Hier stand ich, und dort war
Marlon Tarell, und zwischen uns lag die ganze Kampfbahn. Die Arena
war groß - hier wurde geritten, hier wurde
gekämpft, hier wurden Ritter geschaffen und
zerstört. Aber diesen Platz wollte ich nicht brauchen.
Einen Schwertkampf konnte man auf engstem Raum austragen, der Rest
war für den, der fortlaufen wollte. Ich trat in
Richtung der Mitte, langsamen Schritts, erhobenen Schwertes, und
ebenso langsam kam Baron Marlon auf mich zu. Als er stehenblieb,
blieb auch ich stehen - der Kampf war noch nicht
eröffnet, wir mußten auf das Wort des
Schiedsrichters warten. Und der war an diesem Tag, wie auch bei
allen Turnieren, mein Onkel.
Sybald hatte seinen Platz auf einem Balkon in der ersten Reihe.
Bei ihm saßen zwei Männer, Ritter, die
mit ihm wachten, daß alles mit rechten Sachen zuging,
und die zu jedem Treffer die Punkte ansagten. Niemand sollte
denken, daß Sybald mir einen Sieg zusprechen sollte,
nur weil ich sein Neffe war! Und so blickte er zu uns herab mit der
kalten, leeren Miene eines Fremden.
»Byron Fadar«, rief er mit lauter,
klarer Stimme, die von jedem Platz der Arena aus zu
hören war. »Und Marlon Tarell. Erweist
Euch die Ehre!«
Marlon kniete mit dem linken Bein nieder und verneigte sich, und
ich tat das gleiche. Mit dem Kopf vor der Brust wartete ich auf den
Befehl, anzufangen. Je schneller das hier vorbei war, desto besser
- entweder, ich konnte den Kampf direkt für mich
entscheiden, oder ich verlor.
»Erhebt Euch!« rief Sybald.
»Und laßt den Kampf beginnen!
Kämpft, wie es wahren Rittern
gebührt.«
In diesem Moment stand ich dort nicht als ich selbst. Ich stand
dort als Erbe, als Hoffnung des Landes, als Stolz und Ehre meines
Onkel. Ich war Byron und Jarvis zugleich. Ich war Vaenris, und ich
war Savenn. Ich war das Haus Fadar, und ich war das Haus Alamar.
Wenn ich verlor, verlor nicht ich. Wenn ich verlor, verloren alle,
verloren alles. Aber das hieß: Ich war nicht allein in
diesem Moment. Ich trug nicht nur ihrer aller Bürde
- ich trug auch ihrer aller Kraft in mir. Es war die Kraft zu
gewinnen.
Ich konnte nicht fassen,
daß ich tatsächlich gesiegt hatte - ich
hatte gesiegt! Gegen Marlon Tarell! Gegen einen Mann, dessen
Kampfkunst ich fast noch mehr bewunderte als die meines Onkels! Vor
meinen Augen verschwamm alles. Die Luft flimmerte, und ich
hörte die Menschen um mich herum klatschen und jubeln
- aber ich fühlte mich ganz losgelöst
davon, ganz fern, als beträfe es in Wirklichkeit
einen anderen. Als jubelten sie für Baron
Marlon… Mit fahrigen Händen
schob ich mein Schwert in die Scheide und nahm den
lästigen Helm ab, unter dem meine
Schädel sich anfühlte, als
würde er gekocht.
»Den könnt Ihr mir geben.«
Marlon legte eine Hand auf meine Schulter. »Ich
gratuliere, Byron. Das war ein großer
Kampf.«
»Groß dank Euch«, erwiderte
ich. Eigentlich wollte ich nur ein Tuch, um mir den
Schweiß vom Gesicht zu wischen, aber ich ahnte,
daß ich dazu erst einmal nicht kommen
würde. Marlon klemmte sich meinen Helm unter den
Arm, ergriff meine rechte Hand und streckte sie nach oben.
Blinzelnd sah ich die Leute klatschend an ihren
Plätzen stehen, und einige kam auf uns zugelaufen.
Vaenris war einer der ersten, die mich erreichten; er lachte und
packte mich, wirbelte mich herum und ließ mich dann
mit einem heftigen Klapps auf den Rücken wieder
frei.
»Ich sag dir doch, du schaffst das!«
rief er.
Ich atmete tief durch, um wieder zu Luft zu kommen, und wollte ihn
schon zurück knuffen, aber es war nicht der richtige
Moment dafür. Marlon kniff die Augen zusammen, als
er meinen Vetter sah. Und Vaenris würdigte ihn
seinerseits keines Blicks - so sehr ich auch Marlon als Ritter
schätzte, er gehörte auch zu jeden
Männern, für die ein Bastard nur ein
Bastard war. Ich wollte weder ihn brüskieren noch
Vaenris, und so sagte ich schnell: »Danke, aber
laß mich einen Moment verschnaufen,
ja?«
Vaenris verzog das Gesicht und trat zurück, um
Platz zu machen für die offiziellen Gratulanten:
Sybald, die beiden anderen Ritter, und einen bleichen Mann mit
einem seltsamen Kragen, der um seinen Hals herum abstand, als liege
sein Kopf auf einem Teller. Das war der königliche
Gesandte, der den ganzen Weg aus der Alten Heimat gekommen war, nur
um mich als neuen Herzog einzusetzen. Während des
Turniers hatte ich ihn neben Sybald sitzen sehen, aber er schien
wenig Gefallen daran zu haben. Es gab keine Ritter mehr in der
Alten Heimat, und ich wußte, daß dort sie
unseresgleichen belächelten. Aber wenigstens
wußte er, was sich gehörte, und
gratulierte mir.
