemand hat uns jemals
trennen können, und niemand wird es jemals
tun.«
»Gegen unseren Willen«, sagte Jarvis,
der an mich herangetreten war, »wird uns niemals ein
Mensch trennen.« Er konnte nicht andere ihre Hand
nehmen, denn die hielt sie unter der Bettdecke, aber er
überkreuzte die Daumen vor seiner Brust.
»Das schwöre ich«, sagte er.
»Bei meinem Leben.«
Wir hatten noch nie einen Eid geleistet - wir waren noch Pagen,
und niemand verlangte etwas derart Hohes von uns - aber ich
begriff, daß Jarvis Recht hatte, daß der
Moment dafür gekommen war. Ich ließ die
Hand los - und war froh darum, denn selten hatte ich eine
unangenehmere Berührung erlebt - und tat es Jarvis
nach. »Ich schwöre«, sagte
ich, und dann sprachen wir gemeinsam: »Bei dem Blut
und dem Kranich und dem Löwen, wenn ich mein Wort
breche, so will ich gebrochen sein.«
Es war der einzige Schwur, den wir kannten, aber wir
wußten, daß wir ihn richte gesprochen
hatten, als wir das erleichterte Lächeln unserer
Mutter sahen. Sie wußte, daß wir diesen
Eid nicht brechen würden - nicht einen Eid, den wir
auf das Wappen unseres Hauses geleistet hatten.
»Danke«, sagte sie nur.
»Wißt ihr -« Sie brach
ab.
Jarvis ergriff meine Hand. Er hatte Angst, wie ich, aber wir
sagten nichts. Wir warteten nur, sahen uns an und versuchten, uns
gegenseitig zu trösten, einfach nur, indem wir da
waren. Bis ich dann irgendwann wagte zu flüstern:
»Wir müssen Sybald Bescheid
sagen.«
Jarvis blickte mich stumm an. Etwas seltsames lag in seinen Augen,
und einen Moment lang war er mir fremd. Dann zog er langsam seinen
Dolch und hielt ihn mir hin, den Griff zuvorderst.
»Aber -«, sagte ich und fing noch einmal
von vorne an, damit es nicht so klang, als stritte ich am Totenbett
unserer Mutter mit meinem Bruder, »ich dachte - erst
bei der Trauerfeier.«
»Ich möchte, daß wir es
jetzt tun«, erwiderte Jarvis leise.
»Bitte - ich erkläre dir
später, warum.« Seine Stimme zitterte.
Ich wußte nicht, wie ich ihn trösten
sollte. Aber ich nahm den Dolch.
Ich schob meinen linken Ärmel ein
Stück weit hoch und zögerte doch - sich
zu verletzen war eine Sache, aber es mit Absicht zu tun eine
andere, und ich wurde die Erinnerung an diesen Traum nicht mehr
los…
Dann setzte ich den Doch an, einen Fingerbreit neben der ersten
Narbe, und zog ihn dann mit einem glatten, schnellen Schnitt
über die Haut. Der Dolch war noch neu, seine Klinge
scharf. Es tat nur einen Moment lang weh. Ich hielt den Arm ruhig,
hoffte, daß das Blut nicht auf den Boden tropfen
würde, und reichte den Dolch dann an Jarvis
zurück. Das Blut sammelte sich auf meiner Haut,
quoll aus dem Schnitt und lief über meinen Unterarm
- ich hielt meine Hand darunter, um es aufzufangen und hoffte,
daß Jarvis nicht zögern
würde.
Doch Jarvis war schon immer der Entschlossenere von uns beiden.
Mit einer raschen, beinahe achtlosen Bewegung - seine Augen ruhten
auf meinem Arm, nicht auf seinem - brachte er sich den Schnitt bei,
wischte dann den Dolch an seinem Knie ab und schob ihn in die
Scheide zurück. Er lächelte dabei,
ein seltsames trauriges Lächeln.
Seite an Seite traten wir an unsere tote Mutter heran, und Jarvis
schlug die Bettdecke zurück. Unsere Mutter trug ein
langes weißes Hemd, ganz schlicht, ohne Spitze oder
Stickerei - es paßte so wenig zu dem, was sie sonst
trug, daß ich mich einen Moment lang fragte, ob diese
Frau wirklich unsere Mutter war. Oder wirklich tot. Ich
fühlte, wie das Blut an meinem Arm zu gerinnen
begann, und ballte eine Faust, ließ los und spannte
an, bis das Blut wieder floß.
Mein Blut war dick und langsam und erschien mir dunkler als
Jarvis’, als wir es wortlos auf unsere tote
Mutter tropfen ließen. Rote Flecken
fraßen sich durch den weißen Stoff, rote
Streifen zogen sich über ihre Haut, dort wo die
Tropfen sie berührten. Es gefiel mir nicht. Aber es
war nicht so schlimm wie beim ersten Mal, als unser Vater
starb.
