Zwölftes Kapitel

The world that you inhabit has not yet been created..
Kathleen Raine

Mit einem Mal hatte die ganze Welt sich verdreht. Alles, was Keil früher etwas bedeutet hatte, war jetzt unwichtig, und er hatte kein Ziel mehr. Noch bis vor wenigen Tage war es sein einziger Wunsch gewesen, die Flöte aus Eis sicher in die Wälder zu bringen. Was er nun wollte, wußte er nicht.
»Wenn alle Elfen wissen, daß du dazu bestimmt bist, die Flöte zu spielen, dann werden sie auch genau das von dir verlangen, wenn du sie ihnen bringst«, sagte Felder, »und du würdest sowohl dich als auch sie furchtbar unglücklich machen. Mein Vorschlag: Bring sie wieder dahin zurück, wo du sie hergeholt hast, und sag den anderen, du hättest sie nicht gefunden.«
»Das würde ich furchtbar gerne«, erwiderte Keil. »Aber dann müßte ich sie anlügen, und ich hätte nichts, um ihnen zu helfen.«
»Dann gibt es noch eine weiterreichende Möglichkeit«, sagte Felder. »Bring die Flöte zurück und bleib bei uns! Du mußt doch zugeben, daß du Blut geleckt hast, was das Leben in Freiheit angeht. Du könntest es jetzt genau so wenig einfach aufgeben wie ich. Und als Team sind wir unschlagbar.«
Irgendwie wünschte Keil, er könnte genau das tun, was der Mensch ihm da vorschlug. Aber es ging nicht. Er konnte nicht bis zum Ende seines Lebens davonlaufen. Aber er empfand es als Erleichterung, daß er zumindest mit Felder darüber reden konnte. Und auch Lonnìl gab sich alle Mühe, Keil zu helfen, obwohl er selbst Hilfe gut gebrauchen konnte, um besser mit dem Verlust von Schwinge umgehen zu können.
»Ich glaube, ich muß mich bei dir entschuldigen, Keil«, sagte Morren an dem Abend, nach Schwinges Beisetzung. »Ich habe dich dazu drängen wollen, auf der Flöte zu spielen. Aber du hattest Recht. Niemand darf auf der Flöte spielen, und es war ein Fehler, daß ich es versucht habe. Du hast es als einziger richtig erkannt, und deine Ausdauer und Starrköpfigkeit sind wirklich bewundernswert. In diesem Instrument steckt eine Macht, die zu groß ist für einen.«
»Willst du damit sagen, wenn man nicht einer ist, sondern viele, wie die Dunklen, dann macht es einem nichts aus, darauf zu spielen?« fragte Felder und fuhr, als Morren nickte, fort: »Dann wirst du vermutlich als nächstes vorschlagen, daß wir ihnen die Flöte als Geschenk anbieten, weil sie mit einer Übermenge Macht keine Probleme hätten?«
»Davon habe ich überhaupt nicht gesprochen«, entgegnete Morren. »Obwohl die Idee einiges für sich hat, wie ich zugeben muß.«
»Du bist wahnsinnig!« rief Felder entsetzt aus. »Das also passiert, wenn man auf der Flöte spielt!«
»Schweig!« zischte der Zauberer. »Wenn du mir noch einmal ins Wort fällst, habe ich Mittel und Wege, deinen Mund zu verschließen. Für die Dunklen ist die Flöte tatsächlich völlig ungefährlich, und ich werde euch auch sagen, warum. Zum einen könnten sie nicht darauf spielen, weil es in ihrer Welt gar keine Musik gibt. Nicht einmal Keil konnte dort spielen - sein Instrument wollte keinen Ton von sich geben. Außerdem bezieht sich ihr die Macht der Flöte nur auf unsere Welt, und die Dunklen leben außerhalb. Zum dritten haben die Dunklen bereits alle Macht, die sie wollen und können keine neue mehr gewinnen. In der Tat wäre das Dunkle Reich der sicherste Ort, um die Flöte außer Gefahr zu bringen, denn wenn die Dunklen sie einmal haben, werden sie sich nie wieder davon trennen. Sie würden allein den Gedanken mögen, diese mächtige Stück Eis in ihrem Besitz zu haben. Versteht ihr, was ich meine?«
»Ich verstehe nur, daß du wahnsinnig geworden bist«, sagte Felder.
»Möchtest du die Flöte lieber behalten, Keil?« fragte Morren sanft. »Glaubst du nicht, daß sie inzwischen genug Unheil angerichtet hat?«
Keil konnte nicht antworten. Zu eindringlich war die Stimme des Zauberers, und auch sein Blick war so, daß man ihm nur schwer standhalten, zugleich aber unmöglich ausweichen konnte. So konnte Keil ihm nicht widersprechen, aber er wollte auch nicht zustimmen. Doch er merkte langsam, worauf Morren aus war.
»Aber die Dunklen haben schon die Laute!« sagte Lonnìl. »Dann dürfen sie nicht auch noch die Flöte bekommen!«
»Du hast genau den Punkt getroffen, den ich meinte«, sagte Morren lächelnd. Er lächelte wieder viel in letzter Zeit. Von dem Schock schien er sich gut erholt zu haben. »Im Moment haben sie die Laute. Aber sie können nichts damit anfangen. Daher werden sie nur zu bereit sein zu einem Tausch.«
»Ja, und sie werden uns über den Tisch ziehen«, sagte Felder. »Keine Geschäfte mit den Dunklen mehr. Man kann nur dabei verlieren - und ich weiß, wovon ich rede. Laßt die Dunklen aus dem Spiel.«
»Hast du einen besseren Vorschlag?« fragte Morren.
»Ich habe schon verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen, und jede einzelne von ihnen war besser als dieser Wahnsinn.«
»Und jede von ihnen besagte, daß Keil am Ende mit leeren Händen dastehen würde. Wenn er dagegen meinem Vorschlag folgt, kann er zumindest die Laute zu seinem Volk bringen. Wir wissen zwar nicht, wofür sie gut sein soll, aber sie kann niemals soviel Schaden anrichten wie die Flöte. Was denkst du, Keil?«
»Hör nicht auf ihn!« warnte Felder von der anderen Seite. »Die Dunklen werden nur wieder eine Möglichkeit finden, wie sie beides bekommen können - Flöte und Laute.«
»Das werden sie nicht versuchen«, sagte Morren. »Was sie haben wollten, das haben sie bekommen. Aber grundsätzlich stehen sie als Hohes Volk auf der Seite der Alifwin. Sie haben uns gehen lassen, obwohl wir in ihrer Gewalt waren und keine Möglichkeit hatten zu entkommen, und sie waren es, die uns den Hinweis gegeben haben, zum Th’enlathíel zu gehen. Sie haben kein Interesse daran, daß die Alifwin von den Menschen ausgerottet werden. Schon allein deswegen haben wir nichts von ihnen zu befürchten.«
Jetzt redeten Morren und Felder von beiden Seiten gleichzeitig auf Keil ein, und er konnte keinem von ihnen mehr zuhören. In seinem Kopf schwirrte es. Er hatte das Gefühl, als würde er in zwei Richtungen auseinander gerissen. Es war ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, solange die beiden sich stritten, vor allem, da sie immer lauter wurden. Felder brüllte fast, und Morrens Stimme dröhnte allesdurchdringend.
»Aufhören!« schrie Keil. Es war, als müsse sein Kopf platzen, wenn nicht augenblicklich Ruhe eintrat. »Hört auf! Laßt mich zufrieden!«
Schlagartig wurde es still. Die beiden Streithähne drehten ihre Köpfe erstaunt zu Keil hinüber.
»Ist dir nicht gut?« fragte Lonnìl besorgt. »Du siehst krank aus.«
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Keil matt. Endlich gelang es ihm wieder, seine Gedanken zu ordnen. »Ich denke, Morren hat Recht. Wir sollten es versuchen.«
Felder starrte ihn sprachlos mit offenem Mund an.
»Ich hatte gehofft, daß du dich so entscheiden würdest«, sagte Morren. »Es ist die einzige vernünftige Lösung. Natürlich verstehe ich auch, warum Felder sich so sehr dagegen gesträubt hat. Wir dürfen nicht vergessen, daß seine Erfahrung mit den Dunklen tatsächlich nicht die Besten sind. Aber niemand zwingt dich, mit uns zu kommen, Felder.«
»Ihr glaubt, ich würde euch alleine den Dunklen überlassen?« fragte Felder entrüstet. »Ich, der ich weiß, daß ihr auf dem besten Weg seid, einen großen Fehler zu machen? Der ich als einziger weiß, wie man mit den Dunklen umgehen muß? Ich bleibe bei euch, und wenn es das Letzte ist, was ich im Leben tue.«
»Das könnte es in der Tat sein«, sagte Morren und lächelte. »Es freut mich, daß wir alle einer Meinung sind - oder möchtest du uns noch gerne widersprechen, Lonnìl? Nein? Wie schön. Dann würde ich sagen, wir ändern die geplante Route und reisen wieder einmal nach Thoria.«
»Warum denn gerade nach Thoria?« fragte Felder zerknirscht.
»Wenn es überhaupt irgendwo auf der Welt ein festes Tor in das Dunkle Reich gibt, dann dort. Es ist gewissermaßen eine Übergangswelt. Hast du schon wieder vergessen, daß wir dort immer die Anwesenheit der Dunklen spüren konnten? Nur über Thoria können wir in Kontakt mit ihnen treten.«
Obwohl Keil irgendwie noch immer nicht ganz wohl war bei der Idee, brachen sie am nächsten Morgen auf in Richtung Thoria. Morren hatte Recht. Es gab keine andere Möglichkeit, zu verhindern, daß die Flöte gespielt wurde, ohne dabei alle Alifwin zu verraten.