Mir war immer noch schwindelig, ich war wie in einem Taumel und
zitterte vor Freude und Aufregung. Ich ließ mir den
Siegerkranz auf die verschwitzten Haare drücken,
doch als mir eine Frau dann einen großen Krug voll
Bier reichte, mußte ich passen. Das konnte ich
unmöglich alles trinken - nicht mit wackligen Knien
und auf leeren Magen! Aber zurückweisen konnte ich
ihn auch nicht. Mir kam eine Idee, und sie war so gut,
daß ich stolz auf mich sein konnte.
»Ich danke Euch für die
Gabe«, sagte ich. »Aber hier steht ein
Mann, der hat einen kühlen Schluck mehr verdient als
ich.« Mit diesen Worten reichte ich den Krug weiter an
Marlon Tarell. »Der Mann, der die mir die Ehre
gestattet hat, meinen ersten Kampf gegen ihn auszutragen, und der
heute nicht minder schwer geschwitzt hat als ich.«
Auch wenn ich selbst vor Durst fast brannte - Vaenris hatte mich
gewarnt, daß bei der Feier nach dem Turnier noch viel
Bier fließen sollte. Und ich wollte einen klaren Kopf
bewahren bis zur Nacht.
Marlon nahm den Krug, nickte mir zu, und sagte dann laut:
»Auf Byron Fadar. Der bald ein großer
Kämpfer sein wird, und ein großer
Herzog, und der jetzt schon ein großes Herz
hat.« Und ich applaudierte mit den Menschen, als er
den Krug zum Mund führte und leerte, in einem
Zug.
Und tatsächlich
hatte mein Vetter nicht übertrieben: So oft trieb er
sich in der Küche und dem Keller herum,
daß er genau wußte, welche Mengen man
für meinen großen Tag eingelagert
hatte. Niemand sollte hungrig nach Hause gehen
müssen - es gab ganze Schweine am
Spieß, es gab fässerweise Bier, und es
gab niemanden, der nicht mit mir auf meinen Sieg
anstoßen wollte.
»Paß mit dem Bier auf«,
zischte Vaenris mir im Vorübergehen zu.
»Denk an heute Nacht! Besauf dich
nicht!«
Ich wußte diese Warnung zu würdigen,
aber sie kam nun schon zum dritten Mal, und ich wollte so oder so
aufpassen. Ich war einmal im Leben betrunken und wollte es sicher
nicht noch einmal sein, aber nun war ich dankbar um die Erfahrung,
denn ich wußte jetzt, vor welchen Anzeichen ich mich
hüten mußte und wann es an der Zeit
war, aufzuhören.
Damals war ich zehn Jahre alt, oder elf, also noch ein kleiner
Junge, zu jung für Wein, aber das
störte unsere Mutter nicht. Es war einer ihrer
fürchterlichen Bälle, und Jarvis und
ich mußten dort sein und uns herumzeigen lassen, und
sie nannte wieder Jarvis den Klugen und mich den
Schönen, und wir haßten es beide und
wünschten uns an einen anderen Ort, wo wir unsere
Ruhe haben konnten.
Doch unsere Mutter kannte keine Gnade. »Was zieht ihr
denn für mißmutige
Gesichter?« fragte sie.
»Wir langweilen uns«, antwortete Jarvis
geradeheraus. »Mutter, dürfen wir auf
unser Zimmer gehen?«
Sie lachte, zu laut und zu hoch. »Ihr seid so
entzückend! Aber macht doch einmal ein
fröhliches Gesicht. Tut es für eure
Mutter.«
Wir lächelten gequält. Unsere Mutter
war fröhlich genug für drei, wenn sie
einen Ball haben durfte. Hätten wir damals
gewußt, wie kurz sie nur noch zu leben hatte - sicher
wären wir an diesem Abend lieber bei ihr gewesen, ob
wir den Ball nun mochten oder nicht. Aber wir konnten es noch nicht
wissen. Und so nickten wir nur und verzogen hinter ihrem
Rücken die Gesichter, als sie jedem von uns einen
Kelch in die Hände drückte.
»Hier, damit ihr auch etwas fröhlicher
werdet!« Sie winkte einen Diener herbei und
ließ uns die Kelch mit Wein füllen. Fast bis zum Rand. Und schon hing
sie am Arm eines Ritters und glitt über die
Tanzfläche.
Jarvis und ich blickten uns an. Vorsichtig schnupperte Jarvis an
seinem Wein und rümpfte die Nase. »Ob
sie will, daß wir uns geehrt fühlen?
Sind wir jetzt große Jungen?«
»Sie will jedenfalls, das wir das
trinken«, antwortete ich und nippte vorsichtig. Wir
bekamen manchmal Wein, mit Wasser gemischt, zu trinken, was nicht
besonders gut schmeckte und nicht besonders schlecht. Reiner Wein
dagegen lag mir weniger. Aber mit einem Kelch konnte ich fertig
werden. Man konnte sich auch Sachen vorstellen, die schlechter
schmeckten.
»Du trinkst das wirklich?« fragte Jarvis
leise und starrte mich entgeistert an.
Ich nickte. »So schlimm ist es nun auch nicht. Und
wir machen Mutter damit eine Freude.«
Jarvis probierte einen Schluck, und schüttelte
sich. »Puh! Freude hin oder her, das dreht mir den
Magen um.«
Ich sah seine Augen suchend durch den Saal irren - er suchte eine
Gelegenheit, den Kelch unbemerkt abzustellen, ich ahnte es. Und ich
wußte, wenn unsere Mutter das herausfand,
würde sie enttäuscht sein. Ich wollte
sie nicht enttäuschen. Und ich wollte nicht,
daß irgend jemand Jarvis für einen
Feigling hielt. Schnell trank ich meinen Kelch leer und
drückte ihn Jarvis in die Hände. In
dem Moment verstand ich wirklich, warum Jarvis seinen Wein nicht
trinken wollte. Ich schluckte mehrmals nach, um den Geschmack
loszuwerden, und sehnte mich nach einem Becher Wasser.
