Und so wuchsen wir gemeinsam
auf, drei Kinder, wo eigentlich vier hätten sein
sollen - oder nur zwei. Jarvis fehlte mir immer noch, aber es
vergingen ganze Tage, an denen ich nicht oder nur wenig an ihn
dachte. Die Hauptsache war doch, daß er lebte,
daß es ihm gut ging, daß er
glücklich sein würde. Ich glaubte
fest daran, daß wir uns bald wiedersehen
würden - daß Jarvis
zurückkehren würde und kein Dieb
sein, sondern ein Ritter. Aber im Grunde meines Herzens kannte ich
Jarvis gut genug, um zu wissen, daß er so schnell
nicht nachgab, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Wir
waren beide stur, jeder auf seine Weise und doch
ähnlich.
Ich wurde älter, doch der Jarvis in meiner
Erinnerung war immer zwölf Jahre alt, und er wurde
immer netter - ich vergaß, an was ich mich nicht
erinnern wollte, daß wir uns auch gestritten hatten
oder wie wir um die Zuneigung unserer Mutter
kämpften. Das waren die unwichtigen Sachen, und sie
verblaßten, doch Jarvis verblaßte
nicht.
Anfangs machte ich mir um alles Sorgen - auch um Sybald und seine
Kinder. Ebenso wie Jarvis als Dieb Schande über die
Familie bringen konnte, fürchtete ich um das Ansehen
meines Onkels. Ich bewunderte ihn dafür, wie er sich
zu seinen Kindern bekannte, aber ich wußte,
daß dies nicht jeder so sah. Konnte man Sybald
zwingen, als Protektor abzudanken? Und wer sollte es dann tun?
Außer ihm hatte ich keine
Verwandten…
»Denk nicht darüber
nach«, sagte Sybald, als ich ihn vorsichtig darauf
ansprach. »Als ich Protektor wurde, waren Vaenris und
Savenn bereits auf Welt, und war ich deswegen ein schlechterer
Verwalter?«
Ich schüttelte den Kopf, und Sybald sollte recht
behalten - mit der Zeit verebbten die Stimmen, die sich
über meinen Onkel das Maul zerrissen. Sybald
bemühte sich, keine Miene zu verziehen und
über den Dingen zu stehen, wie er es immer tat. Er
wollte nicht, daß irgend jemand seine Kinder Bastarde
schimpfte, und um das zu verhindern, sorgte für die
beste Erziehung, welche die beiden bekommen konnten. Wie ich wurde
Vaenris im Sinne der Rittertugenden erzogen - denn es kam nicht
darauf an, ob man nun auch wirklich ein Ritter werden konnte oder
nicht, solange man aus einem reinen Herzen heraus das Richtige tat.
Und so lernte selbst Savenn mit uns über
Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.
Wir verstanden uns gut, und irgendwann hörte ich auf,
die beiden andauernd mit Jarvis zu vergleichen. Sie
mußten ihm nicht ähneln. Aber es freute
mich, daß sie sich für ihn
interessierten.
»Heißt das, es gibt zwei von deiner
Sorte?« fragte Vaenris einmal. »Zwillinge
sind doch genau gleich, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Solche Fragen war ich
gewöhnt. »Er ist mir
ähnlich«, antwortete ich.
»Er ist so groß wie ich und sieht auch
beinahe so aus wie ich, aber er ist
klüger.«
Vaenris lachte. »Dümmer ist ja auch
wohl nicht möglich.«
Ich ging nicht darauf ein. Aber Savenn sagte leise,
während sie keinen von uns anblickte:
»Einen kenne ich.«
Jetzt mußte ich grinsen. So war Savenn - immer leise,
immer etwas schüchtern, aber wenn sie etwas sagte,
sollte man besser gut hinhören, denn sie hatte
meistens Recht. Sogar Vaenris hörte auf sie, und er
wollte eigentlich nie auf jemanden hören.
Vaenris war ein bockiger, störrischer Junge, weniger
verstockt als mehr halsstarrig, aber er versicherte mir, es
läge nur an seinem Alter, und ich
würde auf die Dauer genauso werden. Er mochte Recht
haben, er war schon im Stimmbruch, als ich ihn kennenlernte, aber
dennoch wollte ich selbst nicht so werden. Zumindest
hörte ich auf Sybald, und daran sollte sich nichts
ändern.