Dann jedoch, an einem bewölkten Vormittag, hatten sie eine unheimliche Begegnung, die wieder das Schicksal Thorias in ihre Gedanken rief und die Freunde daran zweifeln ließ, ob es wirklich das Beste war, freiwillig zu den Dunklen zurückzugehen. Dabei sah es zuerst nicht so aus, als ob der Fremde, der langsam vor ihnen den Weg entlang wanderte, irgendeine Bedeutung für sie haben konnte. Es war ein gewöhnlicher Mann, ärmlich gekleidet, der langsam einen Fuß vor den anderen setzte, so daß sie ihn schnellen Schrittes überholt hätten, ohne weiter über ihn nachzudenken. Straßen wurden nun einmal benutzt, und andere Menschen waren nichts Absonderliches. So kam es für Lonnìl sehr überraschend, als Felder plötzlich stehenblieb, hektisch mit den Armen herumfuchtelte und sogar einige Augenblicke brauchte, bis er überhaupt ein Wort hervorbrachte.
»Da vorne geht ein Thorianer!« rief er mit einer Stimme, die sich vor Aufregung fast überschlug, und hielt Lonnìl am Arm fest. »Da - der Mann da!«
»Und woran erkennst du das jetzt schon wieder?« fragte Morren spöttisch. »Von hinten, auf mehr als fünfzig Schritt Entfernung?«
Er hatte recht: Der Mann vor ihnen sah aus wie jeder andere gewöhnliche Bauer, und sie waren noch zu weit weg, um seine Tracht genau erkennen zu können. Aber Felder war unbeirrbar. Für ihn gab es keinen Zweifel an der Herkunft des Mannes.
»Ich habe den besten Teil meines Lebens in Thoria zugebracht. Meint ihr nicht, ich wüßte inzwischen, wie meine Landsleute aussehen? Ich kann einen Thorianer auf hundert Schritt am Nacken erkennen, was das betrifft. Glaubt mir nur. Wenn das da kein Thorianer ist, werde ich nie wieder ein Schwert anrühren und mein Leben als Suppenkoch in einem Gasthaus beenden.«
Seit sie die alte Frau in den Mooren getroffen hatten, war dies das erste Lebenszeichen, das Felder von seinem verlorenen Volk entdeckte oder zu entdecken glaubte. Es war nicht verwunderlich, daß er sich an jeden erreichbaren Strohhalm klammerte. Nun lief er los und hatte den Wanderer bald eingeholt.
Aus der Nähe betrachtet hatte der Mann tatsächlich nicht zu verleugnende Ähnlichkeiten mit Felder: Wenn es Eigenart der Thorianer war, lockiges Haar und breite, kantige Gesichter zu haben, dann konnte dieser Mensch tatsächlich ein Thorianer sein. Lonnìl staunte darüber, wie Felder dies von hinten hatte erkennen können. Iohm war an dem Fremden nur sein merkwürdig schleppender und unsicher wirkender Gang aufgefallen. Dies war jedoch nichts besonderes, wenn man davon ausging, daß der Fremdling ebenfalls betrunken war. Hatte Felder ihn vielleicht daran erkannt?
Aber als er das Gesicht des Thorianers aus der Nähe sah, stockte Lonnìl einem Moment lang der Atem. Er hatte noch niemals eine derartige Leere erblickt wie in den grauen Augen des Mannes, der nun stehenblieb, weil Felder ihn am Ärmel festhielt. Der Mann bewegte die Lippen und murmelte etwas vor sich hin, aber es war kein Wort zu verstehen. Er schien keinen der vier überhaupt wahrzunehmen.
»Entweder ist er taub oder blind oder blödsinnig oder alles zusammen«, stellte Felder fest und winkte mit seiner Hand vor dem Gesicht des anderen, ohne daß dieser jedoch darauf reagierte. »Trotzdem bin ich mir sicher, daß er aus Thoria kommt.«
Beim Klang des Wortes ‘Thoria’ ging eine Veränderung mit dem Mann vor. Er hob den Kopf und richtete seine Augen auf Felder, doch es war kein Ausdruck darin.
»Der König ist gestorben« sagte er tonlos, aber deutlich, »und wir werden Not leiden.«
»Hey, es funktioniert«, rief Felder erfreut. »Er hört auf mich! Noch mal, Kamerad: Thoria?«
»Der König ist gestorben«, wiederholte der Mann. »Ich muß hinausgehen und das Feld bestellen. Meine Kinder warten schon auf mich.«
»Wie ich schon sagte: Vollkommen blödsinnig. Feld bestellen, um diese Jahreszeit! Aber taub scheint er doch nicht zu sein. Thoria?«
»Hör auf!« fuhr Morren dazwischen. »Mach dich nicht lustig über ihn, weil er verwirrt ist!«
»Ja, schon gut … aber denk dir doch nur: Der erste Thorianer, den ich seit Monaten treffe, und dann ist es ausgerechnet der Dorftrottel! Darf ich nicht ein wenig Spaß haben, wenn er mir schon nichts über den Verbleib der anderen erzählen kann? Immerhin bekommt er nichts davon mit. Er ist völlig weggetreten. Das einzige, was er hört, ist ‘Thoria’. Und wir können ihn in seinem Zustand schlecht alleine hier herumlaufen lassen. Er würde von der nächsten Klippe fallen, ohne es zu merken.«
Felder schien ziemlich enttäuscht. So sehr er auch immer gegen Thoria und seine Bewohner gewettert hatte, von dieser Begegnung mußte er sich mehr versprochen haben. Jetzt mußte dieser arme, verwirrte Mann darunter leiden. Er bekam zwar nicht mit, wie sich sein König über ihn lustig machte, aber das gab Felder trotzdem kein Recht, ihn so zu verspotten.
»Laß ihn in Ruhe«, sagte Lonnìl. Felder zuckte die Schultern.
»Der König ist gestorben«, sagte der Fremde nochmals. »Ich muß es meiner Frau erzählen.«
»Hör auf, das immer zu sagen!« fuhr Felder ihn an. »Der König ist seit mehr als drei Monaten tot! Deine Frau ist nicht hier! Du bist nicht mehr in Thoria!«
»Der König ist gestorben …«
»Sei still, verdammt! Sonst -« Felder fuhr sich hektisch mit der Hand durch die Haare, strich sie sich aus der Stirn und rieb sich die Augen. »Laßt uns schnell weitergehen! Wir können ihm nicht helfen.«
»Macht er dir Angst?« fragte Morren.
Felder schüttelte erst den Kopf, dann nickte er und schüttelte wieder den Kopf. »Nein … ja … ich weiß es nicht. Es ist nur … für ihn scheint gar keine Zeit vergangen zu sein.«
»Und das bereitet dir Probleme«, stellte Morren fest. »Aber natürlich! Wie konnte ich nur vergessen, was für eine Belastung die Zeit für dich ist. Vielleicht hast du aber auch gemerkt, daß er kein gewöhnlicher Irrer ist? Und daß er offensichtlich in diesem Zustand seit just dem Tag ist, an dem du Thoria und seine Bewohner an die Dunklen verloren hast?«
»Ich bin betrogen worden«, sagte Felder trotzig, sah aber dabei zu Boden und scharrte mit dem Fuß im Staub wie ein nervöses Pferd. »Und ich habe die Thorianer nicht verloren. Ich habe sie zurückgewonnen.«
»Aber die Dunklen hatten sie. Und zumindest unserem Freund hier scheint das nicht gut bekommen zu sein. Du wirst mir doch wohl zustimmen?«
»Da gibt es keinen Zusammenhang. Die Dunklen hatten uns auch, mich sogar zweimal, und trotzdem laufe ich nicht durch die Gegend und sage mit Grabesstimme ‘Der König ist gestorben’. Spinner hat es in Thoria immer schon gegeben. Was glaubt ihr, warum ich von dort weggegangen bin?« Nach einer Pause, in der er dem Mann hinterher blickte, der inzwischen langsam weitergewandert war, fügte er hinzu: »Immerhin hat er mich nicht erkannt. Aber ich habe auch nie Kontakt zu Irren gepflegt.«
»Ich frage mich, wo er hingeht«, murmelte Keil bedrückt. »Er hat kein Land mehr, in das er gehen könnte. Und was aus seiner Familie geworden ist, wissen wir auch nicht.«
»Er hat kein Ziel«, antwortete Morren. »Nichts von dem, was ihr hier seht, existiert für ihn. Der einzige von uns, den er am Rand wahrgenommen hat, ist Felder, weil er ein Bestandteil seiner Welt ist, nicht aber seines persönlichen Lebens. Aber sein Kopf, seine Gedanken … nichts. Er ist vollkommen leer. Es müßte interessant sein, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Aber ich habe ja auch bald viel Zeit dafür.«
»Wechseln wir das Thema«, sagte Felder.
Sie gingen weiter. Nach kurzer Zeit hatten sie den Mann mit den leeren Augen wieder eingeholt, aber sie hielten ihn nicht noch einmal auf, und Felder blickte starr geradeaus, als sie mit eiligen Schritten an ihm vorbeigingen.
Als sie am Abend um das Feuer saßen, war Felder viel schweigsamer als gewöhnlich. Mit der Spitze seines Messers malte er Spiralen in den sandigen Boden, und er schien mit seinen Gedanken weit fort zu sein. Gelegentlich griff er abwesend nach seiner Flasche und trank einen Schluck, aber Lonnìl hatte das Gefühl, daß ihm nicht einmal das bewußt war. Die Begegnung vom Vormittag hatte dem Thorianer wohl einen gehörigen Schrecken versetzt, auch wenn er wie üblich kein Wort mehr darüber verlor. Als das Feuer fast heruntergebrannt war, blickte Felder abrupt auf und sah die anderen an. Von einem Moment auf den anderen klärten sich seine etwas verschleierten Augen auf.
»Habe ich euch eigentlich schon mal von meiner Frau erzählt?« fragte er.
»Du hast uns von ziemlich vielen Frauen erzählt«, antwortete Morren, »egal, ob wir es hören wollten oder nicht.«
»Ich spreche nicht von meinen Geliebten. Es geht um meine Gemahlin.«
»Du hast niemals ein Wort über sie verloren«, sagte der Zauberer. »Ich war mir natürlich sicher, daß du verheiratet sein mußtest. So etwas wird für Kronprinzen meistens recht früh arrangiert, habe ich recht?«
Felder nickte. »Mein Vater hatte es in der Hinsicht wie üblich eilig. Das einzige Mal, daß er sich um mich gekümmert hat war, als es darum ging, mir eine Frau zu besorgen. Lyantra, Tochter von irgendeinem Grafen. Ich habe sie geheiratet, als ich fünfzehn war. Aber glaubt nicht, daß ich auch nur das leiseste Mitspracherecht hatte.«
Lonnìl spürte, wie er schon wieder wütend wurde, ohne daß er wußte, warum. Er hätte sich ebenso wie Morren denken müssen, daß Prinzen verheiratet wurden. Und er hätte auch Felder gut genug kennen müssen, um zu wissen, daß ihn das nicht davon abhalten würde, andere Frauen zu treffen. Die Ehe hatte in solchen Kreisen nur politische Bedeutung und nichts mit Liebe zu tun, so wie auch bei zwei Großbauern, die ihre Kinder verheirateten, um die Höfe zu vereinigen. Aber trotzdem …
»Du magst deine Frau nicht besonders, habe ich recht?« fragte er. »Glaubst du nicht, daß du ihre Gefühle verletzt, wenn du derart öffentlich mit deinen Affären angibst?«
Jetzt wich der verträumte, abwesende Ausdruck endgültig aus Felders Gesicht. Er funkelte Lonnìl wütend an. »Halt dich raus aus Sachen, von denen du nichts verstehst!« fuhr er ihn an. »Ich mag meine Frau, und ich will ihr nicht wehtun. In keiner Hinsicht. Es gibt gute Gründe dafür, daß wir unsere Ehe nie vollzogen haben.«
»Ach ja?« fragte Lonnìl, den die Zurechtweisung gekränkt hatte, zurück. »Ist sie dir vielleicht zu häßlich, oder hat sie keine Lust, deine Spielchen mitzuspielen?«
Felder stürzte sich auf ihn, warf ihn zu Boden und setzte ihm sein Messer an den Hals. »Hör mir gut zu«, zischte er. Lonnìl versuchte, sich nicht zu rühren. Noch nie hatte er Felder derart aufgebracht erlebt. Egal, wie oft ihn Morren geschlagen hatte, er hatte nie seine Beherrschung verloren. »Lyantra ist ein wundervolles Mädchen, ich hätte kaum ein hübscheres bekommen können, und sie mag mich wirklich. Am Anfang war ich vielleicht etwas eklig zu ihr, aber danach habe ich mich ihr gegenüber immer nett verhalten. Sie sah in mir vermutlich so etwas wie einen älteren Bruder. Einen zehn Jahre älteren Bruder, wenn du es genau wissen willst. Wir waren einander versprochen, lange bevor sie überhaupt geboren wurde. Als wir heirateten, war sie fünf. Fünf, verstehst du? Möchtest du gerne mit einem Kind verheiratet sein? Jetzt wurde sie langsam erwachsen und entwickelte nicht zu verleugnende Reize, aber vorher? Ich bin nicht mein Vater. Habe ich dir erzählt, daß er meine Mutter umgebracht hat, weil es ihm nicht schnell genug gehen konnte? Ich wollte Lyantra nicht verlieren, darum geht es! In einem Jahr oder so wäre sie soweit gewesen. Aber jetzt …«
Er verharrte einen Moment reglos, die Schneide immer noch an Lonnìls Hals, und langsam wurden seine Augen wieder glasig. Seine Hand zitterte - Lonnìl spürte das Vibrieren des Messers auf seiner Haut und hielt die Luft an, hoffte, daß Felder es bei dieser Drohung belassen würde. Obwohl ihn kalte Angst überkam, zwang er sich, die Augen auf zu lassen und Felder ins Gesicht zu sehen. Endlich schien der Thorianer zu bemerken, was er gerade im Begriff war zu tun. Er ließ Lonnìl los und stand schwankend auf, immer noch auf das Messer blickend. Mit einer fahrigen Bewegung führte er die Klinge kurz an seinen eigenen Hals, schauderte und steckte sie schnell wieder weg. Dann streckte er die Hand aus, um Lonnìl aufzuhelfen, und grinste verlegen.
»Tut mir leid, daß ich dich gerade so überrumpelt habe. Ich weiß auch nicht, was da plötzlich über mich gekommen ist. Ich hätte dich nicht wirklich erstochen, mußt du wissen. Aber denk nächstes Mal nach, bevor du etwas sagst, wovon du nichts verstehst.« Felders Aussprache war nun ein wenig schleppend, und sein Grinsen hatte etwas Dümmliches an sich. Er hatte seine Maske wieder aufgesetzt, war wieder der gut aufgelegte, leicht betrunkene Kamerad, den kein Wässerchen trüben konnte. Aber seine Freunde konnte er damit nicht mehr täuschen.
Lonnìl blieb schweigsam. Er mußte an Felders unglückliche kleine Frau denken. War sie, waren alle Thorianer so geworden wie der Mann mit den leeren Augen?