»Hier«, sagte ich dann leise.
»Jetzt gib mir deinen, und niemand wird etwas
merken.«
Es war unritterlich und unehrlich, was ich da tat, aber es galt
die Ehre meines Bruders zu beschützen, und
dafür mußte ich auch das opfern
können, woran ich glaubte, schon damals. Jarvis
zögerte nicht, mitzuspielen. So stand ich mit meinem
zweiten Kelch voll Wein da. Als ich unsere Mutter auf uns zukommen
sah, trank ich ihn schnell aus - dann konnten wir unsere Becher
wieder zurückgeben und hatten es hinter uns. Sie war
zufrieden, und wir durften ins Bett.
»Das ist fein!« rief sie, als wir ihr
die Becher reichten. »Hat es euch geschmeckt,
ja?« Wir nickten brav -nicken war nicht wirklich
lügen… »Und Byron
hat schon richtig rote Bäckchen
bekommen!«
Ich hoffte, daß niemand sie sonst auf sie achtete.
Wenn uns jetzt wieder alle anstarrten… Aber ich
sagte nichts. Ich hatte ein unangenehmes pappiges
Gefühl im Mund, als klebe mir die Zunge am Gaumen
fest, und sehnte mich nach einem Schluck Wasser. Jarvis wippte
ungeduldig mit dem Fuß.
Doch unserer Mutter kannte keine Gnade. Statt daß sie
uns gehen ließ, winkte sie wieder dem Mundschenk - und
gab uns die Kelche wieder zurück, wieder mit Wein
gefüllt!
»Ich ahne das Schlimmste«,
flüsterte Jarvis, kaum daß sie wieder
fort war. »Sie läßt uns
hier nie wieder weg!«
Ich antwortete nicht, sondern klappte den Mund auf und zu, um zu
sehen, ob er wirklich zusammenklebte. Das tat er nicht. Jarvis
blickte mich mit schiefgelegtem Kopf an. »Byron!
Laß das Schmatzen! Sonst kommt sie gleich
zurück, und wir müssen auch noch das
ganze Spanferkel aufessen.«
Ich mußte lachen bei der Vorstellung. Das machte ein
halbes Schwein für jeden - aber wer sollte den Kopf
bekommen, und wer das Hinterteil?
»Hör auf!« zischte Jarvis.
»Wenn dich jemand sieht! Dann denkt sie, du findest es
hier lustig!«
Ich gehorchte ihm, aber mißmutig. Seit wann durfte
Jarvis mich herumkommandieren? Er war mein Bruder, aber ich durfte
lachen, wann ich wollte. Grimmig trank ich meinen Wein aus - in dem
Moment war Jarvis der eigentliche Grund, warum es mir auf diesem
Ball nicht gefiel. Aber ich konnte ihn auch nicht alleine hier
stehenlassen.
»Jetzt gib mir deinen«, sagte ich.
»Dann kannst du auch gehen.« Vielleicht
sagte ich es etwas lauter als beabsichtig. Aber nicht wirklich
unfreundlich -
Jarvis blickte mich seltsam an. »Geht es dir gut,
Byron?«
»Was meinst du?« fragte ich
zurück.
»Ich glaube, du solltest meinen besser nicht auch
noch trinken«, sagte Jarvis. »Du bist
irgendwie… komisch.«
»Mir geht es gut«, sagte ich.
Tatsächlich war mir ein wenig schwindelig, aber
jetzt war nicht der Moment, um das Jarvis auf die Nase zu binden.
»Wirklich gut«, fügte ich
hinzu, sicherheitshalber.
Jarvis schien mir nicht zu glauben.
»Aber?« fragte er.
»Meine Zunge ist pelzig«, antwortete
ich. Das stimmte. Sie fühlte sich pelzig an, und
dicker als sonst. »Schau mal.« Ich
streckte Jarvis meine Zunge hin. »Ist da Pelz
drauf?« Ich konnte es selbst nicht sehen, so sehr ich
auch schielen mochte und mir die Zunge verrenken. Mit Daumen und
Zeigefinger prüfte ich sie, aber ich konnte keinen
Unterschied zu sonst merken - aber ich faßte sonst
auch niemals meine eigene Zunge an…
»Byron, hör auf!« zischte
Jarvis. »Nimm die Zunge rein! Du machst dich zum
Gespött des Abends!«
Aber diesmal ließ ich mich nicht von ihm
einschüchtern. Statt dessen versuchte ich ihm in den
Mund zu fassen, um nachzuprüfen, ob sich seine Zunge
anders anfühlte als meine - und ich wunderte mich
keinen Moment lang darüber, was ich da tat, und
natürlich begriff ich auch nicht, daß
Jarvis Recht hatte. Zu meinem Glück standen wir in
einer Ecke, und niemand sah, was in mich gefahren war. Und es sah
auchniemand, wie Jarvis mich in die Finger
biß, daß ich erschrocken meine Hand
zurückzog und seine Zunge losließ.
Jarvis schnaubte, während ich auf meinen
schmerzenden Zeigefinger pustete. »So«,
sagte er. »Mir reicht es! Wenn du dich
endgültig zum Narren machen willst, kannst du von
mir aus meinen Wein auch noch haben. Aber dann beschwer dich nicht,
wenn dich nachher alle Leute auslachen.« Er
drückte mir seinen Kelch in die Hand, und ich,
obwohl mir zugegeben schon etwas flau war, trank ihn leer. Ich
wollte Jarvis beweisen, daß er mich
unterschätzte, daß ich soviel vertrug,
auch wenn ihm selbst schon von ein paar Schlucken schlecht
wurden…
Jarvis beobachtete mich, als erwarte er, daß ich im
nächsten Moment allen Wein wieder von mir geben
würde. »Und er tut es
tatsächlich«, murmelte er.