Aber das Erstaunliche an Vaenris war, daß er, wenn er
darauf bestand, seinen Kopf durchzusetzen, eigentlich immer Recht
behielt. Er grinste dann und meinte so etwas wie »Sag
ich doch«, und sprach danach nicht mehr
darüber.
Er war auch ein guter Kämpfer, oder zumindest
hätte er einer sein können,
wäre er mit mehr Fleiß bei der Sache
gewesen. Als Kind hatte er gelernt zu kämpfen, wie
man auf der Straße kämpfte, und dies
vermischte er mit der Schwertkunst, die Sybald uns lehren
ließ - schnell, stark, aber ohne sich um irgendwelche
Regeln zu scheren. Es machte ihm Spaß, er
kämpfte gern, aber er sah wohl nicht ein, warum er
wegen eines dummen alten Kodex’ seine
Gewinnchancen schmälern sollte. Ich mochte unsere
Ãœbungskämpfe sehr, denn ich konnte
seine Bewegungen nicht vorhersehen, und so zwang Vaenris mich, mehr
nachzudenken. Zumindest im Kampf sollte mich niemand
dämlich nennen können.
Savenn sah uns manchmal beim Trainieren zu. Ich weiß
nicht, ob es sie wirklich interessierte - nicht das
Kämpfen sollte sie erlernen, sondern die Aufgaben
einer Frau - aber oft saß sie am Rand des
Ãœbungsplatz im Schatten, eine Handarbeit auf den
Knien. Ich wußte nicht, was sonst noch zu ihren
Pflichten gehörte - vielleicht
Haushaltsführung, oder so etwas. Die
Hände einer Rittersfrau sollten immer in Bewegung
sein, niemals müßig, und so hatte
Savenn immer ihr Stickkörbchen dabei, selbst
während der Unterrichtsstunden bei Sybald. Wenn sie
uns beim Kämpfen zusah, schien sie nie zu uns
hinüberzublicken, nur auf ihren Stickrahmen. Aber
dennoch beobachtete sie uns genau. Vielleicht wollte sie auch nur
in der Nähe ihres Bruders sein. Oder vielleicht in
meiner?
Zu unserer Kampfausbildung gehörte nicht nur der
Umgang mit einem Schwert. Zuallererst war da die Kunst, den eigenen
Körper zu beherrschen und das Gleichgewicht zu finden.
Im Ãœbungshof stand ein hölzerner Balken,
zwanzig Schritt lang, aufgebockt in einer Höhe von
fünf Fuß. Als Kinder waren wir nur
darauf herumgeklettert und balanciert und hatten uns vorgestellt,
was für ein riesiger Baum das wohl gewesen sein
mußte. Unser Großvater - der Vater
unseres Vaters, wir hatten ihn nie kennengelernt - hatte den Baum
vor mehr als dreißig Jahren aus der Alten Heimat
bringen lassen, auf einem langen Schiff. Der Kapitän
hat wohl große Augen gemacht und gefragt:
»Was wollt ihr Landratten denn mit dem
Mast?« Aber das war auch ein Seemann, kein Ritter. Wir
jedenfalls nannten das gute Stück ehrfurchtsvoll
den Baum. Und er war nicht nur zum Balancieren gedacht,
sondern auch zum Kämpfen.
Wir standen uns gegenüber, Holzschwert und Schild
in der Hand, und unsere Ziele waren klar: Obenbleiben,
während der andere hinunterfiel. Unten war Sand, und
es war auch nicht wirklich hoch - man mußte auch ohne
Leiter hinaufkommen können - aber es war keine Freude,
hinunterzufallen. Ich war gut darin. Leider. Ich konnte gut
Balancieren, wenn ich mit den Armen das Gleichgewicht halten
durfte. Auch auf dem Boden war es kein Problem, da konnte ich sogar
über ein schmales Seil laufen. Aber
fünf Fuß über dem Boden
- da wurde mir schwindelig, selbst wenn ich nicht nach unten
blickte.
Gerade darum versuchte ich es verbissen, Tag für
Tag, und kletterte jedesmal aufs Neue wieder hinauf, und freute
mich jedesmal, wenn es mir gelang, den ersten Schlagabtausch heile
zu überstehen. Ein Treffer mit dem
Ãœbungsschwert tat kaum weh, aber selbst wenn ich ihn
mit dem Schild abfing, konnte der Schlag reichen, um mich von den
Füßen zu holen.
