Fünftes Kapitel
Der Löwenkelch

Hier stand ich, und dort war Marlon Tarell, und zwischen uns lag die ganze Kampfbahn. Die Arena war groß - hier wurde geritten, hier wurde gekämpft, hier wurden Ritter geschaffen und zerstört. Aber diesen Platz wollte ich nicht brauchen. Einen Schwertkampf konnte man auf engstem Raum austragen, der Rest war für den, der fortlaufen wollte. Ich trat in Richtung der Mitte, langsamen Schritts, erhobenen Schwertes, und ebenso langsam kam Baron Marlon auf mich zu. Als er stehenblieb, blieb auch ich stehen - der Kampf war noch nicht eröffnet, wir mußten auf das Wort des Schiedsrichters warten. Und der war an diesem Tag, wie auch bei allen Turnieren, mein Onkel.
Sybald hatte seinen Platz auf einem Balkon in der ersten Reihe. Bei ihm saßen zwei Männer, Ritter, die mit ihm wachten, daß alles mit rechten Sachen zuging, und die zu jedem Treffer die Punkte ansagten. Niemand sollte denken, daß Sybald mir einen Sieg zusprechen sollte, nur weil ich sein Neffe war! Und so blickte er zu uns herab mit der kalten, leeren Miene eines Fremden.
»Byron Fadar«, rief er mit lauter, klarer Stimme, die von jedem Platz der Arena aus zu hören war. »Und Marlon Tarell. Erweist Euch die Ehre!«
Marlon kniete mit dem linken Bein nieder und verneigte sich, und ich tat das gleiche. Mit dem Kopf vor der Brust wartete ich auf den Befehl, anzufangen. Je schneller das hier vorbei war, desto besser - entweder, ich konnte den Kampf direkt für mich entscheiden, oder ich verlor.
»Erhebt Euch!« rief Sybald. »Und laßt den Kampf beginnen! Kämpft, wie es wahren Rittern gebührt.«
In diesem Moment stand ich dort nicht als ich selbst. Ich stand dort als Erbe, als Hoffnung des Landes, als Stolz und Ehre meines Onkel. Ich war Byron und Jarvis zugleich. Ich war Vaenris, und ich war Savenn. Ich war das Haus Fadar, und ich war das Haus Alamar. Wenn ich verlor, verlor nicht ich. Wenn ich verlor, verloren alle, verloren alles. Aber das hieß: Ich war nicht allein in diesem Moment. Ich trug nicht nur ihrer aller Bürde - ich trug auch ihrer aller Kraft in mir. Es war die Kraft zu gewinnen.

Ich konnte nicht fassen, daß ich tatsächlich gesiegt hatte - ich hatte gesiegt! Gegen Marlon Tarell! Gegen einen Mann, dessen Kampfkunst ich fast noch mehr bewunderte als die meines Onkels! Vor meinen Augen verschwamm alles. Die Luft flimmerte, und ich hörte die Menschen um mich herum klatschen und jubeln - aber ich fühlte mich ganz losgelöst davon, ganz fern, als beträfe es in Wirklichkeit einen anderen. Als jubelten sie für Baron Marlon… Mit fahrigen Händen schob ich mein Schwert in die Scheide und nahm den lästigen Helm ab, unter dem meine Schädel sich anfühlte, als würde er gekocht.
»Den könnt Ihr mir geben.« Marlon legte eine Hand auf meine Schulter. »Ich gratuliere, Byron. Das war ein großer Kampf.«
»Groß dank Euch«, erwiderte ich. Eigentlich wollte ich nur ein Tuch, um mir den Schweiß vom Gesicht zu wischen, aber ich ahnte, daß ich dazu erst einmal nicht kommen würde. Marlon klemmte sich meinen Helm unter den Arm, ergriff meine rechte Hand und streckte sie nach oben. Blinzelnd sah ich die Leute klatschend an ihren Plätzen stehen, und einige kam auf uns zugelaufen. Vaenris war einer der ersten, die mich erreichten; er lachte und packte mich, wirbelte mich herum und ließ mich dann mit einem heftigen Klapps auf den Rücken wieder frei.
»Ich sag dir doch, du schaffst das!« rief er.
Ich atmete tief durch, um wieder zu Luft zu kommen, und wollte ihn schon zurück knuffen, aber es war nicht der richtige Moment dafür. Marlon kniff die Augen zusammen, als er meinen Vetter sah. Und Vaenris würdigte ihn seinerseits keines Blicks - so sehr ich auch Marlon als Ritter schätzte, er gehörte auch zu jeden Männern, für die ein Bastard nur ein Bastard war. Ich wollte weder ihn brüskieren noch Vaenris, und so sagte ich schnell: »Danke, aber laß mich einen Moment verschnaufen, ja?«
Vaenris verzog das Gesicht und trat zurück, um Platz zu machen für die offiziellen Gratulanten: Sybald, die beiden anderen Ritter, und einen bleichen Mann mit einem seltsamen Kragen, der um seinen Hals herum abstand, als liege sein Kopf auf einem Teller. Das war der königliche Gesandte, der den ganzen Weg aus der Alten Heimat gekommen war, nur um mich als neuen Herzog einzusetzen. Während des Turniers hatte ich ihn neben Sybald sitzen sehen, aber er schien wenig Gefallen daran zu haben. Es gab keine Ritter mehr in der Alten Heimat, und ich wußte, daß dort sie unseresgleichen belächelten. Aber wenigstens wußte er, was sich gehörte, und gratulierte mir.