Es tat weh, Felder in den nächsten Tagen sehen zu müssen. Die Begegnung mit dem Thorianer hatte ihn schwerer getroffen, als er sich im ersten Moment anmerken ließ, und die Aussicht auf ein Wiedersehen mit den Dunklen bereitete ihm ebenfalls große Probleme. Felder sprach nicht über das, was ihn bedrückte. Aber im Unterschied zu früher redete er auch ansonsten nur wenig; es war kaum möglich, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er verbrachte die meisten Vormittage damit, ungeduldig Ausschau nach einem geeigneten Bauernhof zu halten, auf dem er seine Flasche auffüllen konnte, denn was früher für drei bis vier Tage gereicht hatte, langte jetzt nicht einmal mehr bis zum Abend. Morren ignorierte die Verbissenheit, mit der Felder trank. Seit dem Tag des Kampfes hatte er kein Wort mehr darüber verloren, daß Felder sich zugrunde richtete. Vielleicht hatte er erkannt, daß ihm damit auch nicht zu helfen war. Keil wußte nicht, wie er sich verhalten sollte und was größer war: Seine Abscheu oder sein Mitleid. Sie kamen nur noch langsam voran, aber egal, wie sehr Felder ihnen zum Hindernis geworden war: Sie konnten ihn so nicht mehr allein lassen. Es war schon schlimm genug, wie Schwinge gestorben war. Jetzt durften sie nicht auch noch Felder verlieren.
»Gibt es denn überhaupt keine Möglichkeit, wie wir ihm helfen können?« fragte Keil an einem Abend unglücklich Lonnìl, als dieser eine Decke über den völlig hilflos am Feuer zusammengesunken Felder legte. Die Nächte waren schon empfindlich kühl. »Ihm scheint alles egal zu sein.«
»Er wünscht sich, es wäre so«, antwortete Lonnìl. »Aber er kann nicht länger verleugnen, daß er eine furchtbare Schuld auf sich geladen hat. Gleichzeitig kann er sie sich aber auch nicht eingestehen. Er versucht zu verhindern, daß er zu bereuen beginnt. Und daran zerbricht er langsam. Oder er ist es bereits.«
»Manche Schuld ist zu groß, als daß man mit ihr leben kann«, sagte Keil und dachte an Schwinge. Auch sie war an etwas zerbrochen, über das sie nicht sprechen konnte. Aber zumindest hatte sie schließlich den direkten Ausweg gewählt. Sie hatte sich nicht langsam umgebracht. »Wie lange, meinst du, wird es mit ihm so weitergehen?«
»Ich sage es dir jetzt ganz ehrlich: Ich denke nicht, daß es noch lange dauert. Etwas wird geschehen, wenn wir in Thoria sind. Entweder muß er sich endlich offen zu seiner Schuld bekennen, oder er wird es nicht überleben.« Lonnìl seufzte tief. »Er hat schon damals versucht, sich umzubringen. Und noch einmal könnte ihn Morren nicht retten.«
»Ich würde es auch gar nicht erst versuchen«, mischte sich Morren in ihr Gespräch ein. »Was zuviel ist, ist zuviel. Es war schon beim letzten Mal ein Fehler. Ich hätte erkennen müssen, daß ich die Entwicklung nur verzögern konnte, nicht verhindern. Sein Ende war absehbar, seit wir den Dunklen entkommen sind. Jetzt ist es nur eine Frage der Zeit. Wenn er früher gestorben wäre, würden wir ihn vielleicht in besserer Erinnerung behalten. So aber werden wir ihn vor Augen haben, wie er jetzt ist. Und wir werden ihn nicht vermissen.«
»Doch, das werde ich«, sagte Keil. »Was immer er ist, er ist mein Freund.«
»Ja, dafür hältst du ihn. Lonnìl vermißt auch immer noch Schwinge. Es ist das Glück von euch Sterblichen, daß ihr niemals die wahre Natur einer Person erkennen könnt.« Der Zauberer schnalzte mißbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Ein Leben ohne Illusionen wäre mehr, als ihr vertragen könnt. Sonst geht es euch wie ihm.«
»Früher warst du nicht so herzlos«, murmelte Lonnìl.
»Früher war ich nicht so ehrlich. Ich wollte euch schonen. Aber Felder hatte vollkommen recht: Egal, was ihr tut und egal, wie ihr lebt, irgendwann sterbt ihr alle. Auch wenn einige von euch es etwas früher tun als andere, es ist nur eine Frage der Jahrtausende, bis auch der letzte von euch tot ist. Trotzdem habt ihr mehr Glück als andere. An euch werde ich mich immerhin erinnern. Dies ist die einzige Unsterblichkeit, die ihr jemals erlangen könnt. Wenn ich euch einen Rat geben darf: Das ist zwar eine feststehende Tatsache, aber findet euch bloß nicht damit ab. Wenn ihr das tut, werdet ihr wie Felder.«
Mit diesen Worten drehte sich der Zauberer wieder beiseite und versank in grüblerischer Betrachtung seiner Kristallkugel, und er ließ Keil und Lonnìl in großer Verwirrung zurück.
Der nächste Tag war einer von der Sorte, an denen Felder keine Möglichkeit fand, um sich mit Alkohol zu versorgen. Dies bedeutete, daß er zwar extrem schlechter Laune war, aber immerhin nüchtern im Vergleich zu den vergangenen Tagen, und Keil versuchte zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder, ein Gespräch mit dem Menschen anzufangen. Das wollte Felder vielleicht nicht, aber er hatte es nötig. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie die thorianische Grenze erreichten.
»Du hast Angst vor dem, was uns in Thoria erwartet, nicht wahr?« fragte Keil vorsichtig. »Aber du mußt nicht mitkommen, wenn du es nicht willst.«
Felder schaute ihn lange schweigend an. Sein ganzes Gesicht war verquollen, seine Augen blutunterlaufen, aber am Schlimmsten war sein Gesichtsausdruck. Er war unglaublich traurig. Es lag keine Hoffnung mehr in Felders Blick.
»Ich sträube mich«, sagte er schließlich. »Ich will nicht nach Thoria, um nichts in der Welt. Aber es gibt auch keinen anderen Ort, an dem ich statt dessen sein möchte. Und ihr braucht meine Hilfe. Ich bin derjenige von uns, der Kontakt zu den Dunklen aufnehmen kann. Ich werde ihnen das Angebot machen. Von mir werden sie es annehmen. An euch haben sie kein Interesse.« Er mußte Keils zweifelnden Blick richtig gedeutet haben, denn erfuhr fort: »Ich weiß, was du denkst. Du glaubst nicht, daß ich euch im Moment irgendwie helfen könnte. Aber das ist nur die Angst, verstehst du? Ich mag nicht daran denken, und es gibt nur eine Möglichkeit, um das zu verhindern. Aber ich verspreche dir: Wenn wir Thoria erreichen, werde ich stocknüchtern sein. Es gibt Momente im Leben, da muß man das. Und das weiß sogar ich. Es gibt eine Art von Begegnung, bei der man einen klaren Kopf brauchen kann. Du weißt, was ich meine, Keil. Reden wir ein einziges Mal wirklich offen. Wenn wir in Thoria sind, werde ich sterben. Ich bin so gut wie tot. Und es ist nicht leicht, mit dem Wissen zu leben.«
Aber obwohl Keil Felders Erleichterung, endlich darüber gesprochen zu haben, förmlich spüren konnte, war die Unterhaltung damit auch schon wieder zu Ende. Felders Bedürfnis, allein zu sein, überwog seinen Drang, sein Herz auszuschütten. Die folgenden Tage verbrachte er wieder trinkend.