Ich konnte nicht die kleine Narbe sehen, ohne mich zu erinnern -
nur ein kurzer Schnitt, denn wir waren erst vier Jahre alt und
unsere Arme noch dünn - aber obwohl wir so klein
waren, mußten wir uns schon an dem Ritual beteiligen.
Sybald wollte das Messer für uns
führen, doch unsere Mutter nahm es ihr aus der Hand
- Sybald war ihr Bruder, und wenn er auch als Verwalter eingesetzt
wurde, bis wir das rechte Alter erreichten, war er doch kein Fadar,
und kein Angehöriger unseres toten Vaters.
Niemand erklärte uns, warum wir verletzt wurden -
außer, weil Vater tot war - aber ich werde nicht
vergessen, wie sie meine rechte Hand nahm und mich schnitt. Dann
reichte sie mich an Sybald weiter, der mich hochhob - und erst
jetzt konnte ich unseren aufgebahrten Vater wirklich sehen. Sybald
drückte meinen Arm, damit das Blut besser
floß.
Jarvis sah zu. Später erzählte er
mir immer wieder, daß ich gebrüllt
hätte wie am Spieß,
während er ruhig blieb. Aber so war das nun mal mit
Jarvis - er brachte keinen Ton hervor, wenn er Angst hatte. Er
mochte vielleicht der Klügere von uns sein - aber
ich denke, daß ich mutiger war als er. Zumindest
dachte ich so bis zu dem Tag, da unsere Mutter starb und wir das
Ritual ganz allein durchführten.
Ich weiß nicht, wie lange wir so standen, aber es war
ganz sicher lang genug, denn so viel bedeutete Mutter mir nicht -
für Jarvis hätte ich geblutet, bis es
schwarz um mich wurde, für unsere Mutter nicht: Es
mußte Abstufungen geben. Darum war ich es, der endlich
sagte: »Laß gut sein, Jarv. Wir
können nicht mehr für sie
tun.«
Jarvis nickte. »Ich
weiß… aber ich kann es nicht
aufhören lassen.«
Das Blut lief immer noch aus seiner Wunde, und
plötzlich schien seine Blässe einen
anderen Grund zu haben.
»Halt den Arm hoch«, sagte ich.
»Dann kann das Blut nicht mehr
hinausfließen.« Solche Dinge merkte ich
mir - ich wollte kein Heiler werden, sondern ein Ritter, aber ich
verstand, daß man auch dann etwas über
Wunden wissen sollte.
Jarvis lachte, verlegen, weil, er nicht selbst drauf gekommen war
- aber er reckte gehorsam seinen Arm in die Luft. Das Blut lief
immer noch, aber langsamer, während ich nach einem
sauberen Taschentuch suchte - nicht in meinen Taschen, denn ich
wußte, daß ich keines hatte - aber in den
Sachen unserer Mutter. Meine eigene Wunde war längst
versiegt, als hätte mein Körper kein
Interesse daran, auch nur einen Tropfen mehr für
Mutter zu verschwenden. Aber es gefiel mir nicht, daß
Jarvis noch blutete und ich nicht mehr. So hielt ich den Arm nach
unten und bewegte die Faust, bis ich wieder dieses leise Ziehen und
Pochen verspürte.
»Schau«, sagte ich und hielt Jarvis mein
Handgelenk hin. »Halt deine Wunde dagegen - dann ist
es besiegelt, daß niemand uns trennen
kann.«
»Du meinst - ein Blutband?«
flüsterte Jarvis.
Ich nickte wortlos.
»Nein«, sagte Jarvis ruhig.
»Erstens. Man führt nicht zwei Rituale
an einem Tag durch, und erst recht nicht mit derselben Wunde.
Zweitens. Es ist nicht nötig. Wir sind
Brüder. Zwillinge. Wir können durch ein
Blutsband nicht gewinnen. Wir haben schon alles.«
Er lächelte. Ich lächelte
zurück, und dann knotete ich ihm das Tuch, das ich
aus Mutters Truhe genommen hatte, ums Handgelenk. Aber noch
während ich überlegte, was ich
erwidern sollte, ging die Tür auf, und Sybald kam
herein.
Er sagte nichts, aber er sah. Ich konnte es in seinem Gesicht
erkennen - es sah unsere Mutter - seine Schwester - und das Blut
auf ihrem Nachthemd und der Bettdecke, und Jarvis und mich, und das
Blut an ihren Armen. Er kniff die Lippen zusammen.
»Es… es tut mir
leid«, murmelte ich.
Sybald sagte ich immer noch nichts. Er schob uns nur aus dem
Zimmer, würdigte uns keines Blickes mehr, und
schloß die Tür.