Mir war immer noch schwindelig, ich war wie in einem Taumel und zitterte vor Freude und Aufregung. Ich ließ mir den Siegerkranz auf die verschwitzten Haare drücken, doch als mir eine Frau dann einen großen Krug voll Bier reichte, mußte ich passen. Das konnte ich unmöglich alles trinken - nicht mit wackligen Knien und auf leeren Magen! Aber zurückweisen konnte ich ihn auch nicht. Mir kam eine Idee, und sie war so gut, daß ich stolz auf mich sein konnte.
»Ich danke Euch für die Gabe«, sagte ich. »Aber hier steht ein Mann, der hat einen kühlen Schluck mehr verdient als ich.« Mit diesen Worten reichte ich den Krug weiter an Marlon Tarell. »Der Mann, der die mir die Ehre gestattet hat, meinen ersten Kampf gegen ihn auszutragen, und der heute nicht minder schwer geschwitzt hat als ich.« Auch wenn ich selbst vor Durst fast brannte - Vaenris hatte mich gewarnt, daß bei der Feier nach dem Turnier noch viel Bier fließen sollte. Und ich wollte einen klaren Kopf bewahren bis zur Nacht.
Marlon nahm den Krug, nickte mir zu, und sagte dann laut: »Auf Byron Fadar. Der bald ein großer Kämpfer sein wird, und ein großer Herzog, und der jetzt schon ein großes Herz hat.« Und ich applaudierte mit den Menschen, als er den Krug zum Mund führte und leerte, in einem Zug.

Und tatsächlich hatte mein Vetter nicht übertrieben: So oft trieb er sich in der Küche und dem Keller herum, daß er genau wußte, welche Mengen man für meinen großen Tag eingelagert hatte. Niemand sollte hungrig nach Hause gehen müssen - es gab ganze Schweine am Spieß, es gab fässerweise Bier, und es gab niemanden, der nicht mit mir auf meinen Sieg anstoßen wollte.
»Paß mit dem Bier auf«, zischte Vaenris mir im Vorübergehen zu. »Denk an heute Nacht! Besauf dich nicht!«
Ich wußte diese Warnung zu würdigen, aber sie kam nun schon zum dritten Mal, und ich wollte so oder so aufpassen. Ich war einmal im Leben betrunken und wollte es sicher nicht noch einmal sein, aber nun war ich dankbar um die Erfahrung, denn ich wußte jetzt, vor welchen Anzeichen ich mich hüten mußte und wann es an der Zeit war, aufzuhören.
Damals war ich zehn Jahre alt, oder elf, also noch ein kleiner Junge, zu jung für Wein, aber das störte unsere Mutter nicht. Es war einer ihrer fürchterlichen Bälle, und Jarvis und ich mußten dort sein und uns herumzeigen lassen, und sie nannte wieder Jarvis den Klugen und mich den Schönen, und wir haßten es beide und wünschten uns an einen anderen Ort, wo wir unsere Ruhe haben konnten.
Doch unsere Mutter kannte keine Gnade. »Was zieht ihr denn für mißmutige Gesichter?« fragte sie.
»Wir langweilen uns«, antwortete Jarvis geradeheraus. »Mutter, dürfen wir auf unser Zimmer gehen?«
Sie lachte, zu laut und zu hoch. »Ihr seid so entzückend! Aber macht doch einmal ein fröhliches Gesicht. Tut es für eure Mutter.«
Wir lächelten gequält. Unsere Mutter war fröhlich genug für drei, wenn sie einen Ball haben durfte. Hätten wir damals gewußt, wie kurz sie nur noch zu leben hatte - sicher wären wir an diesem Abend lieber bei ihr gewesen, ob wir den Ball nun mochten oder nicht. Aber wir konnten es noch nicht wissen. Und so nickten wir nur und verzogen hinter ihrem Rücken die Gesichter, als sie jedem von uns einen Kelch in die Hände drückte.
»Hier, damit ihr auch etwas fröhlicher werdet!« Sie winkte einen Diener herbei und ließ uns die Kelch mit Wein füllen. Fast bis zum Rand. Und schon hing sie am Arm eines Ritters und glitt über die Tanzfläche.
Jarvis und ich blickten uns an. Vorsichtig schnupperte Jarvis an seinem Wein und rümpfte die Nase. »Ob sie will, daß wir uns geehrt fühlen? Sind wir jetzt große Jungen?«
»Sie will jedenfalls, das wir das trinken«, antwortete ich und nippte vorsichtig. Wir bekamen manchmal Wein, mit Wasser gemischt, zu trinken, was nicht besonders gut schmeckte und nicht besonders schlecht. Reiner Wein dagegen lag mir weniger. Aber mit einem Kelch konnte ich fertig werden. Man konnte sich auch Sachen vorstellen, die schlechter schmeckten.
»Du trinkst das wirklich?« fragte Jarvis leise und starrte mich entgeistert an.