»Byron, wenn du dich jetzt sehen könntest
- ich glaube, du bist vollständig
betrunken.«
Ich wollte ihm widersprechen, ich wollte ihm zeigen,
daß ich noch Herr meiner selbst war, und ich
würde auch meine Zunge in meinem Mund lassen und
meine Finger aus seinem, und es ginge mir gut - aber alles, was ich
statt dessen heraus brachte, war, daß mir ganz und gar
schlecht war. Und daß ich mich hinsetzen wollte. Und
daß mir schlecht war - aber das hatte ich ihm ja schon
gesagt.
Mein Bruder war nie so stark wie ich, und deswegen bin ich mir
sicher, daß ich noch auf eigenen
Füßen stand, als er mich aus dem Saal
schleppte - aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Jarvis schleifte
mich über den Gang zu einem Fenster, und dann lief
los und suchte er Sybald, während ich noch begriff,
was es bedeutete zu sterben, bevor ich irgendwie
davondämmerte.
Ich erwartete, daß Sybald sehr wütend
mit mir sein würde, weil ich mich betrunken hatte.
Es war so weit entfernt von den Rittertugenden, wie es nur irgend
ging - aber falls Sybald mit mir schimpfte, bekam ich zumindest
nicht viel davon mit. Aber vor allem war Sybald
ärgerlich mit meinerMutter.
Und mit Jarvis - ausgerechnet. Obwohl der doch wirklich nichts von
dem Wein getrunken hatte… Ich
mußte jedenfalls die nächsten Tage im
Bett verbringen - für mich, der sonst nie krank war,
ein schreckliches Gefühl. Dabei wollte ich doch
lernen, ein Schwert zu führen! Vielleicht sollte das
meine Strafe sein. Von Jarvis sah und hörte ich in
dieser Zeit nichts. Erst zwei Tage später sah ich
ihn wieder. Er war sehr blaß und sah
unglücklich aus.
»Falls es dich tröstet«,
sagte er, »mich hat Sybald auch
bestraft.« Er verriet mir nie, wie.
Ich versprach ihm, daß ich nie wieder betrunken sein
wollte, und er versprach mir das gleiche. Danach waren wir uns
endlich wieder gut. Und das Beste war: Wir mußten nie
wieder auf einen Ball unserer
Mutter.
Doch nun war es mein sechzehnter Geburtstag, ich
wollte mich nicht betrinken, und ich wußte, worauf ich
aufpassen mußte. Wenn mir der Mund zusammenklebte und
meine Zunge pelzig wurde, dann war es an der Zeit, mit dem
Biertrinken aufzuhören. Aber Bier war
längst nicht so stark wie Wein, und ich war seither
auch größer und schwerer geworden - ich
vertrug es gut. Ich hatte keinen Pelz im Mund, mir war nicht
schwindelig, und ich tat auch keine dummen Sachen.
Tatsächlich ging es mir großartig. Die
ganze Anspannung der vergangenen Wochen, Monate sogar, fiel von mir
ab, ich war froh, zufrieden, erleichtert. Ich hatte mein erstes
Turnier gewonnen - was sollte sich mir jetzt noch in den Weg
stellen? Doch nur das Ritual mit dem Löwenkelch, und
was hatte ich von dem zu befürchten? Nichts! Ich war
so gut wie ein Ritter - so gut wie der neue Herzog - ich war
großartig. Und das alles mit gerade sechzehn Jahren!
Die Leute um mich herum feierten, und feierten mich. Ich
genoß jeden Augenblick.
Die Stimmung war locker, fröhlich und ausgelassen -
und auch ich durfte locker, fröhlich und ausgelassen
sein, anders als morgen - ich ahnte bereits, daß die
Einsetzungsfeier ernst, steif und ungemütlich werden
sollte. Allein dieser königliche Gesandte - es war
schwer vorzustellen, wie ein Mann, der einen solchen Kragen trug,
überhaupt jemals lachen konnte. Wer so einen Aufzug
anziehen und dabei ernst bleiben konnte, der hatte keinen Sinn
für irgend etwas lustiges. Wieder war ich froh, hier
zu leben und nicht in der alten Heimat.
Aber dies war mein Tag, und ich wollte ihn zum besten Tag in
meinem ganzen Leben machen. Und die Leute um mich herum trugen ihr
bestes dazu bei, daß ich mich keinen Moment langweilen
mußte. Daß Marlon Tarell ein
großartiger Mann war, wußte ich ja
bereits. Aber tatsächlich galt das
für seine ganze Familie.
Es war viel Treiben und ein reges Kommen und Gehen an unserem
Tisch, aber all die Zeit waren doch immer Marlon oder seine
Söhne um mich, um mich zu unterhalten. Ob es nun
Ratschläge fürs
Kämpfen waren, die schönsten
Stücke der Schwertkunst oder Dinge, die man auf
einem Turnier veranstalten konnte - ich hatte noch soviel zu
lernen, und hier saßen die Leute, die sich auskannten,
und waren nicht nur bereit, mich an ihrem Wissen teilhaben zu
lassen - sondern waren auch endlich einmal bereit, mich wie einen
erwachsenen Mann zu behandeln, und mich ernstzunehmen.