Jetzt erst fiel mir auf, daß Jarvis zitterte.
»Deine Wunde«, fragte ich.
»Ist es noch schlimm?«
Jarvis schüttelte den Kopf. Es gefiel mir nicht.
Wenn er so ruhig war, bekam auch ich Angst.
»Was ist?« rief ich. »Sag
was!«
»Es ist alles in Ordnung«, murmelte
Jarvis. »Nicht hier im Gang, Byron. Ich
muß mit dir reden. Aber nicht hier. Komm
mit!«
Die Frauen hatten uns Essen auf
unser Zimmer gebracht - warmen Brotkuchen und kalten Tee. Seit das
Fieber umging, mußten wir meistens auf unserem Zimmer
essen, doch diesmal war ich froh darum. Der Kuchen war besonders
frisch, besonders süß - sie
wußten, daß unsere Mutter gestorben war,
und sie wollten uns eine Freude machen. Aber uns fehlte der rechte
Appetit.
»Sie hat es nicht gesagt«, murmelte
Jarvis.
Ich nickte. »Aber ich kann mir nicht vorstellen,
daß sie Sybald meint.«
Jarvis fuhr herum. »Was redest du
da?«
»Was Mutter gemeint haben kann - wer uns trennen
will.«
»Dummkopf!« zischte Jarvis.
»Warum bist du immer so ein Dummkopf? Du
mußt es doch…« Er
schüttelte den Kopf. »Tut mir leid,
Byron, aber… jetzt kommt soviel
Ärger auf uns zu. Sie werden uns keine Ruhe
lassen.«
Ich begann mir Sorgen um ihn zu machen,
größere als jemals um unsere Mutter. Das
war nicht der Jarvis, den ich kannte, der Jarvis, der die Dinge
leicht nahm und der sich niemals lange mit schlechter Laune
aufhielt.
»Jarvis«, sagte ich so ruhig wie
möglich. »Sag mir einfach, was los ist.
Und wenn du dann meinst, ich habe dich nicht verstanden, versuch es
einfach noch mal. Aber was ist los mit dir?«
Jarvis schüttelte den Kopf und zerrte an dem Tuch
um seinen Unterarm. »Sie hat es nicht
gesagt«, wiederholte er, doch diesmal redete er
weiter: »wer von uns der Erstgeborene ist. Sie hat es
uns nicht gesagt, und wenn nicht uns, dann auch keinem anderen.
Aber wenn wir sechzehn sind, muß einer von uns die
Kolonie übernehmen, nur einer von uns, nicht wir
beide, verstehst du?«
»Ich bin kein Dummkopf, Jarv«, erwiderte
ich leise.
»Ja, ich weiß. Sybald weiß
es wahrscheinlich auch. Aber der Rest? Wer einen klugen Mann auf
dem Thron haben will, ist auf meiner Seite. Wer einen tapferen
Ritter sehen will, kämpft für dich.
Sie werden uns auseinanderreißen und zu Gegnern
machen, ob wir wollen oder nicht.«
»Und das war es, was Mutter gemeint
hat?« fragte ich.
Jarvis legte seine Hände auf meine.
»Ja. Sie wußte es, und trotzdem mochte
sie sich nicht für einen von uns
entscheiden… du bist mehr Sybalds Kind als
ihres, und doch war sie immer die Mutter von uns
beiden.«
Ich nahm seine Hände. »Aber sie
können uns nicht trennen«, sagte ich.
»Wir haben es geschworen.«
»Byron«, sagte Jarvis.
»Hör mir jetzt zu, und was immer du sagen
willst, unterbrich mich nicht. Wenn sie uns erst einmal trennen
wollen, können wir nichts mehr dagegen tun. Die
Kolonie ist als Gegner zu
mächtig… Wir können
das nur auf eine Weise verhindern, nämlich indem wir
uns freiwillig trennen, jetzt sofort. Ich werde fortgehen,
Byron, und du bleibst hier und übernimmst die
Kolonie. Das ist das Beste so. Sybald will, daß du es
wirst. Und ich will es auch.« Er sprach schnell, als
wolle er verhindern, daß ich auch nur Atem holte. Ich
mußte schreien, um zu Wort zu kommen.
»Das kannst du nicht, Jarvis! Du kannst nicht einfach
weggehen!«
Mit zwei fingern löste er das Taschentuch von seinem
Arm. Ich hatte einen Knoten gemacht, so fest ich nur konnte, und
Jarvis war schwächer als ich, aber seine Finger
waren schnell, und geschickt. Der Schnitt an seinem Handgelenk war
noch gut zu sehen - glatt und sauber klaffte die Haut auseinander -
doch er blutete nicht mehr. Jarvis breitete das Tuch auf seinem
Schoß aus und strich es glatt. Plötzlich
tat es mir um das Taschentuch leid - Mutter hatte es bestickt, mit
dem Wappen unseres Hauses, und nun war das Leinen blutbesudelt.