Ich nickte. »So schlimm ist es nun auch nicht. Und wir machen Mutter damit eine Freude.«
Jarvis probierte einen Schluck, und schüttelte sich. »Puh! Freude hin oder her, das dreht mir den Magen um.«
Ich sah seine Augen suchend durch den Saal irren - er suchte eine Gelegenheit, den Kelch unbemerkt abzustellen, ich ahnte es. Und ich wußte, wenn unsere Mutter das herausfand, würde sie enttäuscht sein. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Und ich wollte nicht, daß irgend jemand Jarvis für einen Feigling hielt. Schnell trank ich meinen Kelch leer und drückte ihn Jarvis in die Hände. In dem Moment verstand ich wirklich, warum Jarvis seinen Wein nicht trinken wollte. Ich schluckte mehrmals nach, um den Geschmack loszuwerden, und sehnte mich nach einem Becher Wasser. »Hier«, sagte ich dann leise. »Jetzt gib mir deinen, und niemand wird etwas merken.«
Es war unritterlich und unehrlich, was ich da tat, aber es galt die Ehre meines Bruders zu beschützen, und dafür mußte ich auch das opfern können, woran ich glaubte, schon damals. Jarvis zögerte nicht, mitzuspielen. So stand ich mit meinem zweiten Kelch voll Wein da. Als ich unsere Mutter auf uns zukommen sah, trank ich ihn schnell aus - dann konnten wir unsere Becher wieder zurückgeben und hatten es hinter uns. Sie war zufrieden, und wir durften ins Bett.
»Das ist fein!« rief sie, als wir ihr die Becher reichten. »Hat es euch geschmeckt, ja?« Wir nickten brav -nicken war nicht wirklich lügen… »Und Byron hat schon richtig rote Bäckchen bekommen!«
Ich hoffte, daß niemand sie sonst auf sie achtete. Wenn uns jetzt wieder alle anstarrten… Aber ich sagte nichts. Ich hatte ein unangenehmes pappiges Gefühl im Mund, als klebe mir die Zunge am Gaumen fest, und sehnte mich nach einem Schluck Wasser. Jarvis wippte ungeduldig mit dem Fuß.
Doch unserer Mutter kannte keine Gnade. Statt daß sie uns gehen ließ, winkte sie wieder dem Mundschenk - und gab uns die Kelche wieder zurück, wieder mit Wein gefüllt!
»Ich ahne das Schlimmste«, flüsterte Jarvis, kaum daß sie wieder fort war. »Sie läßt uns hier nie wieder weg!«
Ich antwortete nicht, sondern klappte den Mund auf und zu, um zu sehen, ob er wirklich zusammenklebte. Das tat er nicht. Jarvis blickte mich mit schiefgelegtem Kopf an. »Byron! Laß das Schmatzen! Sonst kommt sie gleich zurück, und wir müssen auch noch das ganze Spanferkel aufessen.«
Ich mußte lachen bei der Vorstellung. Das machte ein halbes Schwein für jeden - aber wer sollte den Kopf bekommen, und wer das Hinterteil?
»Hör auf!« zischte Jarvis. »Wenn dich jemand sieht! Dann denkt sie, du findest es hier lustig!«
Ich gehorchte ihm, aber mißmutig. Seit wann durfte Jarvis mich herumkommandieren? Er war mein Bruder, aber ich durfte lachen, wann ich wollte. Grimmig trank ich meinen Wein aus - in dem Moment war Jarvis der eigentliche Grund, warum es mir auf diesem Ball nicht gefiel. Aber ich konnte ihn auch nicht alleine hier stehenlassen.
»Jetzt gib mir deinen«, sagte ich. »Dann kannst du auch gehen.« Vielleicht sagte ich es etwas lauter als beabsichtig. Aber nicht wirklich unfreundlich -
Jarvis blickte mich seltsam an. »Geht es dir gut, Byron?«
»Was meinst du?« fragte ich zurück.
»Ich glaube, du solltest meinen besser nicht auch noch trinken«, sagte Jarvis. »Du bist irgendwie… komisch.«
»Mir geht es gut«, sagte ich. Tatsächlich war mir ein wenig schwindelig, aber jetzt war nicht der Moment, um das Jarvis auf die Nase zu binden. »Wirklich gut«, fügte ich hinzu, sicherheitshalber.
Jarvis schien mir nicht zu glauben. »Aber?« fragte er.
»Meine Zunge ist pelzig«, antwortete ich. Das stimmte. Sie fühlte sich pelzig an, und dicker als sonst. »Schau mal.« Ich streckte Jarvis meine Zunge hin. »Ist da Pelz drauf?« Ich konnte es selbst nicht sehen, so sehr ich auch schielen mochte und mir die Zunge verrenken. Mit Daumen und Zeigefinger prüfte ich sie, aber ich konnte keinen Unterschied zu sonst merken - aber ich faßte sonst auch niemals meine eigene Zunge an…
»Byron, hör auf!« zischte Jarvis. »Nimm die Zunge rein! Du machst dich zum Gespött des Abends!«
Aber diesmal ließ ich mich nicht von ihm einschüchtern. Statt dessen versuchte ich ihm in den Mund zu fassen, um nachzuprüfen, ob sich seine Zunge anders anfühlte als meine - und ich wunderte mich keinen Moment lang darüber, was ich da tat, und natürlich begriff ich auch nicht, daß Jarvis Recht hatte. Zu meinem Glück standen wir in einer Ecke, und niemand sah, was in mich gefahren war. Und es sah auchniemand, wie Jarvis mich in die Finger biß, daß ich erschrocken meine Hand zurückzog und seine Zunge losließ.
