Zweites Kapitel

The carriage held but just Ourselves - and Immortality
Emily Dickinson<</span>

Das Haus, in dem der Zauberer mit seinem Bruder lebte, war aus grauen Steinen erbaut, mit einem strohgedeckten Dach. Es flößte Schwinge Unbehagen ein, ohne daß sie hätte sagen können, warum. Ihre letzte - ihre einzige - Begegnung mit einem Zauberer lag schon lange zurück. Als Galfas damals in den Wald kam, lebten ihre Eltern noch, und sie selbst war ein kleines Mädchen. In erster Linie waren ihr seine ungewöhnlichen Gewänder, die weiten, flatternden Tücher, im Gedächtnis geblieben. Um die Zauberer war immer etwas Geheimnisvolles. An diesem Haus war nichts geheimnisvoll.
»Bist du sicher, daß wir hier richtig sind?« fragte sie Keil. »Vielleicht haben wir uns geirrt und hätten noch weiter nach Osten gehen müssen. Es kann nicht das richtige Haus sein!«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Keil. »Ich bin auch noch nie hier gewesen. Aber ich vertraue den Tieren. Wenn sie sagen, daß die Zauberer hier leben, dann wird es stimmen. Der Dachs hat uns zu genau diesem Haus geschickt. Warum sollte er sich irren? Und wenn es hier wirklich keine Zauberer gibt, dann können wir immer noch weiterziehen.«
»Und wenn hier Menschen sind?« fragte Schwinge.
»Dann sind es eben Menschen. Laß uns anklopfen.«
Natürlich hatte Keil Recht. Sie waren nicht den ganzen Weg gewandert, nur um dann beim Anblick des Hauses wieder umzukehren. Im Moment ruhten ihre ganzen Hoffnungen auf der Hilfe der Zauberer. Aber trotzdem … Was war, wenn sich die Zauberer auf die Seite der Menschen gestellt hatten? Wann hatten sie denn jemals den Alifwin geholfen? Seit den Kriegen gegen die Zwerge hatte niemand mehr einen Zauberer um Hilfe gebeten, denn der Verrat hatte sich tief in die Erinnerung eingebrannt. Auch nach vielen tausend Jahren saß die Enttäuschung immer noch tief.
Keil hob die Hand, um anzuklopfen, aber da wurde die Tür bereits geöffnet. Schwinge schrak zurück. Ihre Vorahnung hatte sie nicht getäuscht. Vor ihnen stand kein Zauber. Vor ihnen stand ein Mensch.
Wie von selbst umschlossen ihre Finger den Griff ihres Jagdmessers. Sie mußte nur noch zustoßen. Die Überraschung war auf ihrer Seite. Der Mensch hatte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Aber ihre Vernunft hielt sie zurück. Es war falsch, ihn sofort zu umzubringen. Vielleicht wußte er, was mit den Zauberern geschehen war, selbst wenn es bedeutete, daß sie mit ihm reden mußten. Das Klügste im Moment war ein schneller Rückzug. Hastig sprang sie zur Seite, lief hinter das Haus und wartete auf, den Barden. Wenn der Mensch ihnen folgte, hatten sie Grund genug, ihn zu töten.
Aber Keil kam nicht. Im Schutz einiger Büsche schlich Schwinge zurück. Sie hätte ihn nicht mit dem Menschen alleine lassen dürfen!
Keil stand unbewegt da und starrte den Menschen an. Doch der streckte, statt anzugreifen, nur lächelnd eine Hand zum Gruß aus. Vielleicht hatte er noch nicht gemerkt, daß er es mit Alifwin zu tun hatte.
»Sei gegrüßt, mein Freund«, sagte er. »Flieht deine Begleiterin immer so überstürzt?«
Erstaunt vernahm Schwinge den Klang der Hohen Sprache. Das konnte kein Mensch sein! Aber wenn er ein Zauberer war, warum sah er dann so aus? Schwinge verließ ihre Deckung und ging zu Keil hinüber. Sie war nicht geflohen! Wer sie einen Feigling nannte, der … hatte Recht? Verletzt und wütend auf sich selbst mußte Schwinge schlucken, aber sie zwang sich, obwohl ihre Augen den Boden suchten, Keil und dem Mann aufrecht entgegenzutreten.