Blut auf unserem Wappen… Ich schluckte. Das war
ein böses Zeichen.
Jarvis lachte, als er mein bestürztes Gesicht sah.
»Schau, es ist nur ein Taschentuch. Ich
könnte mir damit die Nase schneuzen - das Haus Fadar
geht davon nicht unter! Aber schau es dir doch
an!«
Ich merkte, daß er mich wieder ablenken wollte, doch
ich folgte seinem Finger, obwohl ich mit unserem Wappen ebenso
vertraut war wie er. Auf dem Schild ein Schiff in vollen Segeln,
schwarz auf blauem und weißen Grund - blau wie das
Meer, über das unsere Vorfahren gekommen waren, und
weiß wie der Himmel. Links und rechts davon unsere
Wappentiere - der Löwe und der Kranich. Jarvis fuhr
ihre Umrisse nach.
»Das bist du«, sagte er und strich
über den Löwen. »Und das
bin ich.« Ausgerechnet der Kranich war bis zur Brust
blutbefleckt. »Der Kranich ist ein Zugvogel, Byron. Er
bleibt nicht lange an einem Ort. Aber er gehört zu
unserem Haus, ebenso wie der Löwe. Und egal, wo ich
auch sein mag, ich werde immer dein Bruder sein. Und ein
Fadar.«
Ich nahm das Tuch, als Jarvis es zusammenfaltete und mir reichte.
»Und was - was wirst du tun?«
Jarvis lächelte. »Verrat es keinem
Menschen - du bist der einzige, der es jemals wissen darf. Ich
werde ein Dieb.«
»Was?« Entsetzt ließ ich
das Tuch fallen.
»Ein Meisterdieb. Der Beste der Welt. Du bist zum
Kämpfen gemacht, ich nicht. Meine Finger sind nicht
geschaffen, um ein Schwert zu halten.«
»Aber wenn du stiehlst«, stammelte ich,
»bringst du Schande über unser Haus! Du
darfst kein Dieb werden!«
»Niemand wird es jemals wissen - niemand, der Haus
Fadar kennt, wird wissen, daß ich ein Dieb bin. Und
niemand, der mich kennt, soll wissen, daß ich ein
Fadar bin. Nur du und ich, Byron… Und glaub
mir, wenn ich bleibe und ein miserabler Ritter werde, bringe ich
mehr Schande über das Haus, als du dir jemals
vorstellen kannst.«
»Dann gehe ich mit dir!« sagte ich
schnell.
Wieder schüttelte Jarvis den Kopf.
»Nein - du taugst nicht zum Dieb. Und einer von uns
muß doch hierbleiben und das Erbe antreten. Du wirst
ein großer Ritter, Byron!«
Ich wußte, daß ich ihn nicht halten
konnte, aber ich erzählte ihm auch nichts von dem
Traum, von dem Schnee. Ich wollte ihn nicht auf dumme Gedanken
bringen. In unserem Land fiel kein Schnee: Wir kannten ihn nur aus
Berichten über die Alte Heimat. Ich wollte nicht,
daß Jarvis über das Meer fuhr. Einen
Moment lang fürchtete ich, daß Jarvis
den gleichen Traum gehabt haben könne. Doch auch davon
sagte ich nichts. Statt dessen fragte ich nur: »Wann
wirst du gehen?«
Ich kannte die Antwort, noch bevor Jarvis den Mund
öffnete: »Jetzt gleich.«
Ich bemühte mich um ein Lächeln.
»Leb wohl, Jarvis. Vergiß mich
nicht.«
Er lächelte zurück.
»Wie sollte ich das jemals? Du bist mein
Bruder.«
Wir umarmten uns noch einmal, und dann war er fort.
Sie fragten mich, wo er war. Ich hätte eher
gelogen, als mein Versprechen zu brechen, aber da ich die Antwort
auf diese Frage selbst nicht kannte, konnte ich reinen Gewissens
sagen: »Ich weiß es nicht.«
Sie glaubten mir.
Niemand konnte sich vorstellen, daß ich mich
freiwillig von Jarvis getrennt hatte. Und das hatte ich auch
nicht.
Wenn sie euch gegen euren Willen trennen, bricht das Unheil
herein über Haus Fadar…
Vielleicht war diese Trennung nicht gegen
Jarvis’ Willen. Doch ich hatte ihm nicht
erklären können, daß sie
gegen meinen war. Also blieb ich, und ich wurde ein
Ritter.
Und ich wartete auf das Unheil.
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