An dem Tag, an dem sie Thoria erreichten, schien die Sonne aus einem grellblauen Himmel, so als hätten sich die Götter entschlossen, ihm den letzten Tag seines Lebens so angenehm wie möglich zu gestalten. Aber sie unternahmen nichts gegen seine Kopfschmerzen, und auch die Bauchkrämpfe blieben da, wo sie die ganze Zeit waren. Felder freute sich nicht über das schöne Wetter. Wenn es ein Zeichen der Götter war, dann ein letzter Hohn. Außerdem hatte er schon lange aufgehört, an sie zu glauben. Selbst die Elfen hatten eine nettere Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Aber sie hatten schließlich mehr Zeit. Er selbst war gerade erst fünfundzwanzig, auch wenn er sich älter fühlte als jedes Wesen, das jemals gelebt hatte, Steine eingeschlossen. Jetzt wußte er nichts mehr, was er mit sich noch hätte anfangen können. Die ganze Zeit war ihm Schwinges Selbstmord nicht aus dem Kopf gegangen. Natürlich war sie heldenhaft im Kampf gefallen, aber Felder war sicher, daß sie in das Schwert gesprungen war. Sie hatte damit Lonnìl das Leben gerettet, und was für eine Schuld sie auch immer bedrückt hatte - bessere Buße konnte sie nicht tun. Schwinge hatte ihren Teil getan. Jetzt war es an der Zeit, daß er den seinigen tat. Zumindest sein Tod würde nicht umsonst sein.
Aus einem anderen Land nach Thoria zu kommen, war wie an einem klaren Tag plötzlich in eine Nebelwand zu laufen. Man konnte die Grenze sehen, nicht aber das, was dahinter lag. Nachdem sie die Moore einmal betreten hatten, gab es nichts mehr um sie herum als Nebel. Jetzt konnte es lange dauern, bis sie wieder herausfanden, auch wenn sie gerade erst zwei Schritte weit in das tote Land hinein getreten waren. Keil begann leise zu singen, aber das war das Letzte, was Felder jetzt hören wollte, und er fauchte den Elfen an, endlich Ruhe zu geben. Jetzt mußte er sich konzentrieren können.
Seltsamerweise fühlte sich Felder gar nicht mehr schwermütig. Die letzten Schritte aus dem Licht auf den Nebel zu waren die Schlimmsten; zum ersten Mal im Leben verspürte er den Drang, vor etwas davonzulaufen. Sein Verstand schrie nach Alkohol, nach einem Rausch, der den Stumpfsinn am Rande der Bewußtlosigkeit brachte. Wäre die Flasche nicht leer gewesen … Aber das hatte er jetzt hinter sich. Seine Kopfschmerzen und die Übelkeit waren verschwunden. Er verspürte endlich jene Leichtigkeit, die er in den letzten Tagen vergeblich zu erlangen versucht hatte. Es vermittelte ihm das beruhigende Gefühl, diesmal eine richtige Entscheidung getroffen zu haben. Das, was er vorhatte, war das Beste, wenn nicht für ihn, dann für die anderen. Felder fühlte sich sicher. Er hatte sich immer gewünscht, dem Tod einmal aufrecht gegenüber zu stehen. Und genau das würde er jetzt tun. Er hatte keine Angst mehr.
Dies waren die Moore von Thoria. Auf der ganzes Welt gab es kein toteres Stück Land, und keinen besseren Ort zum Sterben. Es war, als wäre er schon selbst ein Teil des Nebels.
Felder drückte ein letztes Mal Lonnìls Hand. Er hatte mit dem Bauern nicht über den Tod geredet, aber trotzdem wußten beide, daß dies die wohl letzte Gelegenheit war, sich von einander zu verabschieden.
»Bereust du es jetzt?« fragte Lonnìl. Was meinte er damit? Hergekommen zu sein? Oder auf den Tag, an dem die Dunklen mit Felder gespielt hatten? Es war egal. Auf beides konnte Felder nicht klar antworten.
»Wenn du eine Entscheidung, die du getroffen hast, bereust«, sagte er statt dessen, »und du die Möglichkeit hättest, sie rückgängig zu machen, würdest du es dann tun?«
»In jedem Fall«, sagte Lonnìl.
»Aber dann stündest du wieder vor der selben Entscheidung. Und es ist nicht gesagt, daß du beim zweiten Mal eine bessere Wahl treffen wirst. Dinge müssen ihren Gang gehen. Rückgängig zu machen würde bedeuten, den Lauf der Welt anzuhalten.«
Lonnìl reagierte nicht darauf. Aber er war auch gar nicht mehr da. Felder war allein im Nebel. Endlich war es soweit. Und irgendwie hatte er noch immer Angst.
»Dunkle«, sagte er leise. Immerhin zitterte seine Stimme nicht. »Ich bin gekommen, um mit euch zu verhandeln. Ich weiß, daß ihr mich hören könnt. Seid ihr bereit?«
Du bist zu uns zurückgekehrt, Dhelin von Thoria?
Die Stimmen schienen durch den Nebel von weit fern zu kommen. Dies war nicht das Dunkle Reich selbst, nur das Grenzgebiet.
»Ich bin gekommen, um mit euch zu reden. Laßt mich und meine Freunde in eure Welt.«
Letztesmal hattet ihr es eilig, wieder abzureisen.