»Da bist du ja wieder«, sagte der Fremde. »Ich grüße auch dich, meine Freundin. Vielleicht erzählst du mir nachher, was dich so erschreckt hat. Aber zuerst: tretet ein! Was verschlägt zwei Alifwin, dazu noch aus verschiedenen Stämmen, in diese Gegend?«
»Wir sind auf der Suche nach Galfas, dem Zauberer«, antwortete Keil. »Weißt du, wo wir ihn finden können?«
»Das weiß ich in der Tat«, entgegnete der Mann. »Er ist im Moment nicht hier, aber ich bin Morren, sein Bruder. Kommt nur herein.«

Von innen wirkte das Haus viel größer, und nun gab es keinen Zweifel mehr, daß seine Bewohner wirklich Zauberer waren. Ein durchdringender Geruch nach verschiedenen Kräutern lag in der Luft, und als Keil nach oben blickte, sah er auch, woran das lag. An der Decke des Raumes hingen so viele Zweige, Blätter und getrocknete Kräuter, daß vom Stroh des Daches nicht mehr viel zu erkennen war. Die Wände waren bedeckt mit alten Karten von Orten, die Keil nicht kannte und die vielleicht schon längst vergangen waren. Neugierig trat er näher an ein besonders großes Pergament heran, dessen Schrift schon beinahe verblaßt war und dessen Ränder brüchig und ausgefranst erschienen. Aber die Zeichen waren Keil fremd, und er verstand ihre Bedeutung nicht. Außerdem stieß er, weil er nicht nach unten blickte, gegen eine große, mit Schnitzereien verzierte Truhe, in der zahlreiche Schriftrollen aufbewahrt wurden. Drei ähnliche Kisten standen in den Ecken. Zwischen ihnen befanden sich zwei einfache Lager aus strohgefüllten Säcken und groben Wolldecken, die gänzlich menschlich und ausgesprochen unbequem wirkten - aber sicher doch angenehmer waren als der nackte Boden, der den beiden Alifwin auf ihrer Reise als Nachtlager diente.
Die Mitte des Raumes wurde beherrscht von einem klobigen Tisch, auf dem ein großes Durcheinander herrschte - Schriftrollen, Schreibfedern, noch mehr Kräuter, geheimnisvolle Schälchen und Gefäße, deren Inhalt Keil nicht genau erkennen konnte. Über dem fröhlich prasselnden Herdfeuer im hinteren Teil des Hauses hing ein Kupferkessel, aus dem Dampf aufstieg, dessen Geruch sich mit dem der Kräuter vermischte. Keil atmete tief ein. Genauso sollte es bei einem Zauberer riechen! Aber etwas war seltsam. Man roch nur die Kräuter und die Suppe. Die Bewohnrer selbst verströmten keinen Geruch.
Und nicht nur das war merkwürdig: Keil wurde das Gefühl nicht los, daß das Haus etwas vor ihm verbarg. Da waren Stellen, die er nicht lange ansehen konnte, ohne daß sein Blick zur Seite driftete, als ob ihn etwas abgelenkt hätte, und einige andere Ecken waren bei genauem Hinsehen irgendwie verschwommen.
Keil versuchte, zu ignorieren, was er sah, und konzentrierte sich ganz auf die Wirklichkeit. Es mußte doch möglich sein, diese Illusion zu durchschauen! Er schloß die Augen, damit sie ihn nicht länger in die Irre führen konnten … und spürte Weite. Das Haus war groß, viel größer, als es den Anschein hatte, und es gab auch mehr als einen Raum. Da zweigten Gänge zu den Seiten ab, und so etwas wie eine schmale Treppe wand sich nach oben … Aber warum sollte jemand das machen? Warum etwas Großes und Schönes klein und unscheinbar aussehen lassen?
»So versonnen, mein Freund?« fragte der Zauberer. »Stimmt etwas nicht?«
»Warum habt ihr das getan?« fragte Keil. »Wie sieht das Haus wirklich aus? Und du selbst … weshalb -«
»Weshalb ich aussehe wie ein Mensch? Das ist es doch, was du meinst, nicht wahr? Es ist mir nicht entgangen, daß es dich und die Jägerin entsetzt hat. Da es noch etwas dauern kann, bis mein Bruder zurückkehrt … warum macht ihr es euch nicht einfach bequem? Alles, was ihr hier seht, ist wirklich genug. Was wie ein Schemel aussieht, ist auch einer. Die Suppe muß zwar noch ein wenig köcheln, aber ich kann euch einen heißen Tee anbieten.«
Etwas zögerlich nahmen die Alifwin das Angebot an. Aber wie geheimnisvoll das Haus auch sein mochte - der Kräutertee schmeckte sehr gut, und der Zauberer war freundlich.