Jarvis schnaubte, während ich auf meinen schmerzenden Zeigefinger pustete. »So«, sagte er. »Mir reicht es! Wenn du dich endgültig zum Narren machen willst, kannst du von mir aus meinen Wein auch noch haben. Aber dann beschwer dich nicht, wenn dich nachher alle Leute auslachen.« Er drückte mir seinen Kelch in die Hand, und ich, obwohl mir zugegeben schon etwas flau war, trank ihn leer. Ich wollte Jarvis beweisen, daß er mich unterschätzte, daß ich soviel vertrug, auch wenn ihm selbst schon von ein paar Schlucken schlecht wurden…
Jarvis beobachtete mich, als erwarte er, daß ich im nächsten Moment allen Wein wieder von mir geben würde. »Und er tut es tatsächlich«, murmelte er. »Byron, wenn du dich jetzt sehen könntest - ich glaube, du bist vollständig betrunken.«
Ich wollte ihm widersprechen, ich wollte ihm zeigen, daß ich noch Herr meiner selbst war, und ich würde auch meine Zunge in meinem Mund lassen und meine Finger aus seinem, und es ginge mir gut - aber alles, was ich statt dessen heraus brachte, war, daß mir ganz und gar schlecht war. Und daß ich mich hinsetzen wollte. Und daß mir schlecht war - aber das hatte ich ihm ja schon gesagt.
Mein Bruder war nie so stark wie ich, und deswegen bin ich mir sicher, daß ich noch auf eigenen Füßen stand, als er mich aus dem Saal schleppte - aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Jarvis schleifte mich über den Gang zu einem Fenster, und dann lief los und suchte er Sybald, während ich noch begriff, was es bedeutete zu sterben, bevor ich irgendwie davondämmerte.
Ich erwartete, daß Sybald sehr wütend mit mir sein würde, weil ich mich betrunken hatte. Es war so weit entfernt von den Rittertugenden, wie es nur irgend ging - aber falls Sybald mit mir schimpfte, bekam ich zumindest nicht viel davon mit. Aber vor allem war Sybald ärgerlich mit meinerMutter. Und mit Jarvis - ausgerechnet. Obwohl der doch wirklich nichts von dem Wein getrunken hatte… Ich mußte jedenfalls die nächsten Tage im Bett verbringen - für mich, der sonst nie krank war, ein schreckliches Gefühl. Dabei wollte ich doch lernen, ein Schwert zu führen! Vielleicht sollte das meine Strafe sein. Von Jarvis sah und hörte ich in dieser Zeit nichts. Erst zwei Tage später sah ich ihn wieder. Er war sehr blaß und sah unglücklich aus.
»Falls es dich tröstet«, sagte er, »mich hat Sybald auch bestraft.« Er verriet mir nie, wie.
Ich versprach ihm, daß ich nie wieder betrunken sein wollte, und er versprach mir das gleiche. Danach waren wir uns endlich wieder gut. Und das Beste war: Wir mußten nie wieder auf einen Ball unserer Mutter.

Doch nun war es mein sechzehnter Geburtstag, ich wollte mich nicht betrinken, und ich wußte, worauf ich aufpassen mußte. Wenn mir der Mund zusammenklebte und meine Zunge pelzig wurde, dann war es an der Zeit, mit dem Biertrinken aufzuhören. Aber Bier war längst nicht so stark wie Wein, und ich war seither auch größer und schwerer geworden - ich vertrug es gut. Ich hatte keinen Pelz im Mund, mir war nicht schwindelig, und ich tat auch keine dummen Sachen. Tatsächlich ging es mir großartig. Die ganze Anspannung der vergangenen Wochen, Monate sogar, fiel von mir ab, ich war froh, zufrieden, erleichtert. Ich hatte mein erstes Turnier gewonnen - was sollte sich mir jetzt noch in den Weg stellen? Doch nur das Ritual mit dem Löwenkelch, und was hatte ich von dem zu befürchten? Nichts! Ich war so gut wie ein Ritter - so gut wie der neue Herzog - ich war großartig. Und das alles mit gerade sechzehn Jahren! Die Leute um mich herum feierten, und feierten mich. Ich genoß jeden Augenblick.
Die Stimmung war locker, fröhlich und ausgelassen - und auch ich durfte locker, fröhlich und ausgelassen sein, anders als morgen - ich ahnte bereits, daß die Einsetzungsfeier ernst, steif und ungemütlich werden sollte. Allein dieser königliche Gesandte - es war schwer vorzustellen, wie ein Mann, der einen solchen Kragen trug, überhaupt jemals lachen konnte. Wer so einen Aufzug anziehen und dabei ernst bleiben konnte, der hatte keinen Sinn für irgend etwas lustiges. Wieder war ich froh, hier zu leben und nicht in der alten Heimat.
Aber dies war mein Tag, und ich wollte ihn zum besten Tag in meinem ganzen Leben machen. Und die Leute um mich herum trugen ihr bestes dazu bei, daß ich mich keinen Moment langweilen mußte. Daß Marlon Tarell ein großartiger Mann war, wußte ich ja bereits. Aber tatsächlich galt das für seine ganze Familie.
Es war viel Treiben und ein reges Kommen und Gehen an unserem Tisch, aber all die Zeit waren doch immer Marlon oder seine Söhne um mich, um mich zu unterhalten. Ob es nun Ratschläge fürs Kämpfen waren, die schönsten Stücke der Schwertkunst oder Dinge, die man auf einem Turnier veranstalten konnte - ich hatte noch soviel zu lernen, und hier saßen die Leute, die sich auskannten, und waren nicht nur bereit, mich an ihrem Wissen teilhaben zu lassen - sondern waren auch endlich einmal bereit, mich wie einen erwachsenen Mann zu behandeln, und mich ernstzunehmen.