»Hast du es schon einmal barfuß
versucht?« fragte Vaenris.
Ich schüttelte den Kopf und blickte auf meine
Stiefel hinunter. Ich war stolz auf meine Stiefel. Pagen trugen
Schuhe, aber nun waren wir Knappen und durften Stiefel tragen wie
die Ritter.
»Versuch mal«, sagte Vaenris.
»Hilft vielleicht. Der Baum ist rund, deine
Stiefelsohlen sind flach, aber deine
Füße können sich anpassen.
Du kannst dich mit den Zehen festhalten.«
»Barfuß?« fragte ich noch
einmal. Mir war eingebleut worden, niemals, unter keinen
Umständen, barfuß zu laufen.
Vaenris lachte. »Glaubst du, ich hatte Schuhe?
Ich bin mein Leben lang barfuß gelaufen, bis ich
hierherkam.« Nun trug auch er Stiefel. Und war stolz
darauf.
»Also gut«, sagte ich.
»Wenn du meinst.« Ich kam selbst nicht
auf solche Gedanken, aber ausprobieren konnte ich alles. Mehr als
herunterfallen konnte ich auch dabei kaum.
Ich zog mich nach oben, Schwert und Schild auf dem
Rücken, um die Arme frei zu haben, und oben
angekommen setzte ich mich auf den Balken und zog meine Stiefel
aus. Dann ließ ich sie in den Sand unter mir fallen
und richtete mich vorsichtig auf. »Worauf wartest
du?« rief ich zu Vaenris hinunter. »Ich
bin soweit.«
Vaenris ließ nicht auf sich warten. Er stemmte sich
hoch, machte Schwert und Schild bereit, doch er ließ
seine Stiefel an. Mit der Schwertspitze deutete ich auf seine
Füße. Er schüttelte den
Kopf.
»Ich wollte dir einen Vorteil geben. Jetzt nutz ihn
auch.«
»Gut«, sagte ich. Das Holz unter meinen
Füßen fühlte sich
seltsam an: Es war warm, doch nicht unangenehm, wenn man bedachte,
daß den ganzen Tag lang die Sonne darauf gestanden
hatte. Sie hatte das Holz ausgedörrt und ausgeblichen,
aber mehr noch als die Sonne hatten die
Füße von dreißig Jahren
Knappenschaft das Holz verändert: Sie hatten seine
Oberfläche poliert, glattgetänzelt.
Ich versuchte Halt zu finden, als ich auf Vaenris zubalancierte,
drückte meine Zehen nach unten, die Fersen nach
außen, und vielleicht hätte ich mich
sogar daran gewöhnen können -
wäre da nicht Vaenris gewesen, und die Schwerter in
unseren Händen. Ich drehte mich zur Seite und
riß meinen Schild hoch, um Vaenris damit von der
Stange zu stoßen - und in dem Moment
verließ mich mein Gleichgewicht.
Ich fiel, und landete mit einem Aufschrei. Ich war schon oft
gefallen, auch aus größeren
Höhen - ich konnte mich abrollen oder weich in den
Knien landen, und verletzt hatte ich mich noch nie dabei. Aber
jetzt konnte ich einen Schmerzensschrei nicht
unterdrücken.
Im gleichen Moment landete Vaenris neben mir, und Savenn rannte,
den Korb in der einen Hand, den Rock mit der anderen gerefft, zu
uns hin. »Was ist passiert?« rief sie.
»Bist du verletzt?«
Ich biß mir auf die Zunge, verlegen, weil ich
geschrieen hatte. Vaenris packte mich und zog mich hoch, lud mich
auf den Rücken und trug mich zum Rand. Ich selbst
konnte nicht aufstehen. Ich hatte den Sand vergessen. Es war
Nachmittag, und die Sonne hatte seit Stunden darauf gestanden. Er
war glühend heiß. Unter meinen
Füßen bildeten sich sofort
große Blasen.