»Wir haben dieses Haus schon sehr lange«, erzählte er. »Die Hohen selbst haben es uns geschenkt, und seither wohnen wir hier. Als sich die ersten Menschen hier in der Gegend niederließen, verhinderten wir zunächst, daß sie uns oder unser Heim entdeckten. Dann aber, als aus den drei Höfen ein Dorf entstanden war, kamen wir zu dem Schluß, daß wir die Leute besser beobachten konnten, wenn wir Kontakt zu ihnen aufnahmen. Um nicht aufzufallen, nahmen wir menschliches Aussehen an, und auch unser Haus ist anscheinend nicht mehr als ihre armseligen Hütten. Es ist nicht schwer, die Illusion aufrechtzuerhalten. Menschen haben kein Gespür für Magie. Sie halten uns für Weise Männer, und wir genießen bei ihnen ein hohes Ansehen. So soll es auch bleiben.«
Während der Zauberer redete, versuchte Keil, sein wahres Aussehen zu ergründen. Aber es gelang ihm nicht. Jedesmal, wenn er versuchte, mit seinem Geist die Illusion des menschlichen Gesichtes zu durchbrechen, sogen ihn die schwarzen Augen an, und er hatte das Gefühl, in ihnen zu ertrinken.
»Das solltest du nicht tun«, sagte Morren sanft. »Du bekommst nur Kopfschmerzen davon. Du willst wissen, was meine wirkliche Gestalt ist?«
Keil nickte. Ihm war schwindlig.
»Ich habe schwarze Augen. Das ist alles, was du wissen mußt. Und darfst. Versuche, deine Neugier in Zukunft etwas zu zügeln. Sieh einen Zauberer immer so, wie er gesehen werden will. Versprichst du mir das?«
Keil nickte noch einmal. Das Schwindelgefühl schwand. Jetzt hatte er begriffen. Er durfte nicht auf das Äußere achten. Es hätte ihm zu denken geben müssen, daß Morren keinen Geruch hatte. Das einzig Wirkliche an ihm waren seine Augen und seine Stimme. In der Stimme des Zauberers lag alles, was seine Person ausmachte. Sie war zugleich hell und dunkel, volltönend und süß, eine angenehme Melodie in den Ohren. Aber sie war mehr als nur eine Stimme - sie war ein unbeschreibbarer Duft, ein Bild aus verschlungenen Farben. Keil vergaß alles Sichtbare und hörte nur auf die Stimme.
»So ist es besser«, sagte Morren, direkt in seine Gedanken hinein. »Und was siehst du jetzt, Barde der Alifwin?«
»Nur … Farben«, antwortete Keil atemlos. »Schwarz und rot, hauptsächlich.«
»Du bist gut. Du bist sogar sehr gut. Schwarz und rot sind meine Farben. Ich werde mich vor dir in Acht nehmen müssen.« Einen Moment schwang ein bedrohlicher Unterton in seiner Stimme mit. Doch dann lachte der Zauberer. »Ich wollte dir keine Angst machen. Aber es tut gut, endlich wieder jemanden zu treffen, der Macht begreifen kann. Das ist etwas, das die Menschen gänzlich vermissen lassen. Doch sage mir eines, junger Alifwin: Wie ist dein Name? Bis jetzt sehe ich nur, daß du ein Barde bist. Und deine Freundin ist offensichtlich eine Jägerin. Aber so kann ich euch schlecht den ganzen Tag anreden.«
Keil erstarrte. »Meinen Namen kann ich dir nicht sagen, das müßtest du eigentlich wissen«, antwortete er leise.
Der Zauberer lachte. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Wie werdet ihr genannt?«
»Ich bin Keil. Und dies ist Schwinge, die Jägerin. Wir suchen -«
»Sagt es mir nicht! Wenn ihr zu meinem Bruder wollt, dann genügt es, wenn ihr ihm euer Anliegen vortragt. Ich möchte mir nicht alles mehrmals anhören müssen.«
Bei Einbruch der Dämmerung kam Galfas zurück. Er machte einen müden und abgespannten Eindruck, als er die Tür hinter sich schloß, Morren zunickte und sich ans Feuer setzte. Er schien nicht zu bemerken, daß die Alifwin da waren.
»Wie ich schon vermutet hatte«, murmelte er und massierte sich die Stirn mit beiden Händen. »Das Schaf hatte eine Kolik. Aber ich glaube, es wird ihm morgen wieder besser gehen.«
»Ich hätte das Schaf geheilt«, erwiderte Morren.
»Ja, das hättest du. Aber du weißt, warum ich so etwas nicht tue. Man muß der Natur ihren Lauf lassen. Glaub mir, es ist besser so.«
»Für das Schaf wäre es besser, keine Schmerzen mehr zu haben«, sagte Morren spitz. »Und die Bauern hätten sich auch gefreut.«
Keil entging nicht die Spannung, die zwischen den Brüdern herrschte. Er hatte den Eindruck, daß diese Auseinandersetzung nur eine von vielen war. Plötzlich schien sich Morren seiner Gäste zu erinnern.