»Die Zeiten haben sich geändert. Wollt ihr mein Angebot hören?«
Im Nebel vor ihm erschien ein schwarzes Portal. Ebenso, wie die thorianische Grenze eine Wand aus Nebel darstellte, hing jetzt vor seinen Augen eine Wand aus Dunkelheit. Er schritt hinein, und um ihn herum erstarb alles Licht.
»Sind die anderen auch hier? Ich möchte, daß ihr sie nachher unbescholten zurücksetzt, und möglichst nicht wieder in die Ödnis.«
Warum seid ihr überhaupt nach Thoria zurückgekehrt?

»Uns ist keine andere Möglichkeit eingefallen, Kontakt zu euch aufzunehmen.« Jetzt mußte er es sagen. Aber es war leichter als erwartet. »Ich biete euch einen Tausch an. Ihr seid im Besitz einer Laute aus Bein, mit der ihr, wie ihr sagt, nichts anfangen könnt. Ich möchte, daß Keil aus dem Volk der Alifwin sie bekommt. Als Gegenleistung … biete ich mich. Gebt Keil die Laute, und mein Leben ist eures.«
Das wäre ein schlechter Tausch. Was würde er uns bringen, das uns nicht schon längst gehört?

Die große Schwärze nahm ihn auf, und er spürte, wie er fiel, immer tiefer, immer tiefer …

In dem Moment, in dem sie Thoria betraten, spürte Keil bereits die Anwesenheit des Dunkels. Es schien ihn zu betasten, als ob die Dunklen noch nicht genau wüßten, wer er war und was er bei sich trug. Er fragte sich, wie es ihnen gelang, einen derart genauen Überblick über die Vorgänge in der Welt zu haben. Aber sie hatten genau gewußt, daß der thorianische König gestorben war, noch bevor die ansonsten gut informierten Elben etwas erfahren konnten. Auch jetzt spielten die Dunklen mit ihnen. Sie wußten sicherlich, daß Keil und seine Gefährten ihnen die Flöte brachten, und sie hätten sie jederzeit in ihre Welt holen können. Aber vermutlich hielten sie es für amüsanter, die Freunde noch einmal nach Thoria laufen zu lassen und zuzusehen, wie sehr sich Felder vor der Begegnung fürchtete und was er sich um ihretwillen antat. Auch wenn er jetzt freiwillig zu ihnen kam, haßte Keil die Dunklen mehr als jemals etwas anderes, und er fürchtete sie.
Der kalte Nebel kroch in seine Kleidung und legte sich wie ein eisiger Film auf seine Haut. Keil versuchte, etwas zu singen, aber er brachte keinen Ton heraus. Beim letzten Mal waren die Moore nicht so schrecklich gewesen. Nur das Dunkel selbst konnte noch schlimmer sein. Von seinen Freunden war jede Spur verschwunden.
»Ihr Dunklen!« rief Morren. »Wir sind gekommen -«
Mit einem Angebot, das wissen wir. Aber warum kommt ihr nicht herein, damit wir die Sache in Ruhe besprechen können? Es ist so feucht und kalt da draußen. Wir wollen doch nicht, daß ihr euch erkältet.

Keil wünschte sich, die Dunklen hätten sie wie beim ersten Mal einfach genommen und in ihre Welt geholt. Aber das taten sie nicht. Statt dessen öffneten sie vor ihnen ein Portal der Dunkelheit und überließen es ihnen selbst, hindurchzugehen. Sie wußten genau, daß Keil das nicht konnte. Das Dunkel stieß ihn ab, und ebenso wie er nicht in der Lage war, Eisen zu berühren, konnte er nicht die Schwelle zur Dunkelheit überschreiten.
Morren tauchte im Nebel auf, und ohne sich noch einmal nach den anderen umzusehen, betrat er das Dunkle Reich. Ihn folgte Lonnìl, der mehrmals nach Keil und Felder rief, ihn aber offensichtlich nicht sehen konnte und schließlich ebenfalls in dem Portal verschwand. Keil spürte, daß er alleine war. Wo immer Felder sein mochte - er war nicht mehr da. Alles Leben befand sich hinter einer Wand aus Dunkelheit, und er konnte nichts tun.
Warum kommst du nicht, Antroschinanarinu? Ohne dich kann der Tausch nicht stattfinden. Es sind nur zwei Schritte.

Keil wußte nicht, woher sie jetzt seinen Namen kannten. Beim letzten Mal hatten sie keinen Gebrauch davon gemacht. Ob sie es gehört hatten, als Schwinge …
Mach dir keine Sorgen darüber, daß die Jägerin dich verraten hätte. Wir kannten deinen Namen schon immer. Und wir rufen dich. Komm zu uns!

Als ob ihn ein unsichtbares Seil zöge, mußte Keil auf das Tor zugehen, langsam, mit winzigen Schritten. Jetzt wußte er, wie die Namensmagie funktionierte, wie sie sich anfühlte für diejenigen, die damit verzaubert wurden - Ohnmacht und Hilflosigkeit. Er schloß die Augen, aber das half nicht. Er konnte die Grenze spüren, als ob alles Leben aus ihm wich. Aber auf der anderen Seite wartete auch Lonnìl, um ihn aufzufangen, als er stürzte, und Morren beleuchtete seine Umgebung. Als Keil die Augen wieder aufschlug, sah er, daß sie wieder in der thorianischen Halle waren. Von Felder fehlte immer noch jede Spur.
Sehr schön. Das hast du gut gemacht, Flötenspieler. Und jetzt der Tausch. Gib uns die Flöte aus Eis, das mächtigste Instrument, das jemals existierte, und du bekommst dafür eine Laute aus Bein, die absolut nutzlos ist, aber auch keinen Schaden anrichten kann.

Keil zögerte. Wollte er das wirklich? Doch dann befahl Morren: »Gib ihnen die Flöte!«, und Keil gehorchte. Er zog mit zitternden Fingern das Instrument aus seinem Beutel, und weil er nicht wußte, wie er es den Dunklen geben sollte, legte er es vor sich auf den Boden. Noch nie zuvor hatte sich die Flöte so kalt angefühlt. Aber immerhin wollte sie jetzt nicht, daß er auf ihr spielte. Sie schien ihr neues Schicksal vollkommen akzeptiert zu haben. Zum ersten Mal überhaupt konnte Keil sie in der Hand halten, ohne daß ihm diese Melodie durch den Kopf ging. In dieser Welt hatte die Flöte keine Macht.

Das also war das Ende. Felder hatte sich den Tod immer so ähnlich vorgestellt, nur hatte er gehofft, daß es sehr schnell gehen würde und dann für immer vorbei war. In seinen Ohren rauschte das Blut, und er konnte hören, wie sein Herz schlug. Warum hörte es nicht endlich auf?
Du stirbst jetzt nicht, Dhelin. Wir haben uns entschlossen, dich am Leben zu lassen. Ein Opfertod zugunsten deiner Freunde ist edler, als du verdienst.