Vaenris erkannte, was geschehen war. »Hol Wasser,
schnell!« rief er Savenn zu, und die kehrte sofort um
und rannte zur Zisterne. Vaenris schimpfte und fluchte, aber er
meinte nicht mich damit. Zu mir sagte er: »Das tut mir
leid, das wollte ich nicht - ich wußte nicht,
daß dir die Hitze soviel ausmachen
würde…«
Ich glaubte ihm. Die Eingeborenen liefen barfuß, ohne
daß er Sand sie verbrannte, und so kannte Vaenris es
seit seiner Kindheit. Aber ich hätte es
wissen müssen, und das ärgerte
mich.
»Hier ist Wasser«, rief Savenn und hatte
einen Krug mitgebracht. Vaenris packte ihn und goß
etwas von dem Wasser über meine
Füße. Es linderte den Schmerz ein
wenig, für den Augenblick. »Ich gehe
schnell und sage Vater Bescheid«, sagte sie dann.
»Du bleibst hier!« fuhr Vaenris sie an.
Im nächsten Moment setzte er, als er ihr banges
Gesicht sah, versöhnlich hinterher: »Wenn
er davon erfährt, bekommt Byron Ärger
für etwas, das meine Schuld ist.« Das
sah Savenn ein, und sie nickte. »Kannst du deine
Stiefel wieder anziehen?« fragte Vaenris mich.
Ich sollte schon ja sagen, aber meine
Füße sagten nein.
»Wir müssen ihn
verbinden.« Savenn begann, in ihrem
Körbchen zu kramen. Vaenris lachte sie aus.
»Wie das? Mit Stickzeug?«
»Ich habe Binden«, sagte Savenn leise.
»Falls einem von euch etwas passiert.«
Sie hielt uns ihren Korb hin. Nur obenauf lag eine Handarbeit.
Darunter kamen Verbände zum Vorschein. Darum also
sah sie uns immer beim Kämpfen zu!
»Erst müssen die Blasen
weg!« sagte Vaenris. »Hier, halt mal
seine Hand!«
Ich wollte schon erwidern, das sei nicht nötig bei
mir, ich würde schon nicht schreien, auch wenn mir
mulmig wurde, als Vaenris seinen Dolch zog. Doch da hatte Savenn
schon meine Hand genommen und hielt sie fest in ihren beiden
Händen, die warm waren und viel kleiner als meine,
daß ich mich wie ein ungeschickter Riese
fühlen mußte.
Als Vaenris mit der Dolchspitze die Blasen meines rechten
Fußes aufschnitt, biß ich mir auf die
Zunge, um nicht doch vor Schmerz zu brüllen, aber
Savenn schrie auf. Erschrocken ließ ich ihre Hand los.
Ich hatte ihre Finger arg gequetscht.
Das Wasser lief aus den Blasen. Es tat scheußlich
weh.
»Nimm du seine Hand«, sagte Savenn.
»Du bist zu grob.«
Und während Vaenris an mir die Finger seiner
Schwester rächte, öffnete Savenn mir
die Blasen des linken Fußes vorsichtig mit einer
Nadel. Ich kann nicht sagen, was denn nun angenehmer war - die
Nadel tat weit weniger weh, aber Savenns Hand gefiel mir besser als
die von Vaenris.
Dann verband mir Savenn die Füße, und
ich zog meine Stiefel darüber und schaffte es sogar
bis in mein Zimmer damit. Sybald hat es nie erfahren, und es war
mir auch eine Lehre, niemals mehr barfuß zu
laufen.
Vor allem bin ich danach nie wieder vom Baum gefallen. Kein
Schwindel war so stark, als daß er die Schrecken des
heißen Sandes übertroffen
hätte. Und so blieb ich oben, aus Angst.
Am anderen Tag ging es mir
seltsam. Mir war abwechselnd heiß und kalt, mein Herz
raste, mein Atem stockte. Mein Körper gehorchte mir
nicht mehr. Ich zitterte und schwitzte gleichzeitig und schnappte
nach Luft dabei. Ich tat mein Bestes, um es zu verheimlichen, aber
immer wieder war es, als zöge etwas meine Wangen mit
Gewalt nach außen und zwang mich zu grinsen.
Inständig hoffte ich, Sybald möge
nichts merken. Wenn ich mir durch meine Verbrennungen ein Fieber
eingefangen hatte, so war das meine eigene Schuld.