»Ich möchte jetzt nicht mit dir streiten«, sagte er. »Wir haben das Thema schon oft genug durchgesprochen, und wir haben beide gute Gründe für unser Verhalten. Hast du denn nicht bemerkt, daß wir Besuch haben?«
Galfas sah auf und bemerkte die Alifwin. Einen Moment traf sein Blick Keils. Auch seine Augen waren schwarz und unergründlich, aber diesmal versuchte Keil gar nicht erst, ihn zu durchschauen. Trotzdem hatte er das Gefühl, daß Galfas mit diesem einen Blick sein ganzes Wesen erfaßte. Ebenso prüfend sah der Zauberer Schwinge an, die nicht auswich. Ein kurzes Lächeln zog über Galfas’ Gesicht.
»Ich hatte auch irgendwie den Eindruck, daß etwas anders war als gewöhnlich. Es tut mir leid, daß ich euch so wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Seit wir zuletzt Alifwin in unserem Haus zu Gast hatten, ist viel Zeit vergangen.«
Keil konnte nicht umhin, diesen Zauberer zu mögen, auch wenn er, anders als sein Bruder, nicht die geheimnisvolle Ausstrahlung hatte, die man von Zauberern erwartete. Von Galfas ging vielmehr die Gewißheit aus, daß man ihm unbedingt vertrauen konnte. Wenn Morrens Farbe neben schwarz ein intensives Rot war, so gehörte zu Galfas ein tiefes, dunkles Blau.
Es war interessant, die Brüder nebeneinander zu sehen. Obwohl beide alterslos waren, wirkte Morren eindeutig jünger. Keil konnte nicht genau sagen, woran das lag. Galfas wirkte ruhiger, besonnener und vor allem ernster. Ihm fehlte jener Anflug eines Lächelns, der immer in Morrens Gesicht lag. Ansonsten waren sie sich so ähnlich, wie sich nur Brüder ähneln konnten, und das lag nicht nur daran, daß sie menschliche Gestalt hatten und alle Menschen irgendwie gleich aussahen.
»Ihr habt einen langen Weg auf euch genommen, um uns zu finden«, sagte Galfas. »Was für eine Suche ist es, die euch zu uns führt?«
Keil erzählte von den Instrumenten und der Aufgabe, die Schwinge und er erhalten hatten. Ein oder zweimal hatte er den Eindruck, als wolle Schwinge ihn unterbrechen, aber dann besann sie sich und schwieg. Als er geendet hatte, schwiegen die Zauberer einige Zeit, und man konnte sehen, daß sie angestrengt überlegten. Schließlich waren viele Jahrtausende vergangen, seit die Hohen verschwanden, und niemand konnte erwarten, daß die Zauberer, wenn sie auch das Gedächtnis der Welt waren, alles sofort klar vor Augen hatten.
»Es wundert mich ein wenig«, meinte Galfas schließlich nachdenklich, »daß ihr überhaupt mit eurem Hilfegesuch zu uns gekommen seid, statt zu den Elben zu gehen.«
»Warum gerade zu den Elben?« fragte Schwinge. »Meinst du, sie könnten mehr über das Verschwinden der Instrumente wissen als die Alifwin?«
»Das sollte man annehmen«, sagte Galfas. »Vor allem, wenn man den Namen ihrer Hohen Feste bedenkt.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Keil.
»Ihr kennt nicht den Namen der Hohen Elbenfeste?« Morren hob erstaunt die Augenbrauen und blickte Keil spöttisch an.
»Sie wird Doluadilan genannt«, entgegnete Keil. »‘Wo Ruhe und Frieden herkommen’.« Er begriff nicht, warum Zauberer zu lachen begannen.
»Jetzt wird mir manches klar«, sagte Morren schließlich. »Sicherlich ist die Hohe Sprache eine der schönsten, die es je gegeben hat, aber leider höchst mehrdeutig, vor allem, was Eigennamen angeht. Könnt ihr Elbenrunen lesen? Dann schaut euch diese Karte an. Hier ist die Hohe Feste. Und die Elben schreiben ihren Namen Dolua’d’llán - ‘Trommelhort’ oder auch ‘Hort der Trommel’.«
»Dolua’d’llán«, wiederholte Keil. »Ich verstehe. Also ist zumindest die Trommel gar nicht verloren. Die Elben hatten sie die ganze Zeit. Dann tut es uns sehr leid, daß wir gekommen sind und euch belästigt haben. Wir werden zu den Elben reisen.«
Galfas lachte. »Das hat noch Zeit bis später. Zuerst seid ihr unsere Gäste. Nehmt noch von der Suppe. Oder wollt ihr euch lieber etwas ausruhen? Ihr hattet eine lange Reise, wie ich sehe.«
Keil nickte dankbar. Er war wirklich ein wenig müde.