»Warum tut ihr mir das an?« fragte Felder. »Ich bin freiwillig gekommen. Ihr solltet euch freuen.«
Du hast uns einmal hereingelegt, Dhelin. Das ist noch niemanden zuvor gelungen. Und das werden wir dir nicht verzeihen. Wir hatten dir sogar noch eine zweite Chance gegeben, damals, in Thoria. Du erinnerst dich? Jetzt ist es zu spät. Wir wissen, daß du uns gehörst. Wir können warten. Es wird so oder so nicht mehr lange dauern. Du verdankst es nur Felder, daß du noch lebst. Aber ebenso ist es Felders Verdienst, daß du es nicht mehr lange tun wirst. Er geht mit dir nicht sonderlich pfleglich um. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du in besserem Zustand.

»Also laßt ihr mich am Leben?«
Im Moment, ja. Es gefällt uns, dich zu beobachten. Wir sind gespannt, was du als nächstes tun wirst. Werden wir einen weiteren deiner halbherzigen Selbstmordversuche erleben?

»Das könnte euch so passen! Was habt ihr mit meinem Volk gemacht?«
Mit den Thorianern? Nur das, was wir dir bereits zugesichert hatten: Wir haben sie gleichmäßig in der Welt verteilt und werden nie wieder einen von ihnen anrühren. Auf alle Zeit. Du bist einem von ihnen begegnet, nicht wahr? Jetzt kannst du uns endlich glauben, daß deine Leute wohlauf sind.

»Er war nicht wohlauf! Er war … Ihr wißt, was mit ihm war! Ihr habt ihn selbst zu dem gemacht! Sind alle … sind alle jetzt so wie er?«
Ja. Und du mußt zugeben, daß es nur das Beste für sie ist.

»Verwandelt sie zurück! Laßt nicht mein Volk dafür büßen, daß ich einen Fehler begangen habe!«
Du gibst zu, daß du einen Fehler gemacht hast?

»Ich hätte mich niemals mit euch einlassen dürfen. Ich hätte wissen müssen, daß ihr mich betrügen würdet. Aber jetzt habt ihr mich. Gebt meinen Leuten das zurück, was ihr ihnen weggenommen habt - ihre Zeit, ihre Erinnerung, ihre Gedanken!«
Das könnten wir gar nicht. Wir haben geschworen, sie nie wieder anzurühren - und was wir geloben, das halten wir auch. Glaub uns nur: Es ist wirklich das Beste, was ihnen zustoßen konnte. So werden sie niemals erfahren, was ihr König ihnen angetan hat.

»Ich habe ihnen nichts angetan! Ihr wart es!«
Waren wir das? Es ist immer leicht, die Schuld bei anderen zu suchen, nicht wahr? Aber du hast noch etwas Zeit, darüber nachzudenken. Vielleicht tust du es ja endlich einmal. Ansonsten … viel Vergnügen. Auf Wiedersehen.

Felder spürte, wie er weiter fiel, aber um ihn herum war es nicht länger schwarz. Lichtblitze flackerten vor seinen Augen, und erst jetzt merkte er, daß er sie geschlossen hatte. Dann schlug er mit dem Rücken auf der Erde auf. Er stöhnte vor Schmerzen und schnappte hilflos nach Luft. Das genügte, um ihm endgültig zu beweisen, daß er wirklich noch lebte. Die Dunklen hatten sein Opfer nicht akzeptiert. Sie hatten ihn fallen gelassen. Nun gut. Wenn sie glaubten, er gehöre ihnen in jedem Fall, dann hatten sie sich getäuscht. So schnell würden sie ihn nicht bekommen. Diesmal würde er nicht versuchen zu sterben. Er hätte schon viel früher auf den Rat seiner Freunde hören sollen. Es war keine Lösung, sich zu Tode zu saufen. Das Leben konnte so viele schöne Dinge bieten. Und er würde sie finden, koste es, was wolle.
Immer noch ächzend setzte Felder sich auf und sah sich um. Er war wieder in den Mooren. Von seinen Freunden fehlte jede Spur. Aber er wußte, daß er nur warten mußte.
Vielleicht hatten die Dunklen Recht, was die Thorianer anging. Wissen tat weh. Es war für sie wirklich das Beste, unwissend, aber glücklich zu sein. Am liebsten wäre Felder jetzt so geworden wie sie. Es gab Wissen, mit dem man nur schlecht leben konnte. Und es war unmöglich, es zu vergessen. Vielleicht würde es ihm eines Tages gelingen. Wenn er weiterleben wollte, mußte er es.
Irgendwie war es schon komisch: Auf der einen Seite war diese dritte Begegnung mit den Dunklen das schrecklichste Gespräch seines Lebens gewesen. Aber auf der anderen Seite hatte es ihm eine Angst von den Schultern genommen, die er hatte, seit er denken konnte: Diese Ungewißheit, was am Ende auf ihn zukam. Selbst das Grauen, das die Dunklen verbreiteten, war immer noch besser als ein Grauen ohne Namen. Immerhin wußte er jetzt, daß er nach seinem Tod nicht die Götter treffen würde.

Eine weise Entscheidung. Du wirst sie nicht bereuen, das versprechen wir dir. Du hättest nicht wirklich die Macht über deine Welt haben wollen, oder? Natürlich nicht. Wir wußten von Anfang an, daß du so handeln würdest. Das Schöne ist - wir mußten nicht einmal nachhelfen, nur den Dingen ihren Lauf lassen. Ihr alle seid so herrlich berechenbar, auch wenn wir den Tod der Jägerin mit Bedauern zur Kenntnis genommen haben. Aber es mußte sein. Sie war nicht lernfähig. Unter euch ist nur einer, dem es immer wieder gelingt, uns in Erstaunen zu versetzen.
»Ihr redet über mich?« fragte Morren.
Warum sollten wir? Du hast nichts anderes getan als das, was wir von dir erwartet haben. Aber Dhelin, oder, um ihn mit seinem gegenwärtigen Namen anzureden, Felder, wird uns noch spannende Augenblicke bereiten.

»Wo ist er überhaupt?« fragte Lonnìl. »Was habt ihr mit ihm gemacht?«
Nicht das, was er gerne gehabt hätte. Ihr werdet ihn hinterher wiedertreffen. Vielleicht haben wir ihn ein wenig schockiert. Aber es war nötig, ihm einmal gehörig den Kopf zu waschen. Das war ja nicht mehr mitansehbar! In der nächsten Zeit wird er sich zusammennehmen, das garantieren wir euch - es sei denn, es gelingt ihm schon wieder, uns einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Die Dunklen lachten.
»Ihr lenkt vom Thema ab!« sagte Morren mit harter, unerbittlicher Stimme. »Was ist mit dem Tausch? Gebt uns die Laute!«
Das ist nicht deine Entscheidung. Möchtest du es, Keil? Bist du zu uns gekommen, freiwillig und aus eigenem Antrieb?

Keil nickte. Er konnte immer noch nicht wieder sprechen. Als wäre ihn sein Hals zugeschnürt, konnte er weder einen Laut von sich geben, noch frei atmen.
Die Flöte glitzerte auf dem Holzboden bläulich im Licht von Morrens Hand. Dann geschah etwas Seltsames. Sie verschwamm, wurde erst undeutlich, dann unsichtbar, und dann bildete sich an ihrer Stelle ein neues Bild. Zunächst war es nur groß und unscharf, aber langsam gewann es an Form und Deutlichkeit. Zum ersten Mal sah Keil die Laute aus Bein. Wie sie dort lag, sah sie aus wie ein gewöhnliches Instrument aus einem grauweißen Material, daß man nur dann als Knochen identifizierte, wenn man es wußte. Aber eines unterschied sie von gewöhnlichen Lauten: Sie hatte keine Seiten, und auch keine Bünde, um welche aufzuziehen. Das letzte Instrument der Hohen war niemals fertig geworden.
Langsam bückte sich Keil, um die Laute aufzuheben. Aber in dem Moment, in dem er sie berührte, erlosch um ihn das Dunkel, und er stand wieder am Rand der Moore von Thoria. Die Laute hielt er in den Händen, und nun, wo er sie bei gewöhnlichen Licht betrachten konnte und keine Dunkelheit ihm den Atem raubte, sah sie noch unverständlicher und unfertiger aus. Aber sie war ein Instrument der Hohen, und würde sie ausreichen um die Alifwin in ihrem Wald zu beschützen, wenn sie fest genug daran glaubten. Auf der Laute spielt das Leid … Das zumindest stimmte. Und Keil würde niemals erfahren, ob sie wirklich soviel wert war.
»Vielleicht hatten sie ein paar Knochen übrig und wußten nicht, was sie damit anfangen sollten«, schlug Felder vor, der auf einem Findling hockte, sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließ und blinzelte. »Einen großartigen Tausch hast du da gemacht, Keil. Aber sag nicht, daß ich dich nicht gewarnt hätte. Die Dunklen haben bis jetzt jeden übervorteilt.«
»Sie haben mit dir gesprochen, nicht wahr?« fragte Lonnìl.
»So kann man das nennen. Ich möchte nicht darüber reden. Aber sagen wir es so - ich sehe jetzt einige Dinge etwas anders als vorher. Ihr braucht euch keine Sorgen mehr um mich zu machen.«
Was immer die Dunklen Felder gesagt haben mochten - sie hatten ihn zumindest wieder in gute Laune versetzt. Und das war eine ordentliche Leistung, verglich man es mit dem Menschen, der Felder in der letzten Zeit gewesen war.
»Und was machen wir jetzt? Wollen wir wieder zu den Elben gehen und ihnen vorschlagen, sie bekommen die Laute, nur geringfügig gebraucht, und wir ziehen alle in der Trommel ein?«
»Nein«, sagte Morren. »Wir gehen nach Hause.«
Und das taten sie auch.