»Byron, du mußt mir einen Gefallen tun, unbedingt«, sagte Dickon. »Im Herbst, wenn ich meine Prüfung ablege, dann habe ich ja auch hier mein Turnier - bist du dann mein Gegner? Machst du das?«
Ich starrte ihn an, fassungslos vor Begeisterung. Da saß ein Mann, fast fünf Jahre älter als ich, und bat mich, mich selbst, um einen solchen Kampf? »Ja - ja«, stammelte ich. »Ja, gerne! Aber hast du keine Angst?«
»Angst? Vor wem - vor dir?« Jetzt lachte Dickon.
Aber ich war nicht beleidigt, trank nur mein Bier aus und sagte dann: »Nein, wenn du gewinnst - dann sagen die Leute: Kein Kunststück gegen das halbe Kind.« Ich mußte lachen - wenn ich ein halbes Kind war - welche Hälfte wurde dann Herzog? »Und wenn du verlierst, dann lachen sie dich erst recht aus.«
Dickon klopfte mir auf die Schulter. »Laß das meine Sorge sein - Hauptsache, ich stelle dir Familienehre wieder her.«
Wir lachten beide. Das war kein Groll zwischen mir und dem Haus Tarell - vielmehr hatte ich einen Mann besiegt und einen Freund gewonnen. Wir würden noch viele Turniere gegeneinander ausfechten. Und auch auf seine Söhne freute ich mich. Ich würde Turniere veranstalten, die alles von Sybald in den Schatten stellen sollten. Und Marlon schlug sofort vor, ich solle um die Hand seiner Tochter anhalten - daß ich noch nicht verlobt war, hielt er für eine Schande, und vielleicht hatte er recht, ein schönes Mädchen war seine Tochter allemal. Ich wußte nicht, ob Marlon vielleicht nur scherzte, aber ich war bereit, mein Glück zu versuchen.
»Also gut, Marlon«, sagte ich vergnügt und furchtlos. »Die Hand deiner Tochter -« Weiter kam ich nicht vor Lachen. Was wollte ich mit einer Hand? Und wer sollte sie ihr abhauen? Ich konnte nicht mehr. Ich mußte nur noch lachen, daß ich mich kaum noch auf der Bank halten konnte.
»Byron!« Und dann noch einmal, lauter: »Byron!«
Ich brauchte einen Moment, um Vaenris zu bemerken, der hinter mir stand, und einen weiteren, um prustend nach Luft zu schnappen. »Die Hand seiner Tochter«, murmelte ich glucksend und zeigte auf Marlon. »Ich darf ihr die Hand abhacken… abhalten…«
»Ist schon gut, Byron«, sagte Vaenris. »Hat Zeit für später.«
»Ich darf mir ihre Hand anhalten«, sagte ich trotzdem. Ich fand das immer noch lustig. Vaenris offenbar nicht. Aber ich hatte keine Lust mehr auf ihn und sein Gemecker. Nur weil er älter war - Dickon und Elvis Tarell waren auch beide älter als ich und zählten mir nicht jedes Bier einzeln in den Mund… Das Lachen verging mir ein wenig. »Was gibt’s denn?« fragte ich.
Vaenris bleckte die Zähne. »Der Ernst des Lebens - der königliche Gesandte will dich sehen.«
»Jetzt fragte ich leicht genervt. »Ich sehe ihn morgen noch den ganzen Tag - wenn er was will, soll er runterkommen.«
»Er will dir was zeigen«, sagte Vaenris. »Irgendwas in den Büchern, glaube ich. Du mußt schon mitkommen.« Er packte mich beim Arm und zog mich von der Bank hoch. »Komm, hör auf zu bocken, je schneller du mitkommst, desto schneller hast du’s hinter dir.« Ohne meinen Arm loszulassen, zog er mich zum Tor.
Ich wollte mich schon lautstark beschweren - da stolperte ich über einen Hund. Vaenris hielt mich fest, daß ich nicht hinfiel, doch er ließ mir keine Zeit, mich bei dem Hund oder seinem Herrn zu entschuldigen. »Paß auf, wo du hintrittst«, knurrte er und zog mich weiter.
Aber das war leichter gesagt als getan. Meine Beine wollten anders als ich. Eigentlich wollten sie gar nicht. Dafür wollte meine Blase um so mehr. Und mein Kopf… »Ich bin nicht betrunken«, sagte ich vorsorglich, bevor Vaenris - oder irgend ein Teil meines Körpers - auf dumme Gedanken kommen konnte. »Ich hab aufgepaßt.«
»Ja, Byron«, sagte Vaenris. »Hast ja Recht. Aber komm jetzt.«
Ich stolperte auf der Treppe, knallte gegen eine Säule, fiel über meine Füße, und zunehmend dämmerte es mir, daß ich vielleicht doch nicht Recht hatte, aber solange Vaenris das nicht merkte -
»Wo gehen wir denn hin?« fragte ich verwirrt. »Wir gehen hoch - die Schatzkammer ist doch unten…«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Vaenris geduldig. »Das stimmt schon alles.« Und mit diesen Worten schob er mich in mein Zimmer. Niemand war da. Kein Sybald. Kein Gesandter.
»Was ist los?« fragte ich. »Wo sind jetzt -«
»Also gut.« Vaenris lachte grimmig. »Ich habe dich angelogen. Aber mach dir nichts draus - morgen kannst du dich daran ohnehin nicht mehr erinnern. Und ich hätte dich sonst nie da wegbekommen. Wenn du mich fragst, die Tarells haben eine Portion Prügel verdient, jeder einzelne von denen - aber die geben sich nicht mit Leuten wie mir ab, also wird das wohl nichts mit der Schlägerei.«
Ich war sauer. Er hatte mich angelogen, er sprach schlecht von meinen Freuden - aber als ich ihm das sagen wollte, drückte er mich aufs Bett.