Aber Schwinge fragte: »Wißt ihr vielleicht etwas über die anderen Instrumente? Ihr wart doch dabei, als die Hohen fortgingen. Ihr könnt uns bestimmt helfen! Das Fortbestehen der Alifwin hängt davon ab!«
Morren öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, doch Galfas warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor er selbst antwortete: »Ich fürchte, es ist an der Zeit, euch etwas zu erklären, das ihr vielleicht nicht gerne hören werdet. Wir könnten euch vielleicht noch über diesen kleinen Hinweis hinaus helfen, aber es wäre nicht gut. Die Zauberer sind neutral. Die Welt muß sich ohne unser Zutun entwickeln. Darum halten wir uns seit Jahrtausenden aus all euren Kriegen heraus, und darum müßt ihr auch eure Instrumente selbst finden. Es klingt hart, aber die Alifwin müssen sich selbst helfen.«
»Aber wenn ihr etwas über die Instrumente und die Hohen wißt, dann könnt ihr es uns doch sagen!« rief Schwinge aufgebracht. »Alles Wissen darüber ist verlorengegangen. Wir brauchen eure Hilfe!«
»Es geht nicht«, sagte auch Morren. »Wir müssen neutral bleiben.«
»Aber ihr helft doch auch den Menschen!«
»Das ist etwas anderes. Wir helfen einzelnen Menschen, indem wir ihnen zeigen, wie sie selbst mit ihren Problemen zurechtkommen können. Wenn ihr private Schwierigkeiten hättet, zum Beispiel krank wärt, würden wir alles daran setzen, euch zu helfen. Doch dies ist ein Problem zwischen den Menschen und den Alifwin. Das müßt ihr unter euch klären.«
»Aber die Menschen gehören nicht in diese Welt! Sie sind Fremde, Eindringlinge, die versuchen, uns zu töten.«
»In mancher Hinsicht hast du Recht«, entgegnete Morren. »Die Menschen sind als Fremde in diese Welt gekommen. Aber das war vor etwa vierhundert Jahren. Für die Menschen ist das eine lange Zeit, viele Generationen. Die Eindringlinge von damals sind längst tot. Die Menschen, mit denen ihr es heute zu tun habt, sind inzwischen ebenso eingeboren wie die Elben oder die Alifwin.«
»Aber sie hatten kein Recht, hierher zu kommen!« wiederholte Schwinge erbost. Morren lächelte.
»Die Hohen, in denen ihr eure Vorfahren seht, sind vor Jahrmillionen selbst als Eindringlinge in diese Welt gekommen. Wenn es danach ginge, so wären die Zauberer die einzigen Lebewesen, die mit Fug und Recht hier sein dürfen. Denn nur uns hat es schon immer gegeben.«
»Aber -«, begann Schwinge und brach ab. Es hatte keinen Sinn, mit den Zauberern zu streiten. Wenn sie ihnen nicht helfen wollten, dann würden sie es auch nicht tun.
Keil rührte traurig in seiner Suppe. Er war zu enttäuscht, um noch etwas sagen zu können. Sie waren umsonst so weit gewandert.

Am liebsten wären sie noch am selben Abend aufgebrochen. Schwinge war nicht bereit, die Nacht in einem Haus zu verbringen, in dem man sie derart zurückgewiesen hatte. Aber weil es draußen schon dunkel war, wollten die Zauberer sie nicht gehen lassen.
»Es ist doch viel zu gefährlich!« sagte Galfas. »Und außerdem würdet ihr ohnehin nicht mehr weit kommen.«
»Nein«, entgegnete Schwinge. »Wir wissen, wo wir nicht erwünscht sind.«
»Aber als unsere Gäste seid ihr doch erwünscht! Nur, weil wir euch nicht gegen die Menschen helfen, bedeutet das doch nicht, daß wir nicht eure Freunde sind!«
»Auf solche Freunde«, erwiderte Schwinge kalt, »kann ich verzichten.«
Die Tür ließ sich nicht öffnen, als sie gehen wollten. Morren schüttelte amüsiert den Kopf, während sie an dem hölzernen Riegel zerrten.
»Wir haben euch gebeten, heute Nacht unsere Gäste zu sein. Und darum werdet ihr uns heute Nacht auch diese Ehre erweisen. Morgen früh könnt ihr weiterziehen, und wir werden euch nicht aufhalten. Aber bis dahin ist unsere Tür verschlossen.«
»Dann sind wir also eure Gefangenen!«
»Nein. Ihr seid unsere Gäste.« Das Lächeln wollte Morrens Lippen nicht verlassen.