Jetzt war der Augenblick gekommen, vor dem Keil sich all die Zeit etwas gefürchtet hatte: Es hieß, Abschied zu nehmen, sowohl von den Freunden als auch von dem Leben in Freiheit. Er würde seinem Volk gegenübertreten müssen, alleine, mit nichts als der Laute ohne Seiten, und erklären, wieso er nur ein Instrument bekommen hatte und was mit Schwinge passiert war. Erst jetzt merkte er, daß er auf seiner ganzen Reise sein Volk eigentlich überhaupt nicht vermißt hatte. Am liebsten wäre er bei Lonnìl und Felder geblieben. Aber die Pflicht und sein Volk riefen ihn.
Es war Abend, als sie den Waldrand erreichten. Die Sonne ging gerade unter und tauchte als blutrote Kugel den Himmel in ein rotgoldenes Licht. Konnte man im Wald solche Sonnenuntergänge sehen?
Sie errichteten ein letztes Lagerfeuer, und Felder machte es sich bequem, so als sei dies nur ein weiterer Abend von vielen. Aber er redete nicht dabei, und es war ihm anzusehen, daß ihn die Abschiedsgedanken genauso störten wie Keil. Wie immer seine Begegnung mit den Dunklen verlaufen war, sie hatte ihm gut getan. Auf der ganzen letzten Etappe der Reise war er wie ausgewechselt, nicht mehr jene jammervolle Gestalt, die mühsam den Weg entlang taumelte und dabei unverständliche Worte stammelte, sondern der unbekümmerte Mann, den sie kennengelernt hatten. Es ging ihm wieder gut, aber weder Keil noch Lonnìl glaubten, daß es lange anhalten würde. Früher oder später würde Felder sich selbst zerstören.
Eine Zeit lang saßen sie schweigend um das Feuer herum. Schließlich sagte Felder: »Nun, das ist heute vielleicht unser letzter Abend, aber das erklärt nicht, warum wir keinen Spaß haben sollten. Und wir müssen uns ja auch nicht endgültig trennen, nicht wahr, Lonnìl?«
»Was meinst du damit?« fragte Lonnìl.
»Stell dich nicht dümmer, als du bist. Du kannst mich brauchen. Es ist eine harte Aufgabe, alleine umherzuziehen und Grafen zu töten. Ich bin bereit, mich dir anzuschließen und meine Klinge in deinen Dienst zu stellen.«
»Nein«, sagte Lonnìl. »Ich danke dir für dein Angebot, aber ich werde es nicht annehmen, und ich sage dir auch, warum. Du wärst mir eine große Hilfe, und sicher hätte ich mit dir bessere Chancen, als wenn ich es alleine versuche. Aber der Punkt ist - du würdest es nicht aus Überzeugung tun, sondern aus reinem Vergnügen am Kämpfen und Töten. Und damit will ich nichts zu schaffen haben.«
»Ich wüßte nicht, wo für den Grafen der Unterschied liegt, ob er nun aus Überzeugung oder aus Vergnügen getötet wird«, murrte Felder beleidigt. »War ja auch nur ein Vorschlag. Ich komme sehr gut ohne dich aus. Du bist derjenige von uns, der den anderen nötig hat. Ich hatte sowieso eigentlich vor, ein richtiger Straßenräuber zu werden. Reisende überfallen und ausrauben und so weiter. Klingt wie eine abwechslungsreiche Beschäftigung und wird sicher niemals langweilig. Und was wirst du tun, Morren?«
»Ich werde die Weltherrschaft erringen«, sagte Morren, und alle lachten. Niemand kam auf die Idee, Keil zu fragen, was er machen würde.
Keiner von ihnen wußte so recht, was jetzt noch gesagt werden sollte, aber sie fühlten sich auch noch nicht müde genug, um sich schlafen zu legen. Das Feuer brannte langsam herunter.
»Wie wäre es mit einer Geschichte?« schlug Felder vor. »Zum Abschied?« Er rollte sich in seine Decke und blinzelte zu Keil hinüber. Aber statt dessen war es der Zauberer, der anfing.
»Nun gut. Ich denke, jetzt ist es an der Zeit für ein wenig Wahrheit. Es geht nicht an, daß Felder der einzige unter uns ist, der seine Lebenslügen aufgeben muß. Manche Dinge sind zu lange geheim gewesen. Es wird mir ein Vergnügen sein, sie euch zu erzählen. Das Verschwinden der Hohen. Niemand, außer den Zauberern, weiß, was aus ihnen geworden ist. Möchtest du es gerne wissen, Keil?«
Keil nickte sprachlos.
»Es geht die Legende«, begann Morren, »daß die Hohen diese Welt verließen und sie ihren Kindern, den Elben, Alifwin, Feen und Dunklen, vermachten. Das ist nicht die Wahrheit. Die Hohen sind niemals gegangen.«
»Aber wo sind sie dann?« fragte Felder, noch bevor der Zauberer das letzte Wort zu Ende sprechen konnte.
»Sie sind hier. Aber der Reihe nach. Die Hohen waren große Wesen, in ihrer Weisheit und Macht den Zauberern ebenbürtig, doch zahlenmäßig weit überlegen. Sie kamen nach den Drachen, und sie begannen, die Welt nach ihrer Vorstellung zu verändern. Durch die Hohen erlangte sie ihr heutiges Gesicht. Aber die Hohen konnten noch mehr, als nur verändern. Sie konnten Leben erschaffen. Und so schufen sie -«
»Ihre Kinder!« rief Keil. »Die Feen, die Elben und die Alifwin.«
»Falsch. Sie schufen die Kobolde, die Gnome und die Zwerge. Aber sie waren nicht zufrieden mit ihnen. Schließlich erkannten sie, woran es lag. Diese Völker, die man heute die Unterirdischen nennt, weil die Hohen sie verärgert vom Angesicht der Welt verbannten, waren von Anfang an so, wie sie heute sind: Fertig. Es war keine Entwicklung möglich. Und so versuchten die Hohen etwas Neues. Sie schufen ein weiteres Volk, aber sie erschufen zugleich eine eigene kleine Welt um diese Leute herum. Dort durfte sich das primitive Volk entwickeln. Es hatten eine sehr lange Entwicklung vor sich, aber die Hohen gaben ihm eine schnellere Zeit. Dann lehnten sie sich zurück und sahen zu, was ihr neues Spielzeug machte. Aber wie es nun einmal so ist, wurde es nach einiger Zeit es den Hohen langweilig, immer wieder zuzusehen, wie sich diese Menschen mit Keulen auf den Kopf schlugen. Irgendwann waren es keine Keulen mehr, sondern Schwerter, aber Köpfe blieben Köpfe. Die Hohen verloren das Interesse. Sie sehnten sich nach etwas wirklich Neuem. Und sie verloren ihre Einigkeit. Einige von ihnen sehnten sich nach Sterblichkeit. Sie wollten ein wenig so werden wie die Menschen, nur nicht so primitiv. Andere wollten den ganzen Tag lang nichts als spielen. Wieder andere sehnten sich nach unbegrenzter Macht und Unsterblichkeit, nach einem Leben ohne Zeit, und da Zeit und Licht eng miteinander verknüpft sind, beschlossen sie, ganz auf Licht, Körper und eine sterbliche Welt zu verzichten. Noch wieder andere wollten von allem etwas. Und so begannen sich die Hohen zu verändern. Sie spalteten sich auf und wurden zu den Völkern, die sich heute die ‘Kinder’ der Hohen nennen. Denn mit der Einigkeit verloren die Hohen alles, nicht nur ihre Macht, sondern auch das Wissen, daß sie selbst die Hohen waren. Ihre magischen Instrumente, letztlich auch bloß Spielzeug, teilten sie unter sich auf. Da war die Harfe aus Laub, jener Wald, den die Hohen zu ihrem Vergnügen erschaffen hatten, der nun den Feen eine angemessene Umgebung für ihre Spielchen bildet. Die Elben, das stark idealisierte Abbild der Menschen, nur intelligenter, besser entwickelt und mit Magie ausgestattet, bezogen die perfekte Festung, welche die Hohen in einer ihrer zahlreichen poetischen Anwandlungen die Trommel aus Stein genannt hatten und die vielleicht einmal dazu gedacht war, die Menschen aufzunehmen, wenn sie eines Tages bereit waren, in der richtigen Welt zu leben. Die Dunklen verließen die sterbliche Welt, um ihr eigenes Reich zu erschaffen, und sie nahmen die Laute aus Bein mit sich, von der nicht einmal sie selbst wußten, wozu sie gut sein soll. Übrig bleiben noch die Alifwin, jenes Volk, das sterblich und körperlich ist wie die Elben, nur nicht ganz so menschenähnlich, das zum Licht gehört wie die Feen, aber nicht ganz so sehr, und das nach Macht strebt wie die Dunklen, nur nicht in dem Maße. Sie erhielten - oder behielten, um genau zu sein - dasjenige der Instrumente, an das direkt das Geheimnis der Macht geknüpft ist. Denn wer auf ihr spielt, der erfährt den Namen der Welt