»Byron, du mußt mir einen Gefallen tun,
unbedingt«, sagte Dickon. »Im Herbst,
wenn ich meine Prüfung ablege, dann habe ich ja auch
hier mein Turnier - bist du dann mein Gegner? Machst du
das?«
Ich starrte ihn an, fassungslos vor Begeisterung. Da
saß ein Mann, fast fünf Jahre
älter als ich, und bat mich, mich selbst, um einen
solchen Kampf? »Ja - ja«, stammelte ich.
»Ja, gerne! Aber hast du keine
Angst?«
»Angst? Vor wem - vor dir?« Jetzt lachte
Dickon.
Aber ich war nicht beleidigt, trank nur mein Bier aus und sagte
dann: »Nein, wenn du gewinnst - dann sagen die Leute:
Kein Kunststück gegen das halbe Kind.«
Ich mußte lachen - wenn ich ein halbes Kind war -
welche Hälfte wurde dann Herzog? »Und
wenn du verlierst, dann lachen sie dich erst recht
aus.«
Dickon klopfte mir auf die Schulter.
»Laß das meine Sorge sein - Hauptsache,
ich stelle dir Familienehre wieder her.«
Wir lachten beide. Das war kein Groll zwischen mir und dem Haus
Tarell - vielmehr hatte ich einen Mann besiegt und einen Freund
gewonnen. Wir würden noch viele Turniere
gegeneinander ausfechten. Und auch auf seine Söhne
freute ich mich. Ich würde Turniere veranstalten,
die alles von Sybald in den Schatten stellen sollten. Und Marlon
schlug sofort vor, ich solle um die Hand seiner Tochter anhalten -
daß ich noch nicht verlobt war, hielt er
für eine Schande, und vielleicht hatte er recht, ein
schönes Mädchen war seine Tochter
allemal. Ich wußte nicht, ob Marlon vielleicht nur
scherzte, aber ich war bereit, mein Glück zu
versuchen.
»Also gut, Marlon«, sagte ich
vergnügt und furchtlos. »Die Hand
deiner Tochter -« Weiter kam ich nicht vor Lachen. Was
wollte ich mit einer Hand? Und wer sollte sie ihr abhauen? Ich
konnte nicht mehr. Ich mußte nur noch lachen,
daß ich mich kaum noch auf der Bank halten konnte.
»Byron!« Und dann noch einmal, lauter:
»Byron!«
Ich brauchte einen Moment, um Vaenris zu bemerken, der hinter mir
stand, und einen weiteren, um prustend nach Luft zu schnappen.
»Die Hand seiner Tochter«, murmelte ich
glucksend und zeigte auf Marlon. »Ich darf ihr die
Hand abhacken…
abhalten…«
»Ist schon gut, Byron«, sagte Vaenris.
»Hat Zeit für
später.«
»Ich darf mir ihre Hand anhalten«, sagte
ich trotzdem. Ich fand das immer noch lustig. Vaenris offenbar
nicht. Aber ich hatte keine Lust mehr auf ihn und sein Gemecker.
Nur weil er älter war - Dickon und Elvis Tarell
waren auch beide älter als ich und
zählten mir nicht jedes Bier einzeln in den
Mund… Das Lachen verging mir ein wenig.
»Was gibt’s denn?«
fragte ich.
Vaenris bleckte die Zähne. »Der Ernst
des Lebens - der königliche Gesandte will dich
sehen.«
»Jetzt fragte ich leicht genervt. »Ich
sehe ihn morgen noch den ganzen Tag - wenn er was will, soll er
runterkommen.«
»Er will dir was zeigen«, sagte Vaenris.
»Irgendwas in den Büchern, glaube ich.
Du mußt schon mitkommen.« Er packte mich
beim Arm und zog mich von der Bank hoch. »Komm,
hör auf zu bocken, je schneller du mitkommst, desto
schneller hast du’s hinter dir.«
Ohne meinen Arm loszulassen, zog er mich zum Tor.
Ich wollte mich schon lautstark beschweren - da stolperte ich
über einen Hund. Vaenris hielt mich fest,
daß ich nicht hinfiel, doch er ließ mir
keine Zeit, mich bei dem Hund oder seinem Herrn zu entschuldigen.
»Paß auf, wo du hintrittst«,
knurrte er und zog mich weiter.
Aber das war leichter gesagt als getan. Meine Beine wollten anders
als ich. Eigentlich wollten sie gar nicht. Dafür
wollte meine Blase um so mehr. Und mein Kopf…
»Ich bin nicht betrunken«, sagte ich
vorsorglich, bevor Vaenris - oder irgend ein Teil meines
Körpers - auf dumme Gedanken kommen konnte.
»Ich hab aufgepaßt.«
»Ja, Byron«, sagte Vaenris.
»Hast ja Recht. Aber komm jetzt.«
Ich stolperte auf der Treppe, knallte gegen eine
Säule, fiel über meine
Füße, und zunehmend
dämmerte es mir, daß ich vielleicht
doch nicht Recht hatte, aber solange Vaenris das nicht merkte -
»Wo gehen wir denn hin?« fragte ich
verwirrt. »Wir gehen hoch - die Schatzkammer ist doch
unten…«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Vaenris
geduldig. »Das stimmt schon alles.« Und
mit diesen Worten schob er mich in mein Zimmer. Niemand war da.
Kein Sybald. Kein Gesandter.
»Was ist los?« fragte ich.
»Wo sind jetzt -«
»Also gut.« Vaenris lachte grimmig.
»Ich habe dich angelogen. Aber mach dir nichts draus -
morgen kannst du dich daran ohnehin nicht mehr erinnern. Und ich
hätte dich sonst nie da wegbekommen. Wenn du mich
fragst, die Tarells haben eine Portion Prügel
verdient, jeder einzelne von denen - aber die geben sich nicht mit
Leuten wie mir ab, also wird das wohl nichts mit der
Schlägerei.«
Ich war sauer. Er hatte mich angelogen, er sprach schlecht von
meinen Freuden - aber als ich ihm das sagen wollte,
drückte er mich aufs Bett.