Mit dem Verriegeln der Tür hatten die Zauberer auch die Illusion vom Inneren genommen - sie hatten ihr wahres Gesicht gezeigt und es nicht mehr nötig, sich zu verstellen. Als ob Keil und Schwinge wirklich nur liebe Gäste wären, geleitete Galfas sie einen Gang entlang, bis sie zu einer Kammer kamen, in der zwei große Betten mit weichen Decken standen.
»Hier werdet ihr es warm und gemütlich haben«, sagte er, »selbst wenn ihr solche Betten noch nie gesehen habt. Kann ich euch noch etwas bringen? Etwas warme Milch vielleicht? Wasser zum Waschen?«
Schwinge und Keil nickten, obwohl sie eigentlich nicht vorhatten, noch irgend etwas von den Zauberern anzunehmen. Auf die Milch hätten sie vielleicht verzichten können, aber es war ein furchtbares Gefühl, sich schlafen zu legen, ohne den Staub der Reise abgewaschen zu haben. Das Wasser war angenehm warm, und als sie endlich in den seltsamen, duftenden Betten lagen, hatte Schwinge fast schon vergessen, daß sie überhaupt nicht hatten bleiben wollen.
Aber in der Nacht lag sie lange wach, auch nachdem Keil längst eingeschlafen war. Sie konnte Stimmen hören: Es waren die Zauberer, und sie schienen zu streiten, auch wenn es zu leise war, um Worte zu verstehen. Sie konnte nicht einmal feststellen, welche Sprache es war. Als Galfas kam, hatte er mit den harten Worten der Menschen gesprochen. Auch wenn die Zauberer es abstritten - diesmal hatten sie die Alifwin wirklich verraten.

Am nächsten Morgen ließen sie keine Zeit verstreichen, bevor sie aufbrachen. Obwohl in der Nacht niemand ihre Kammer betreten hatte, stand nun neben ihren Betten eine Schüssel mit frischem, warmen Wasser, und auch ihre Kleider, denen man die mehrwöchige Reise schon angesehen hatte, waren wieder sauber und glatt. Aber wenn die Zauberer vorhatten, sie mit diesen netten Kleinigkeiten versöhnlich zu stimmen, hatten sie sich geirrt. Nachdem sie noch ein wenig gefrühstückt hatten, verließen Keil und Schwinge die Zauberer, um zur Hohen Elbenfeste zu reisen.
»Es tut uns wirklich leid, daß wir euch nicht beistehen können«, beteuerte Galfas noch einmal, aber sie glaubten ihm nicht. Morren sagte nichts.
Schwinge und der Barde schwiegen, während sie durch den Regen gingen. Es gab nichts, was zu diesem Zwischenfall noch zu sagen war, aber das Schweigen hatte etwas Bedrückendes an sich, wie nach einem Streit. Als es zu donnern begann, suchten sie Zuflucht unter einer mächtigen Buche, deren Zweige ein sicheres Dach bildeten. Keil sang leise, um den Baum zu beruhigen. Buchen hatten ein gelassenes Gemüt, weswegen sie fast nie von Blitzen getroffen wurden - anders als die leicht erregbaren Eichen, die nur auf dem ersten Blick unerschütterlich wirkten. Doch bei Gewitter konnten alle Bäume Trost brauchen. Es freute Schwinge, daß Keil das wußte, auch wenn er nicht aus den Wäldern kam.
Obwohl es schon Mittag sein mußte, war es fast völlig dunkel, der Himmel schwarz vor Wolken. Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen. Jede Flamme, die verlosch, wurde ein Geist und kehrte als Blitz in die Welt zurück, um dort neues Futter zu finden und so auf alle Zeiten weiter zu brennen. Manchmal aber verfehlte ein Blitz sein Ziel und wurde von einem Stein verschluckt. Wer einen solchen Stein fand, war glücklich, denn in ihm saß die Seele des Feuers und versuchte bei jeder Gelegenheit, herauszukommen. Da sie aber für immer in dem Stein festsaß, sprangen nur kleine Funken ab, mit denen ein Feuer entfacht werden konnte.
Keil und Schwinge rückten enger zusammen, als ein kalter Wind aufkam.
Laut krachend zuckte ein weiterer Blitz vom Himmel und beleuchtete den schwarzen Umriß einer Gestalt, die sie nicht kommen gehört hatten.
»Erlaubt ihr, daß ich mich zu euch setze?« Obwohl das Gesicht des Fremden im Schatten lag, so würde Schwinge diese Stimme doch niemals vergessen. Es war Morren, der Zauberer.