»Nein!« schrie Keil. »Hör auf!« Er wollte gar nicht mehr wissen.
Morren warf ihm nur einen strafenden Blick zu und fuhr unerbittlich fort: »Sie beschlossen jedoch, daß es das Beste war, wenn niemand diesen Namen kannte. Es war unmöglich, die Flöte zu zerstören, und so versteckten sie das gefährliche Instrument an einem Ort, an dem es niemand suchen würde. Danach gerieten die Dinge in Vergessenheit. Doch die Menschen hörten mit dem Ende der Hohen nicht auf zu existieren, und auch nicht, sich weiterzuentwickeln. Sie blieben sich selbst überlassen, und als sie schließlich durch Zufall diese, die wirkliche, Welt entdeckten und besiedelten, da waren sie nur noch ein verzerrtes Bild von dem, als was sie geplant waren. Die Hohen Völker erinnerten sich nicht mehr an sie, lediglich die Elben setzten in gewisser Hinsicht die Arbeit der Hohen fort und brachten den Menschen ein paar weitere nützliche Dinge bei - ohne zu wissen, daß sie damit den Untergang ihrer eigenen Zeit einläuteten. Denn die Menschen hatten allen anderen Völkern etwas voraus: Sie nutzen die Zeit. Die kurze Lebensspanne, die ihnen die Hohen gegeben hatten, ist nicht der Fluch, für den du sie immer gehalten hast, Felder, sondern ein Segen. Durch ihre Schnelligkeit und die Gabe, sich entwickeln zu können, übernahmen die Menschen die Herrschaft aus der Hand der Hohen. Sie sind ihre rechtmäßigen Erben.«
Nachdem Morren geendet hatte, herrschte ein langes, betretenes Schweigen. Dies war eine Geschichte, die gerade dadurch schmerzte, das sie wahr sein mußte. Jetzt kannte Keil also das Geheimnis der Hohen. Aber er wußte auch, daß er es niemals erzählen würde. Manchmal blieb man besser bei den schönen Sagen und Legenden.
Felder war der erste, der seine Sprache wiederfand. »Woher weißt du das?« fragte er. »Und wenn du es die ganze Zeit über gewußt hast, warum hast du es dann für dich behalten? Warum hast du uns auf der Suche nach diesen dämlichen Instrumenten quer durch die Welt gescheucht, wenn du in Wirklichkeit wußtest, was und wo sie waren?«
»Ich wußte es nicht«, antwortete Morren. »Ich stehe wie alle Zauberer unter dem Fluch, niemals alles mitzubekommen, was auf der Welt geschieht. Das ist der Grund, warum Zauberer ihre ganze Zeit mit Forschen verbringen. Sie versuchen, ihre Bruchstücke zu einer komplexen Geschichte zu ergänzen. Ich wußte fast alles über das Verschwinden der Hohen, das ist richtig, aber den Verbleib der Instrumente habe ich mir selbst zusammengereimt.«
»Aber was ist mit den Menschen?« fragte Felder weiter. »Woher weißt du so viel über das ‘unentwickelte Volk’, wie du uns zu nennen beliebst, wenn die Hohen sie in einer separaten Spielwelt gezüchtet haben, in die ihr Zauberer doch wohl kaum Einblick hattet?«
»Das ist eine gute Frage«, sagte Morren. »Und aus genau dem Grund werde ich sie auch nicht beantworten. Die besten Geheimnisse sollten geheim bleiben. Aber es gibt noch etwas, das ich gerne Lonnìl zum Abschied sagen würde. Nur ihm.«
Er winkte den großen Menschen zu sich herüber, und die beiden gingen für eine Weile fort. Als sie wieder zurück kamen, lächelte Morren, aber Lonnìls Gesicht war wie eingefroren. Er blickte finster zum Horizont, und plötzlich mußte Keil an Schwinge denken.
»Das ändert nichts mehr«, sagte er leise, mit zitternder Stimme. »Ich kenne meine Aufgabe. Ich werde nicht von ihr abweichen.«
»Bitte, wie du wünschst«, sagte Morren. »Dann nimm dieses Abschiedsgeschenk von mir.« Er deutete auf Lonnìl und machte eine wischende Geste mit der Hand. Im nächsten Moment waren Lonnìls Gewänder tiefschwarz. »Schwarz ist deine Farbe. Du wirst von nun an nur noch schwarz tragen, um deinem Namen Ehre zu machen.«
»Ich habe verstanden«, murmelte Lonnìl. Er wirkte erschüttert. Keil fragte sich, was Morren ihm erzählt hatte
Felder versetzte seinem Freund ein paar aufmunternde Knüffe, aber auch sie verfehlten ihre Wirkung. Mit grimmiger Miene ergriff Lonnìl seinen Stab. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er leise. »Allein.«
»Warte!« rief Morren. »Erst noch ein wenig Wahrheit für alle, wo wir gerade dabei sind. Habt ihr euch noch nie gefragt, warum die Zauberer neutral sind? Warum sie sich aus all diesen Kämpfchen heraushalten? Warum sie nicht versuchen, selbst die Herrschaft über die Welt zu erringen? Die Antwort ist denkbar einfach. Es kann uns egal sein, wer sich für den Herren der Welt hält. Wir haben die Macht bereits. Wir hatten sie schon immer, und wir werden sie auch immer behalten.«
Alle starrten den Zauberer entsetzt an, und keiner wußte, was er hätte antworten sollen. Aber dann erhob sich Felder.
»Da ist eine Sache, die ich schon ziemlich lange geplant hatte«, sagte er und baute sich vor Morren auf. »Von mir aus kannst du mich danach in Asche verwandeln, aber jetzt muß ich es einfach tun.«
Er holte aus und versetzte Morren einen Hieb ins Gesicht, der all jene Ohrfeigen in sich vereinte, die ihm der Zauberer im Lauf der Zeit gegeben hatte. Danach trat er zurück und erwartete mit herausfordernder Mine den Vergeltungsschlag. Aber Morren lächelte nur ungerührt.
»Ichn hatte mich schon gefragt, wann du das endlich einmal tun würdest«, war alles, was er entgegnete.
Danach sagte keiner mehr etwas. Am nächsten Morgen trennten sich ihre Wege für immer. Keil machte sich auf den Weg in die tiefen Wälder, die er nie wieder verlassen würde. Zum ersten Mal, seit sie damals von Fluß aufgebrochen waren, war er wirklich auf sich allein gestellt. Er drehte sich nicht mehr nach den Richtungen um, in die seine Freunde gegangen waren. Die Zeit mit ihnen war nun für immer vorbei. Auf seinem Rücken trug Keil die Laute aus Bein, und auch wenn sie kaum Gewicht besaß, drückte sie doch schwerer als jede Last, die er jemals getragen hatte. Doch in seinen Ohren klangen noch die Worte, die Felder ihm zum Abschied gesagt hatte: »Gut, es ist jetzt vorbei. Aber es wäre jetzt falsch von dir, nur daran zu denken, daß du diese Freiheit jetzt verlierst. Du mußt daran denken, daß du sie hattest, und dieses Glück haben nur die Wenigsten, und Elfen sowieso nicht. Was du jetzt erlebt hast reicht, um sich ein Leben lang daran zu erinnern, und solltest du dreitausend Jahre alt werden. Nichts dauert ewig an, aber solange man es hat, soll man das Beste daraus machen. Und das hast du. Du hast es geschafft, dir selbst treu zu bleiben, und das wirst du auch weiterhin tun.«
Keil lächelte bei der Erinnerung an die Worte. Sie hatten etwas sehr Tröstliches an sich. Leise begann er wieder vor sich hin zu summen. Die Melodie kam ihm bekannt vor, aber es dauerte einen Moment, bis er sie einordnen konnte. Das hatte Felder einmal gesungen. Alle Alifwin würden zustimmen, daß es ein sehr schönes Lied war, mit einer ungewöhnlichen, sehr fröhlichen Melodie. Den Text würde Keil aus gutem Grund für sich behalten - es würde nur halb so schön sein, wenn die anderen wußten, um was es eigentlich ging. Vielleicht würde er ein paar neue Verse dazu schreiben.
Er würde Felder und Lonnìl nicht vergessen. Diese Erinnerung konnte ihm niemand wegnehmen. Und Keil spürte, wie sein Herz wieder leichter wurde, als er hinaufblickte und durch das rote Herbstlaub der Bäume den blauen Himmel leuchten sah.
Der Wald hatte auf ihn gewartet.
Du bist zurückgekehrt, kleines Geschöpf.

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