Und wirklich schien Sybald nichts aufzufallen. Aber Vaenris
entging es nicht, und nachdem Savenn mit sanften
kühlen Fingern meine Verbände
gewechselt hatte, sprach er mich darauf an.
»Sag mal, geht es dir nicht gut?«
Ich nickte, wußte, daß er mich nicht
verraten würde. Seit ich denken konnte, war ich
niemals krank gewesen, aber jedes Jahr im Spätsommer
kam das Fieber und raffte viele aus den Familien der Siedler dahin,
und einige der Eingeborenen. »Vielleicht habe ich das
Fieber?« fragte ich besorgt. Ich traute mich nicht, in
einen Spiegel zu blicken. War ich nun bleich wie meine Mutter, ehe
sie starb?
Vaenris fühlte meine Stirn. »Kommst
mir nicht fiebrig vor«, sagte er.
In dem Moment kam Savenn herein. In einem Tontopf trug sie eine
stachelige grüne Pflanze.
»Hier«, sagte sie, »das soll
helfen bei Verbrennungen, ich werde die Wunden damit
einreiben…«
Ich begann zu zittern.
Vaenris hob eine Hand. »Nicht jetzt, laß
uns noch einen Moment in Ruhe, ja?« Savenn stellte
ihren Blumentopf auf den Boden und ging. Vaenris folgte ihr zur
Tür, als wolle er sichergehen, daß sie
auch wirklich ging und nicht etwa lauschte, und dann
schoß er zu mir, der ich auf dem Bett hockte und
wartete. »Ich kann dir sagen, was mit dir
ist!« zischte er aufgebracht. »Du liebst
meine Schwester!« Einen Moment lang sah er aus, als
wolle er mich schlagen.
»Das stimmt nicht«, beeilte ich mich zu
sagen. »Also, nicht so, wie du denkst,
heißt das…« Wieder
zwang mich etwas zu grinsen.
»Lüg mich nicht an!«
schnaubte Vaenris. »Ich sehe es doch!«
Mit dem Zeigerfinger deutete er dorthin, wo ich nicht hinsehen
durfte.
Ich errötete und begann, wieder etwas zu stammeln,
das nicht einmal für mich wirklich Sinn ergab.
»Du wirst deine Finger von ihr lassen! Ich lasse
nicht zu, daß du etwas mit ihr
anfängst!«
Ich versicherte ihm, nichts in der Art hätte ich
vor, und wie er nur auf die Idee kommen konnte, daß
ich… und so weiter. Aber gleichzeitig ruhten
meine Augen wie gebannt auf der stachligen Pflanze, und ich
mußte mir immerzu vorstellen, wie Savenn mir mit den
fleischigen Blättern über die Haut
strich. Mein Körper strafte meine Worte
Lügen. Vaenris wußte es. Er sagte
nichts mehr, sondern ohrfeigte mich nur und ging. Es machte keinen
Unterschied. Mein Gesicht brannte auch so.
Als Savenn zurückkam, brachte ich es nicht fertig,
sie anzusehen. Sie merkte es sofort.
»Byron«, sagte sie. »Was ist
los?«
Ich antwortete nicht. Ich wollte, daß sie
weiterfragte, ich wollte ihre Stimme noch einmal
hören, ihre süße Stimme.
Ohnehin hätte ich nicht antworten
können - ich wußte selbst nicht, was und
wie mir geschah. Ihre Hände berührten
meine Haut -
»Ich muß… ich
muß austreten«, stammelte ich und
versuchte zu fliehen, wo Flucht nicht möglich war.
»Byron«, sagte sie. »Was
ist denn?«
Unsere Augen berührten sich, und dann unsere Augen,
und dann unsere Lippen. Niemand hatte uns je gesagt, was ein
Kuß war, aber in unseren Körpern steckte
ein Wissen, das so alt war wie die Menschheit. Ein
Kuß. Mit geschlossenen Augen sah ich zu, wie die Welt
für einen Moment in ihrem Lauf verharrte, wie Sonne
und Mond stehenblieben, und zu uns herunterblickten. Sonne und Mond
und Savenn und ich. Er konnte nicht lang sein, dieser
Kuß, und währte doch ewig.
Dann ließen wir einander los, unsere
Münder, unsere Hände, nur unsere
Augen nicht, und starrten uns entsetzt an. Wie das, und was das,
und alles. Und dann bemerkte ich aus den Augenwinkeln,
daß Savenn vergessen hatte, die Tür
hinter sich zuzumachen. Richtig zu. Sie war nur einen Spaltweit
auf.