»Was willst du?« fragte Schwinge. »Warum bist du uns gefolgt?«
»Ich bin euch nicht gefolgt. Sagen wir es so: Schon seit längerer Zeit hatte ich vor, unserem Domizil wieder einmal den Rücken zu kehren, um mich auf Forschungsreisen zu begeben. Das ist eine Hauptbeschäftigung der Zauberer, müßt ihr wissen. Insofern ist es reiner Zufall, daß ich gerade heute aufgebrochen bin und, wie es scheint, auch die selbe Richtung wie ihr genommen habe.«
Keil lächelte. »Du meinst, wenn ihr uns schon nicht helfen wollt, so möchtest du uns trotzdem begleiten?«
»Du bist sehr klug, junger Barde. Aber du hast nur zum Teil Recht. Es ist nicht so, daß ich euch nicht helfen will. Vielmehr darf ich es nicht in dem Maße, wie ich es gerne tun würde. Es hängt zusammen mit einer kleinen Absprache zwischen mir und meinem Bruder, was Streitereien zwischen Dritten angeht. Ich stimme ihm voll und ganz zu, daß wir dort neutral bleiben müssen. Sonst wäre es zu verlockend, die große Macht, über die wir Zauberer verfügen, nach eigener Willkür einzusetzen. Aber eure Suche interessiert mich. Ich weiß, daß die Instrumente existieren, aber selbst wenn Galfas zu wissen scheint, was aus ihnen geworden ist, habe ich keine Ahnung. Und gerade darum will ich mehr darüber erfahren. Nichts ist eine größere Herausforderung für einen Zauberer, als eine Lücke in seinem Wissen zu entdecken.«
»Aber warum hast du nicht sofort gesagt, daß du uns begleiten würdest?« fragte Keil. »Wenn du neutral bleibst, kann Galfas doch nichts dagegen haben.«
Der Zauberer lachte leise. »Ich habe es vorgezogen, meinem Bruder nichts von meiner Abreise mitzuteilen. Sicher hätte ich ihn überzeugen können, aber ich wollte nicht schon wieder mit ihm streiten. Als er heute Vormittag zu dem Schaf gerufen wurde, dem es offenbar immer noch schlecht geht, habe ich meine Sachen zusammengepackt und bin aufgebrochen. Es war nicht weiter schwer, euch zu finden.« Er seufzte. »Vielleicht wird er sich nun doch dazu herablassen, die arme Kreatur zu heilen.«
Schwinge warf einen Blick auf den kleinen Beutel, den der Zauberer über der Schulter trug. »Da hast du alles drin, was du unterwegs brauchen wirst?« fragte sie verwirrt.
»Es ist erstaunlich, nicht wahr?« lächelte der Zauberer. »Die Tasche ist zwar nicht besonders groß, aber nur von außen. Ich kann hineinstecken, was immer ich will. Ob ihr es glaubt oder nicht, ich habe sogar unseren zweitbesten Kochtopf mitgenommen. Zwar kann sich meine Suppe nicht mit der von Galfas messen, aber ich bezeichne sie doch als durchaus schmackhaft.«
Schwinge wußte nicht, was sie von dieser plötzlichen Freundlichkeit halten sollte. Nach wie vor hatte der Zauberer seine menschliche Gestalt, und niemand konnte wissen, ob er sie vielleicht in eine Falle locken wollte. Aber was auch immer seinen plötzlichen Meinungswechsel erklärte - es war am Besten, auf das Ende des Gewitters zu warten, damit sie endlich weitergehen konnten.

Morren erwies sich als ein angenehmer Reisegefährte, und das nicht nur, weil er gut kochen konnte. Keil merkte schnell, daß der Zauberer ihnen wirklich freundlich gesonnen war, auch wenn er immer wieder seine Neutralität betonte. Vor allem wußte er über alles Bescheid und gab dieses Wissen mit Vergnügen preis.
»Es ist lange her, daß ich zuletzt bei den Elben war«, erzählte er, »wenn auch nicht so lang wie meine letzte Begegnung mit eurem Volk. Es war wirklich sehr ungestüm von euch, so schnell wieder aufzubrechen, auch wenn ich eure Verärgerung durchaus verstehen kann. Aber ihr hättet zumindest nach dem Weg nach Dolua’d’llán fragen können. Oder kennt ihr ihn etwa?«
»Nein«, sagte Schwinge, »aber wir hätten ihn sicher gefunden. Unterwegs trifft man viele Tiere, die sich auskennen.«
»In der Tat«, erwiderte Morren, »hättet ihr eine Menge Zeit vertrödelt beim Versuch, aus dem Geschwätz eines Eichhörnchens die wichtigen Informationen herauszusieben. Vögel wissen den Weg vielleicht, aber sie beschreiben euch immer die direkte Linie, ohne auf so etwas wie Wege zu achten.«
Keil hatte ihm von Nachtfeder erzählt, und nun konnte der Zauberer es nicht lassen, über ihre Begegnung mit diesem Vogel seine Späße zu machen. Seit der Zauberer bei ihnen war, hatten sie die Krähe nicht mehr gesehen, nicht einmal von fern. Ihrer Ansicht nach hatten die Alifwin vermutlich gefunden, was sie suchten.