»Halt den Mund, Byron. Du bist ein Dummkopf - merkst nicht, wie die dich nach aller Regel der Kunst abfüllen und das auch noch witzig finden! Meinst du, du hast schon gewonnen und alles hinter dir? In ein paar Stunden ist das Ritual, und ich muß dafür Sorgen, daß du dann wieder auf den Beinen bist.« Während er sprach, zog er mir die Stiefel aus. »Ich versuch, das Ganze meinem Vater zu erklären, der hätte dir da mehr zugetraut, glaub mir das - aber du schläfst jetzt erst mal.«
Ehe ich mich versah, hatte ich nichts mehr an als mein Lendentuch und lag im Bett. Und mußte auch zugeben, daß ich irgendwie müde war. Ziemlich müde, und ziemlich zufrieden.
»Schlaf gut, Byron«, sagte Vaenris, ehe er die Tür zuzog. »Du hast es nötig. Ach, und noch was -«
»Hm?« fragte ich zurück.
»Hast dich gut geschlagen«, sagte Vaenris. Und dann schlief ich.

Ich wußte nicht, wie lang ich geschlafen hatte, aber ein paar Stunden werden es wohl gewesen sein - eigentlich genug, sollte man meinen, aber ich fühlte mich nicht so. Kein Bißchen ausgeschlafen, und noch weniger erholt. Hatte ich mich zuvor nicht hinlegen mögen, wollte ich jetzt alles, außer aufstehen. Doch es war die Stunde meiner zweiten Prüfung, und so war es gut, daß Sybald und Vaenris anderer Meinung waren als ich.
»Hoch mit dir, du Ritter!« dröhnte mein Vetter mir direkt ins Ohr, während er mich hin und her schüttelte. »Zeit zum Schlafen ist vorbei!«
Ich grummelte etwas, das heißen sollte: »Ja, sofort, ich komme gleich«, in Wirklichkeit aber schon bedenklich nah an eine Lüge kam. Ich hatte wenig Lust, aufzustehen.
»Jetzt komm schon.« Vaenris packte mich bei Arm und Schulter und zog mich hoch. »Und ich sag noch, paß mit dem Bier auf! Aber der Herr Ritter will ja nicht auf mich hören… Das haben wir jetzt davon. Mein Vater meint, es ist besser, ich helfe dir mit dem Anziehen, als wenn einer von den Dienern dich so sieht.«
Ich gähnte und blinzelte. Und schluckte. Und setzte mich wieder auf die Bettkante. Das Zimmer drehte sich um mich, und da war es sinnvoller, wenn ich erst mal meine eigenen Füße auseinandersortierte. Dann sagte ich: »Mir ist schlecht.«
Vaenris lachte. »Das glaube ich dir wohl - aber das hilft nichts, aufstehen mußt du trotzdem. Oder sollen wir den königlichen Gesandten und das Tribunal hier in deine Kammer quetschen, nur damit der Herr Fadar im Bett bleiben kann?«
Er versuchte mir ein weites weißes Hemd überzustülpen, aber ich war ihm keine gute Hilfe dabei. Mir war wirklich schlecht, aber ich versuchte es auf die Angst zu schieben statt auf das Bier. Es gelang mir nicht gut. Das Bier hatte die besseren Argumente, und es wollte wieder hinaus.
Ungerührt zog Vaenris den Nachttopf unter dem Bett hervor und drückte ihn mir in die Finger. »Mach was du willst damit. Aber erwarte nicht, daß ich dir dabei helfe. Und wegbringen kannst du ihn hinterher auch allein.«
Zumindest gelang es mir noch zu erröten. Und so etwas zu stammeln wie: »Wartest du draußen, ja?«
Vaenris grinste. »Nichts lieber als das, glaub mir. Ich geh derweilen mal nachschauen, was mein alter Herr macht.«
Als er wiederkam, ging es mir unwesentlich besser, aber dafür war Sybald dabei, und der machte so ein ernstes, fast wütendes Gesicht, daß mir wieder angst, bang und flau wurde. Sybald blieb in der Tür stehen, sah mich an und schüttelte den Kopf. »Byron, Byron«, sagte er. »Da läßt man dich zwei Stunden lang aus den Augen…«
Ich schrumpfte kläglich unter seinem Blick zusammen. Ich erkannte das Zweifelnde darin - wie sollte man mir die Kolonie anvertrauen, wenn ich es noch nicht einmal unbeschadet vom Turnier bis zum Löwenkelch schaffte?
Doch dann verzog ein Lächeln Sybalds Züge. »Jungen sind Jungen«, sagte er. »Und ich kann dir ausrichten, daß du Marlon Tarell über alle Maßen beeindruckt hast - ich frage mich nur, womit. Er soll noch Ärger bekommen für das, was er mit dir angestellt hast - aber dazu kannst du ihn morgen selbst zur Rede stellen. Das ist Herzogensache.«
Ich mußte selbst fast lachen bei der Vorstellung. Von mir hatte Marlon keinen Ärger zu erwarten - nicht für etwas, das meine eigene Schuld war. Aber das Lachen verging mir, als Vaenris wieder versuchte, mich auf meine Füße zu stellen, und ich dabei beinahe umfiel, hätte mein Vetter mich nicht festgehalten. »Ich…«, begann ich und brach ab, weil ich nicht wirklich wußte, was ich sagen sollte. »Es tut mir leid«, war dann wohl die beste Wahl.