»Halt den Mund, Byron. Du bist ein Dummkopf - merkst
nicht, wie die dich nach aller Regel der Kunst
abfüllen und das auch noch witzig finden! Meinst du,
du hast schon gewonnen und alles hinter dir? In ein paar Stunden
ist das Ritual, und ich muß dafür
Sorgen, daß du dann wieder auf den Beinen
bist.« Während er sprach, zog er mir
die Stiefel aus. »Ich versuch, das Ganze meinem Vater
zu erklären, der hätte dir da mehr
zugetraut, glaub mir das - aber du schläfst jetzt
erst mal.«
Ehe ich mich versah, hatte ich nichts mehr an als mein Lendentuch
und lag im Bett. Und mußte auch zugeben,
daß ich irgendwie müde war. Ziemlich
müde, und ziemlich zufrieden.
»Schlaf gut, Byron«, sagte Vaenris, ehe
er die Tür zuzog. »Du hast es
nötig. Ach, und noch was -«
»Hm?« fragte ich
zurück.
»Hast dich gut geschlagen«, sagte
Vaenris. Und dann schlief ich.
Ich
wußte nicht, wie lang ich geschlafen hatte, aber ein
paar Stunden werden es wohl gewesen sein - eigentlich genug, sollte
man meinen, aber ich fühlte mich nicht so. Kein
Bißchen ausgeschlafen, und noch weniger erholt. Hatte
ich mich zuvor nicht hinlegen mögen, wollte ich jetzt
alles, außer aufstehen. Doch es war die Stunde meiner
zweiten Prüfung, und so war es gut, daß
Sybald und Vaenris anderer Meinung waren als ich.
»Hoch mit dir, du Ritter!«
dröhnte mein Vetter mir direkt ins Ohr,
während er mich hin und her
schüttelte. »Zeit zum Schlafen ist
vorbei!«
Ich grummelte etwas, das heißen sollte:
»Ja, sofort, ich komme gleich«, in
Wirklichkeit aber schon bedenklich nah an eine Lüge
kam. Ich hatte wenig Lust, aufzustehen.
»Jetzt komm schon.« Vaenris packte mich
bei Arm und Schulter und zog mich hoch. »Und ich sag
noch, paß mit dem Bier auf! Aber der Herr Ritter will
ja nicht auf mich hören… Das haben
wir jetzt davon. Mein Vater meint, es ist besser, ich helfe dir mit
dem Anziehen, als wenn einer von den Dienern dich so
sieht.«
Ich gähnte und blinzelte. Und schluckte. Und setzte
mich wieder auf die Bettkante. Das Zimmer drehte sich um mich, und
da war es sinnvoller, wenn ich erst mal meine eigenen
Füße auseinandersortierte. Dann sagte
ich: »Mir ist schlecht.«
Vaenris lachte. »Das glaube ich dir wohl - aber das
hilft nichts, aufstehen mußt du trotzdem. Oder sollen
wir den königlichen Gesandten und das Tribunal hier in
deine Kammer quetschen, nur damit der Herr Fadar im Bett bleiben
kann?«
Er versuchte mir ein weites weißes Hemd
überzustülpen, aber ich war ihm keine
gute Hilfe dabei. Mir war wirklich schlecht, aber ich versuchte es
auf die Angst zu schieben statt auf das Bier. Es gelang mir nicht
gut. Das Bier hatte die besseren Argumente, und es wollte wieder
hinaus.
Ungerührt zog Vaenris den Nachttopf unter dem Bett
hervor und drückte ihn mir in die Finger.
»Mach was du willst damit. Aber erwarte nicht,
daß ich dir dabei helfe. Und wegbringen kannst du ihn
hinterher auch allein.«
Zumindest gelang es mir noch zu erröten. Und so etwas
zu stammeln wie: »Wartest du draußen,
ja?«
Vaenris grinste. »Nichts lieber als das, glaub mir.
Ich geh derweilen mal nachschauen, was mein alter Herr
macht.«
Als er wiederkam, ging es mir unwesentlich besser, aber
dafür war Sybald dabei, und der machte so ein
ernstes, fast wütendes Gesicht, daß mir
wieder angst, bang und flau wurde. Sybald blieb in der
Tür stehen, sah mich an und
schüttelte den Kopf. »Byron,
Byron«, sagte er. »Da
läßt man dich zwei Stunden lang aus den
Augen…«
Ich schrumpfte kläglich unter seinem Blick
zusammen. Ich erkannte das Zweifelnde darin - wie sollte man mir
die Kolonie anvertrauen, wenn ich es noch nicht einmal unbeschadet
vom Turnier bis zum Löwenkelch schaffte?
Doch dann verzog ein Lächeln Sybalds
Züge. »Jungen sind
Jungen«, sagte er. »Und ich kann dir
ausrichten, daß du Marlon Tarell über
alle Maßen beeindruckt hast - ich frage mich nur,
womit. Er soll noch Ärger bekommen für
das, was er mit dir angestellt hast - aber dazu kannst du ihn
morgen selbst zur Rede stellen. Das ist
Herzogensache.«
Ich mußte selbst fast lachen bei der Vorstellung. Von
mir hatte Marlon keinen Ärger zu erwarten - nicht
für etwas, das meine eigene Schuld war. Aber das
Lachen verging mir, als Vaenris wieder versuchte, mich auf meine
Füße zu stellen, und ich dabei beinahe
umfiel, hätte mein Vetter mich nicht festgehalten.