»Möchtest du etwas Schönes sehen?« fragte Morren mit einem Mal, und ohne eine Antwort abzuwarten, griff er in seine Tasche und holte einen kleinen, runden Kristall von milchigweißer Farbe hervor.
»Aber - das ist ein Elbenkristall!« rief Keil aus. Er kannte diese Steine. Manchmal waren reisende Elben in sein Dorf gekommen, um hübsche Silberwaren gegen Lederarbeiten und getrockneten Fisch einzutauschen. Ein jeder von ihnen hatte einen solchen Kristall besessen. Ihre Magie war an diese Kristalle gebunden, und Keil konnte sich nicht erklären, wie Morren an etwas Derartiges kommen konnte.
»So ist es«, sagte Morren. »Von allen Zauberern auf der Welt bin ich der einzige, dem ein Elbenkristall gehört, obwohl die Geschichte, wie ich an ihn gelangt bin, eine traurige ist. Vor vielen Jahren rettete ich einem jungen Elben, der im Winter alleine unterwegs war und von einem Wolfsrudel hungriger Wölfe angefallen wurde, das Leben. Das heißt, ich konnte verhindern, daß sie ihn auffraßen. Aber er war bereits schwer verwundet, und wollte sich nicht von mir heilen zu lassen. Ich blieb bei ihm und kümmerte mich um ihn, bis er starb. Wir verbrachten einige Zeit in einer Eishöhle. Dort lernte ich viel über die Elben und ihr Leben, und auch über die Bedeutung dieser Kristalle. Als er sah, wie sehr ich seinen bewunderte, versprach er mir, daß ich ihn nach seinem Tod haben sollte. Er sagte auch, daß der Stein dann all seine magischen Kräfte verlieren und wieder weiß werden würde. Aber das stimmt nicht ganz. Weil er mir vor Alimas’ Tod freiwillig geschenkt wurde, blieb ein Teil seiner Magie, so daß ich ihn jetzt benutzen kann, allerdings auf meine Art. Er dient mir als Spiegel der Welt. Ich kann damit Orte sehen, die weit entfernt sind, und dort meine Macht genauso wirken lassen, als wenn ich selbst dort wäre.«
»Aber das ist ja wunderbar!« rief Keil. »Dann müssen wir ja nur in deinem Kristall nachsehen, wo die Instrumente sind, und du kannst sie durch deine Magie herholen.«
»Das wäre sehr schön«, sagte Morren. »Nur leider ist es nicht so einfach. Ich muß mich auf einen bestimmten Ort, der mir bekannt ist, konzentrieren, wenn ich mehr sehen will als das Stück Weg vor mir. Da ich weder weiß, wo die Instrumente sind, noch, wie sie aussehen, kann ich den Kristall nicht benutzen. Ich habe es bereits versucht. Aber ich setze die Kugel gerne ein, um zu sehen, was für Gefahren längs des Weges lauern.« Morren lächelte. »Weißt du, warum ich dir meinen Kristall gezeigt habe?«
Keil schüttelte den Kopf. »Weil er schön ist?«
»Ja, das ist einer der Gründe. Ich bin sehr stolz auf ihn. Aber vor allem habe ich ihn dir gezeigt und erklärt, weil ich gemerkt habe, wie neugierig du bist. Und ich möchte nicht, daß du jemals auf die Idee kommst, ihn zu berühren. Niemals. Versprichst du mir das?«
Plötzlich war in seiner Stimme etwas, das über den üblichen freundlichen Plauderton hinausging, eine ganz leise, unterschwellige Drohung. Keil begriff. Morren begleitete sie zwar als Freund, aber er wollte trotzdem klarstellen, welche Macht er hatte und daß er Befehle gab, nicht ausführte. Was immer sie taten, sie sollten ihn ernstnehmen.
»Es ist dein Kristall«, sagte Keil schnell. »Ich werde ihn nicht anfassen.«
»Dann ist es gut«, sagte Morren und ließ die Kugel wieder in den Beutel gleiten. »Ich denke, wir werden uns gut verstehen.«

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