»Wir haben nicht die Zeit, dich vernünftig auszunüchtern«, sagte Sybald. »Aber ich habe hier etwas. Es wird dir nicht schmecken, aber wir haben keine andere Wahl.« Er zog etwas aus der Tasche, das eine Phiole sein mochte - etwas kleines, das er zwischen zwei Fingern hielt und das ich nicht genau erkennen konnte.
Aber Vaenris stöhnte auf. »Ist das - das ist doch nicht etwa…?« Er schüttelte sich.
»Ebendas.« Sybald nickte, und ich muß sagen, er sah dabei einigermaßen zufrieden aus. »Mach den Mund auf, Byron. Strafe muß sein. Und vielleicht tröstet es dich, daß auch Vaenris schon genau weiß, was das ist?«
Nein, das tröstete mich nicht. Und im nächsten Moment war auch in mir gar kein Gedanke für Trost mehr übrig. Sybald träufelte mir etwas auf die Zunge, so abgrundtief bitter, daß ich hustete und röchelte und grunzte. Es brannte sich in meinen Mund ein. Ich wollte nach Luft schnappen, aber da packte mich Sybald mit einer Kraft, die wieder daran erinnerte, daß er selbst ein großer Kämpfer war, von hinten und hielt mir den Mund zu. Ich konnte nicht einmal mehr schlucken, geschweige denn alles wieder ausspucken, was mein Körper wohl am liebsten wollte. Alles was ich konnte war winseln und die Augen verdrehen. Der Rest meines Körpers war wie gelähmt, bis auf ein unkontrollierbares Zittern. An Sybalds Daumen vorbei versuchte ich durch die Nase zu atmen und betete, daß er mich wieder losließ. Als er es endlich tat, sackte ich hilflos zu Boden.
»Es tut mir leid, Byron«, sagte Sybald. »Das ist ein Gift, daß ich nur ungern nutze. Aber wie gesagt, du bist nicht der Erste, der es braucht. Versuch einmal, ob du allein aufstehen kannst.«
Ich gehorchte und stellte zu meinem großen Erstaunen fest, daß ich das tatsächlich konnte. Mein Herz raste so sehr, daß ich meinte, mein Hemd müsse davon flattern, aber meine Beine trugen mich wieder, und mir war auch nicht mehr schlecht. Nur der bittere Geschmack in meinem Mund blieb, egal wie sehr ich auch schlucken mochte. Ich atmete tief durch, hoffte, daß sich mein Herz schnell wieder beruhigen mochte, und sagte: »Danke.«
»Bedank dich nicht zu früh«, erwiderte Sybald. Ich sah Vaenris vehement nicken. »Das wirkt nur ein oder zwei Stunden, danach geht es dir schlimmer als vorher. Aber in zwei Stunden hast du das Ritual und alles hinter dir.« Sybald schob die Phiole zurück in seine Tasche, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, daß sie wirklich gut verschlossen war. »Und jetzt«, sagte er dann, »wasch dir die Nase und laß dir von Vaenris in die Stiefel helfen. Im Rittersaal erwartet dich der Löwenkelch.«

Wie ich in den Rittersaal kam, weiß ich kaum. Sicher ging ich auf eigenen Füßen - was eine deutliche Verbesserung war - aber ich merkte es kaum. Ich war an der Tür - ich war an der Ecke - ich war an der Treppe - als gebe es dazwischen nichts. Als blinzele ich die Welt an und aus. In meinen Ohren pochte und dröhnte es. Mein Herz wollte keine Ruhe geben. Ich war aufgeregte als jemals zuvor im Leben. Aber Angst hatte ich keine mehr.
Sybald ging vor mir. Ich habe noch genau seinen weißen Umgang vor Augen, seine schmalen Schultern, sein graues Haar - in dem dunklen Gang erschien er mir fast wie ein Geist. Es brannten keine Fackeln, nur der Mond tat sein Bestes, um die Mitternacht zu erhellen. Ob auch Vaenris mit uns ging, kann ich kaum sagen, aber es muß wohl so gewesen sein, denn am Ende trat er mit uns in den Rittersaal. Dann nickte er mir noch einmal zu und setzte sich ins Publikum.
Es waren viele Männer gekommen - nicht so viele wie zum Turnier, denn nicht jeder durfte das Ritual sehen, aber jeder Platz im Saal war besetzt. Es war eine dunkle Masse von Menschen, denn nur an der Kopfwand brannten zwei Fackeln, da, wo ich stehen sollte.
Sybald durchschritt wortlos die Mitte des Saals, folgte den hellen Steinfliesen, die das Publikum in zwei Hälften teilten, und ebenso geisterhaft folgte ich ihm. Ich hörte ein Raunen und Tuscheln aus dem Publikum. Niemand jubelte oder klatschte. Die Fackeln erwarteten uns, und das Tribunal. Der königliche Gesandte saß dort, und die beiden alten Ritter, die an anderen Tagen hier mit meinem Onkel Gericht gehalten hatten, und noch ein Mann, aber sein Gesicht war im Schatten, und sein Name fiel mir nicht ein. Ein verdienter Ritter war es jedenfalls. Der Platz in ihrer Mitte war frei - Sybald sollte dem Tribunal vorstehen.