Hinter diesem Spalt stand mein Onkel Sybald.
Er sprach kein Wort, als er Savenn fortführte. Als
er Savenn fortnahm. Ein letztes Mal kreuzte sich mein Blick mit
ihrem.
Dann war sie fort, und ich sah sie niemals wieder.
Von den Zinnen sah ich, wie das
Schiff ablegte, doch sie sah ich nicht an Bord. Von den Zinnen aus
hätte sie alles sein können, jeder
kleine weiße Fleck, der sich dort unten bewegte, und
ich suchte mir einen aus und stellte mir vor, daß sie
es war, doch es war nicht das Gleiche. Das Bild war fern und
verschwommen durch einen Tränenschleier. Ich weinte
und war froh, daß niemand da war, um es zu sehen. Ich
weinte wie an dem Tag, da ich Savenn das erste Mal sah. Ich weinte,
um niemals wieder zu weinen.
Es ist nicht für immer, sagte ich mir. Eines Tages
wird sie zurückkommen, und bis zu dem Tag warte ich.
Sybald hat nicht die Macht, um uns für immer zu
trennen. Und wieder. Und wieder.
Aber die Wahrheit war: Sie war fort, und Beten hatte auch bei
Jarvis nicht geholfen.
Sybald versuchte, mit mir darüber zu reden, aber
das versuchte er seit Tagen, und ich war taub gegen seine Worte.
Ich wollte keine Gelehrsamkeit, ich wollte nicht wissen, warum er
Savenn über das Meer schickte, bis in die Alte
Heimat. Ich wollte Savenn.
Was ich aber hörte, war Vaenris’
Zorn auf Sybald. Egal, wie dick die Wände auch sein
mochten, wie sehr ich meine Ohren auch vor Sybalds Worten
verschließen mochte - Vaenris’ Zorn
drang durchs ganze Haus. Wo ich verstockt schwieg,
brüllte er. Irgendwie beneidete ich ihn darum.
»Wie kannst du das tun? Wie kannst du sie
fortschicken? Hast du sie gefragt? Oder mich? Und sagst noch, du
tust ihr damit etwas Gutes?«
Dann mußte Sybald wohl etwas geantwortet haben, denn
Vaenris war für einen Moment still, ehe er rief:
»Byron? Wenn Byron an allem Schuld ist, warum schickst
du dann nicht ihn fort? Warum meine Schwester? Warum kann ich nicht
mit ihr gehen?«
Jetzt hätte ich Sybalds Antwort gerne
gehört, und die Worte aus seinem Mund,
daß ich Schuld sein sollte. Aber ich
hörte nichts mehr, nicht Sybald, und nicht
Vaenris.
Vaenris verschwand am Tag, bevor das Schiff ablegen sollte. Er
stürmte aus der Burg, ohne etwas mitzunehmen, als
wolle er noch am gleichen Abend wiederkommen, doch das tat er
nicht. Ich verstand ihn nicht - immerhin hatte Sybald ihm erlaubt,
dabeizusein, sich von Savenn zu verabschieden - all das, was ich
nicht durfte. Mich umschlossen die Mauern meines Zimmers, und ich
hatte mich noch nie so einsam darin gefühlt.
Und dann legte das Schiff ab, und Savenn war fort.
Es waren seltsame Tage, die ich mit Sybald allein verbrachte. Wir
sprachen kaum mehr als das Nötigste - Sybald glaubte,
er verstehe mich, aber ich wollte ihn nicht verstehen. Es war eine
bedrückende Zeit.
Dann, drei Tage später, als ich mit Sybald beim
Abendmahl saß, kehrte Vaenris zurück.
Er stand plötzlich in der Tür des
Speisesaals, der schon für vier immer schon viel zu
groß war.
»Ich bin wieder da«, sagte er. Und wie
er wieder da war - abgerissen und schmutzig wie ein Herumtreiber!
Sein Gesicht war rot und geschwollen von einer
Prügelei, oder von mehreren. Daß er es
wagte, seinem Vater so unter die Augen zu treten! Ich begann mich
für ihn zu schämen und wollte ihn
doch vor meinem Onkel in Schutz nehmen, als Sybald aufsprang und
auf ihn zustürzte. Er sagte nichts,
schloß ihn nur in die Arme, und drückte
ihn an sich.