»Ich…«, begann ich
und brach ab, weil ich nicht wirklich wußte, was ich
sagen sollte. »Es tut mir leid«, war dann
wohl die beste Wahl.
»Wir haben nicht die Zeit, dich
vernünftig
auszunüchtern«, sagte Sybald.
»Aber ich habe hier etwas. Es wird dir nicht
schmecken, aber wir haben keine andere Wahl.« Er zog
etwas aus der Tasche, das eine Phiole sein mochte - etwas kleines,
das er zwischen zwei Fingern hielt und das ich nicht genau erkennen
konnte.
Aber Vaenris stöhnte auf. »Ist das - das
ist doch nicht etwa…?« Er
schüttelte sich.
»Ebendas.« Sybald nickte, und ich
muß sagen, er sah dabei einigermaßen
zufrieden aus. »Mach den Mund auf, Byron. Strafe
muß sein. Und vielleicht tröstet es dich,
daß auch Vaenris schon genau weiß, was
das ist?«
Nein, das tröstete mich nicht. Und im
nächsten Moment war auch in mir gar kein Gedanke
für Trost mehr übrig. Sybald
träufelte mir etwas auf die Zunge, so abgrundtief
bitter, daß ich hustete und röchelte und
grunzte. Es brannte sich in meinen Mund ein. Ich wollte nach Luft
schnappen, aber da packte mich Sybald mit einer Kraft, die wieder
daran erinnerte, daß er selbst ein großer
Kämpfer war, von hinten und hielt mir den Mund zu.
Ich konnte nicht einmal mehr schlucken, geschweige denn alles
wieder ausspucken, was mein Körper wohl am liebsten
wollte. Alles was ich konnte war winseln und die Augen verdrehen.
Der Rest meines Körpers war wie
gelähmt, bis auf ein unkontrollierbares Zittern. An
Sybalds Daumen vorbei versuchte ich durch die Nase zu atmen und
betete, daß er mich wieder losließ. Als
er es endlich tat, sackte ich hilflos zu Boden.
»Es tut mir leid, Byron«, sagte Sybald.
»Das ist ein Gift, daß ich nur ungern
nutze. Aber wie gesagt, du bist nicht der Erste, der es braucht.
Versuch einmal, ob du allein aufstehen kannst.«
Ich gehorchte und stellte zu meinem großen Erstaunen
fest, daß ich das tatsächlich konnte.
Mein Herz raste so sehr, daß ich meinte, mein Hemd
müsse davon flattern, aber meine Beine trugen mich
wieder, und mir war auch nicht mehr schlecht. Nur der bittere
Geschmack in meinem Mund blieb, egal wie sehr ich auch schlucken
mochte. Ich atmete tief durch, hoffte, daß sich mein
Herz schnell wieder beruhigen mochte, und sagte:
»Danke.«
»Bedank dich nicht zu
früh«, erwiderte Sybald. Ich sah
Vaenris vehement nicken. »Das wirkt nur ein oder zwei
Stunden, danach geht es dir schlimmer als vorher. Aber in zwei
Stunden hast du das Ritual und alles hinter dir.«
Sybald schob die Phiole zurück in seine Tasche,
nicht ohne sich vorher zu vergewissern, daß sie
wirklich gut verschlossen war. »Und
jetzt«, sagte er dann, »wasch dir die
Nase und laß dir von Vaenris in die Stiefel helfen. Im
Rittersaal erwartet dich der
Löwenkelch.«
Wie ich in den Rittersaal kam,
weiß ich kaum. Sicher ging ich auf eigenen
Füßen - was eine deutliche Verbesserung
war - aber ich merkte es kaum. Ich war an der Tür -
ich war an der Ecke - ich war an der Treppe - als gebe es
dazwischen nichts. Als blinzele ich die Welt an und aus. In meinen
Ohren pochte und dröhnte es. Mein Herz wollte keine
Ruhe geben. Ich war aufgeregte als jemals zuvor im Leben. Aber
Angst hatte ich keine mehr.
Sybald ging vor mir. Ich habe noch genau seinen
weißen Umgang vor Augen, seine schmalen Schultern,
sein graues Haar - in dem dunklen Gang erschien er mir fast wie ein
Geist. Es brannten keine Fackeln, nur der Mond tat sein Bestes, um
die Mitternacht zu erhellen. Ob auch Vaenris mit uns ging, kann ich
kaum sagen, aber es muß wohl so gewesen sein, denn am
Ende trat er mit uns in den Rittersaal. Dann nickte er mir noch
einmal zu und setzte sich ins Publikum.
Es waren viele Männer gekommen - nicht so viele wie
zum Turnier, denn nicht jeder durfte das Ritual sehen, aber jeder
Platz im Saal war besetzt. Es war eine dunkle Masse von Menschen,
denn nur an der Kopfwand brannten zwei Fackeln, da, wo ich stehen
sollte.
Sybald durchschritt wortlos die Mitte des Saals, folgte den hellen
Steinfliesen, die das Publikum in zwei Hälften
teilten, und ebenso geisterhaft folgte ich ihm. Ich
hörte ein Raunen und Tuscheln aus dem Publikum.
Niemand jubelte oder klatschte. Die Fackeln erwarteten uns, und das
Tribunal. Der königliche Gesandte saß
dort, und die beiden alten Ritter, die an anderen Tagen hier mit
meinem Onkel Gericht gehalten hatten, und noch ein Mann, aber sein
Gesicht war im Schatten, und sein Name fiel mir nicht ein. Ein
verdienter Ritter war es jedenfalls. Der Platz in ihrer Mitte war
frei - Sybald sollte dem Tribunal vorstehen.