Ich sah auch Marlon Tarell im Publikum, er saß in der ersten Reihe, und als ich an ihm vorbeiging, nahm er meine Hand und drückte sie. »Viel Glück«, sagte er leise, und in diesem Moment fiel mir Vaenris Glückbringer wieder ein, und ich dachte an Savenn und war froh und zuversichtlich. Und dann sah ich den Löwenkelch.
Er stand auf einem kleinen Tisch vor den Sitzen des Tribunals, und auch wenn er mit einem hellen Tuch abgedeckt war, sah er mich doch direkt an, erwartungsvoll und lauernd. Ich schluckte. Wenn ich mich jetzt nicht einschüchtern ließ, hatte ich es überstanden, und es gab nichts mehr, was ich noch fürchten mußte.
»Stell dich dorthin«, sagte Sybald leise und zeigte auf das Podest unter den beiden Fackeln. Ich nickte und gehorchte, und dann stand ich da, wo sonst die Angeklagten standen, und Sybald nahm seinen Platz bei den Richtern ein.
Einen Moment lang herrschte gespanntes Schweigen. Ein Mann im Publikum hustete, und ich kämpfte damit, ruhig zu stehen. Meine Hände und Füße kribbelten. Ich wollte, daß die Zeremonie vorüberging, oder noch besser, daß sie schon vorüberwar - mein Mund war trocken, meine Haarwurzeln brannten, und alle Leute starrten mich an.
Sybald sollte mich erlösen. »Byron Fadar«, sagte er laut, seine Stimme wieder so ruhig und bestimmt wie immer, wenn er nicht als Onkel, sondern als Regent sprach, »du hast an diesem Tag einen großen Kampfgeist gezeigt, und dafür ehren wir dich. Doch ein Ritter zu sein erfordert mehr als ein scharfes Schwert und starke Arme. Er ist den Tugenden verpflichtet - Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Besonnenheit und Wahrheit. Bist du bereit, dich deiner zweiten Prüfung zu stellen, die über dein Schicksal entscheiden soll?«
Ich konnte nur nicken. Mein Mund klebte zusammen.
»Antworte, Byron! Bist du bereit?«
»Ich bin bereit«, hörte ich mich sagen und wußte nicht, wie ich es hervorbrachte.
»Unsere Gesetze verlangen«, redete Sybald nun weiter, »daß ein Mann, der ein Ritter werden will, sich dem Tribunal der Wahrheit stellt. Nur wir fünf werden die Fragen stellen, aber jeder hier im Saal soll die Antworten hören, und jedes Geheimnis, das in dieser Nacht bekannt wird, soll fortan keines mehr sein. Nur wer ein reines Herz hat und ein reines Gewissen darf den Namen und das Wappen eines Ritters führen. Doch wer in dieser Prüfung versagt, wer sich vor dem Tribunal als Schuft offenbart, der soll in der ganzen Welt bekannt sein als ein Schuft. So frage ich dich noch einmal, Byron Fadar: Bist du bereit?«
Ich schluckte und legte eine Hand auf meine Brust, um mein pochendes Herz zu beruhigen, und da fühlten meine Finger Savenns Anhänger und dem Hemd, und plötzlich war ich wieder ganz sicher, und alles würde gut gehen. »Ja«, sagte ich laut. »Ja, ich bin bereit.«
Die fünf Männer erhoben sich und stellten sich im Halbkreis um den Tisch, auf dem der Löwenkelch stand. Dann zog Sybald das Tuch von dem Kelch, hob ihn hoch und zeigte ihn erst mir, dann den Zuschauern. »So empfange nun die Wahrheit aus diesem Kelch«, rief er.
Die Tür öffnete sich, und zwei Männer in blauen Roben traten ein, Gottesdiener. Der eine trug in seinen Händen einen Krug, der andere eine kleine Flasche. Sie stellten beides auf dem Tisch ab, verneigten sich vor Sybald, verneigten sich vor mir, und gingen wieder. Mit ruhiger Anspannung verfolgte ich, wie Sybald erst den Kelch aus dem Krug füllte und dann, langsam, den Inhalt des Fläschchens hineintropfen ließ. Ich hörte, wie die Männer im Saal den Atem anhielten.
Der Kelch schien sich zu verändern. Es war ein Glänzen um ihn, als erwachten die vier Löwen um seinen Stiel zum Leben, als leuchte er von innen heraus. Aber das konnte auch am Licht liegen, und an den Schatten.
Ich sammelte mich. Allen Mut. Alle Kraft. Alles Selbstbewußtsein. Und alle Sturheit, die ich aufbringen konnte. Ich mußte zeigen, daß ich stärker war als alles, was in dem Kelch sein mochte. Das war ich Jarvis schuldig. Ich dachte an Jarvis, und ich dachte an mein Versprechen, als Sybald mir den Kelch reichte und ich ihn zum Munde führte. Der Geruch des Branntweins stach mir in der Nase. Das war nichts, was ich sonst freiwillig getrunken hätte, aber jetzt mußte ich den Kelch in einem Zug leeren, ohne Stutzen, ohne Husten - ein wahrer Ritter durfte keine Schwäche zeigen. Ich verneigte mich kurz. Auf dich, Jarvis, sagte ich im Geiste. Und dann, todesmutig, trank ich.
Der Geschmack war noch schlimmer, als ich erwartet hatte, und der Kelch größer. Ich kniff die Augen zu und schluckte so schnell ich konnte, ich wollte es hinter mich bringen, auch wenn es mir fast den Magen umdrehte, ich wollte -
Und dann weiß ich nichts mehr.

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