Ich schwieg, blieb nur auf meinem Stuhl sitzen und stand nicht
auf. Irgendwie wußte ich, daß die beiden
in diesem Moment nicht gestört werden wollten. Und
daß Sybald nicht wollte, daß ich ihn
weinen sah.
Dann kamen die beiden zurück zur Tafel, und Sybald
schob Vaenris auf einen Stuhl direkt neben seinem und gab ihm
seinen Teller. Sybald hatte, genau wie ich, kaum etwas gegessen,
aber Vaenris langte zu, als habe er die letzten Tage
über nichts zu beißen bekommen.
»Ich hatte solche Angst«, sagte Sybald.
»Ich dachte schon, ich verliere euch
beide.«
»Das hättest du auch
beinahe«, sagte Vaenris mit vollem Mund.
»Aber die haben mich nicht auf das Schiff gelassen.
Ich wollte ja eigentlich nicht
wiederkommen…« Er griff quer
über den Tisch nach dem Wasserkrug,
»aber Savenn fehlt mir so oder so, und hier habe ich
ja zumindest noch so etwas wie einen Bruder.«
Ich schluckte. Jarvis war fort, Savenn war fort - es war gut,
daß zumindest Vaenris wieder da war.
»Glaubst du - es war meine Schuld?«
fragte ich leise.
Vaenris schüttelte den Kopf. »Ihre
doch genauso - das dumme Ding hatte sich doch auch in dich
verliebt. Jetzt können wir’s auch
nicht mehr ändern.« Sein Blick sagte
mir, daß wir uns noch einmal darüber
prügeln mußten. Das
änderte auch nichts. Aber danach konnte man immer
wieder von vorne anfangen.
Später ließ ich Sybald ausreden, warum
er Savenn in die Alte Heimat geschickt hatte - nicht um sie zu
bestrafen, und auch nicht mich. »Aber es ist nicht
gut, wenn ihr euch liebt«, sagte er. »Du
hättest sie niemals heiraten dürfen,
nicht nur, weil sie deine Base ist - sie ist nicht von deinem
Stand. Du bist der Erbe unserer Häuser, du
mußt eines Tages heiraten - und hättest
du dann Savenn weiterhin geliebt, wäre sie deine
Metze geworden. Das hat sie nicht verdient.«
Ich versicherte ihm, daß ich niemanden heiraten
wollte außer Savenn, und wenn ich sie nicht bekommen
konnte, dann sollte ich eben als der letzte Fadar sterben, und die
Kolonie sollte selbst sehen, was aus ihr
wurde…
Sybald schüttelte den kopf, belustigt und
beunruhigt zugleich. »In ein paar Jahren wirst du es
verstehen, Byron. Schwärmerei hat noch nie einen
Mann glücklich gemacht. Savenn ist ebenso stolz wie
klug - ich will nicht, daß sie an dir zerbricht. Die
Alte Heimat ist voller neuer Ideen - wir Ritter fahren auf allzu
eingefahrenen Pfaden. Vielleicht gibt es Besseres, das wir nicht
kennen? Wir beide sind Ritter, Byron, und wir werden nie etwas
anderes sein. Aber Savenns Blut ist Altes gemischt mit Neuem. Die
Alte Heimat soll ihre Kolonie sein.«
Ich blickte ihn an und versuchte seine Worte zu verstehen, ohne
dumme Fragen zu stellen. Ich begriff nicht, warum der Weg der
Ritter, Sybalds Weg, plötzlich nicht mehr der Richtige
sein sollte?
Dann verstand ich meinen Onkel so: Savenn war jetzt und hier nicht
mehr als ein Bastard, aber wenn sie in der Alten Heimat lernte,
wurde sie eine Dame. Dann kam sie zurück, und dann
gab es keinen Kodex mehr, der zwischen uns
stand… Ich lächelte.
»Sie kommt doch irgendwann wieder,
oder?« fragte ich leise.
Sybald nickte, und in seinen Augen war Hoffnung wie in meinen.
»Das hoffe ich«, sagte er.
»Das hoffe ich.«
Von dem Tag an wartete ich nicht mehr auf das Unheil.
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