Ich sah auch Marlon Tarell im Publikum, er saß in der
ersten Reihe, und als ich an ihm vorbeiging, nahm er meine Hand und
drückte sie. »Viel
Glück«, sagte er leise, und in diesem
Moment fiel mir Vaenris Glückbringer wieder ein, und
ich dachte an Savenn und war froh und zuversichtlich. Und dann sah
ich den Löwenkelch.
Er stand auf einem kleinen Tisch vor den Sitzen des Tribunals, und
auch wenn er mit einem hellen Tuch abgedeckt war, sah er mich doch
direkt an, erwartungsvoll und lauernd. Ich schluckte. Wenn ich mich
jetzt nicht einschüchtern ließ, hatte
ich es überstanden, und es gab nichts mehr, was ich
noch fürchten mußte.
»Stell dich dorthin«, sagte Sybald leise
und zeigte auf das Podest unter den beiden Fackeln. Ich nickte und
gehorchte, und dann stand ich da, wo sonst die Angeklagten standen,
und Sybald nahm seinen Platz bei den Richtern ein.
Einen Moment lang herrschte gespanntes Schweigen. Ein Mann im
Publikum hustete, und ich kämpfte damit, ruhig zu
stehen. Meine Hände und
Füße kribbelten. Ich wollte,
daß die Zeremonie vorüberging, oder
noch besser, daß sie schon vorüberwar -
mein Mund war trocken, meine Haarwurzeln brannten, und alle Leute
starrten mich an.
Sybald sollte mich erlösen. »Byron
Fadar«, sagte er laut, seine Stimme wieder so ruhig
und bestimmt wie immer, wenn er nicht als Onkel, sondern als Regent
sprach, »du hast an diesem Tag einen
großen Kampfgeist gezeigt, und dafür
ehren wir dich. Doch ein Ritter zu sein erfordert mehr als ein
scharfes Schwert und starke Arme. Er ist den Tugenden verpflichtet
- Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Besonnenheit und Wahrheit. Bist du
bereit, dich deiner zweiten Prüfung zu stellen, die
über dein Schicksal entscheiden
soll?«
Ich konnte nur nicken. Mein Mund klebte zusammen.
»Antworte, Byron! Bist du bereit?«
»Ich bin bereit«, hörte ich
mich sagen und wußte nicht, wie ich es
hervorbrachte.
»Unsere Gesetze verlangen«, redete
Sybald nun weiter, »daß ein Mann, der ein
Ritter werden will, sich dem Tribunal der Wahrheit stellt. Nur wir
fünf werden die Fragen stellen, aber jeder hier im
Saal soll die Antworten hören, und jedes Geheimnis,
das in dieser Nacht bekannt wird, soll fortan keines mehr sein. Nur
wer ein reines Herz hat und ein reines Gewissen darf den Namen und
das Wappen eines Ritters führen. Doch wer in dieser
Prüfung versagt, wer sich vor dem Tribunal als
Schuft offenbart, der soll in der ganzen Welt bekannt sein als ein
Schuft. So frage ich dich noch einmal, Byron Fadar: Bist du
bereit?«
Ich schluckte und legte eine Hand auf meine Brust, um mein
pochendes Herz zu beruhigen, und da fühlten meine
Finger Savenns Anhänger und dem Hemd, und
plötzlich war ich wieder ganz sicher, und alles
würde gut gehen. »Ja«,
sagte ich laut. »Ja, ich bin bereit.«
Die fünf Männer erhoben sich und
stellten sich im Halbkreis um den Tisch, auf dem der
Löwenkelch stand. Dann zog Sybald das Tuch von dem
Kelch, hob ihn hoch und zeigte ihn erst mir, dann den Zuschauern.
»So empfange nun die Wahrheit aus diesem
Kelch«, rief er.
Die Tür öffnete sich, und zwei
Männer in blauen Roben traten ein, Gottesdiener. Der
eine trug in seinen Händen einen Krug, der andere
eine kleine Flasche. Sie stellten beides auf dem Tisch ab,
verneigten sich vor Sybald, verneigten sich vor mir, und gingen
wieder. Mit ruhiger Anspannung verfolgte ich, wie Sybald erst den
Kelch aus dem Krug füllte und dann, langsam, den
Inhalt des Fläschchens hineintropfen
ließ. Ich hörte, wie die
Männer im Saal den Atem anhielten.
Der Kelch schien sich zu verändern. Es war ein
Glänzen um ihn, als erwachten die vier
Löwen um seinen Stiel zum Leben, als leuchte er von
innen heraus. Aber das konnte auch am Licht liegen, und an den
Schatten.
Ich sammelte mich. Allen Mut. Alle Kraft. Alles
Selbstbewußtsein. Und alle Sturheit, die ich
aufbringen konnte. Ich mußte zeigen, daß
ich stärker war als alles, was in dem Kelch sein
mochte. Das war ich Jarvis schuldig. Ich dachte an Jarvis, und ich
dachte an mein Versprechen, als Sybald mir den Kelch reichte und
ich ihn zum Munde führte. Der Geruch des Branntweins
stach mir in der Nase. Das war nichts, was ich sonst freiwillig
getrunken hätte, aber jetzt mußte ich
den Kelch in einem Zug leeren, ohne Stutzen, ohne Husten - ein
wahrer Ritter durfte keine Schwäche zeigen. Ich
verneigte mich kurz. Auf dich, Jarvis, sagte ich im Geiste.
Und dann, todesmutig, trank ich.
Der Geschmack war noch schlimmer, als ich erwartet hatte, und der
Kelch größer. Ich kniff die Augen zu und
schluckte so schnell ich konnte, ich wollte es hinter mich bringen,
auch wenn es mir fast den Magen umdrehte, ich wollte -
Und dann weiß ich nichts mehr.
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