Fünftes Kapitel

The splendour falls on Castle walls.
Alfred, Lord Tennyson

Konnte die Wirklichkeit jemals so schön sein wie ein Traum? Was, wenn sie sich als Enttäuschung herausstellte? Aber würden die Elben jemals eine Hohe Feste bauen, die nicht vollkommen in ihrer Schönheit war? Vielleicht hätte Keil noch den Rest des Weges über gegrübelt, hätte Schwinge ihn nicht aus seinen Gedanken gerissen.
»Was werden die Elben sagen? Werden sie uns hereinlassen, um unser Anliegen vorzutragen? Ich fürchte, sie werden uns abweisen, schon allein, weil wir von zwei … Menschen begleitet werden.«
Daran hatte Keil noch gar nicht gedacht, und der Gedanke machte ihm Angst. Aber sollten sie tun - Lonnìl und Felder einfach fortschicken?
»Du willst uns los sein, stimmt’s?« fragte Felder. Obwohl Schwinge wie üblich in der Hohen Sprache gesprochen hatte, schien der Mensch die Bedeutung ihrer Worte erraten zu haben. Keil mußte zugeben, daß dies nicht weiter schwer war.
»Es gibt da in der Tat ein Problem«, sagte Morren. »Mich wird man auf jeden Fall in die Elbenfeste einlassen, da Zauberer überall willkommen sind, und die Alifwin vermutlich auch. Es hat zwar, soweit ich weiß, in den letzten Jahrzehnten nur wenig Kontakte zwischen den Völkern gegeben, aber die Kinder der Hohen sollten einander in dieser Situation beistehen. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, daß die Elben jeden, der da so munter des Wegs kommt, einfach in ihre Feste lassen. Erst recht nicht, wenn es sich um zwei unbedeutende Menschen handelt.«
»Aber wir sind nur bedingt unbedeutende Menschen!« rief Felder, und seine Augen glänzten, als ob ihm gerade ein Einfall kam. »Einer von uns beiden ist ein Prinz. Und Prinzen neigen dazu, in diplomatischer Absicht in fremde Länder zu reisen. Warum sollte nicht auch ein Menschenprinz Kontakte zum Elbenkönig knüpfen? Und jeder Prinz braucht einen Diener, der ihn begleitet. Wo liegt nun das Problem?«
»Es liegt darin, daß ein Prinz, dessen Fahne nicht Aufschluß über sein Land, sondern über seinen Schnapsbrenner gibt, Probleme haben dürfte, überhaupt vorgelassen zu werden, insbesondere, wenn er durch keine Briefe oder Boten angekündigt wurde«, sagte Morren. »Vor allem dann, wenn er sich zudem kleidet und benimmt wie ein Bettler.«
»Und ich werde niemals deinen Diener spielen«, fügte Lonnìl hitzig hinzu. »Ich bin ein freier Mensch und niemands Sklave - erst recht nicht deiner.«
Felder mußte mit genau diesen Einwänden gerechnet haben, denn er lachte nur, während er sein Gepäck durchwühlte. Keil warf über seine Schulter einen neugierigen Blick in die Tasche, welche Felder sonst nur selten öffnete, konnte aber außer einem Durcheinander nichts erkennen. »Er muß hier irgendwo sein …«, murmelte der Prinz. Endlich hatte er gefunden, wonach er suchte. Aus den wirren Tiefen beförderte Felder einen hübsch gearbeiteten Stirnreif aus geflochtenem Silber ans Licht. Vermutlich war er nichts im Vergleich zum kunstvollen Schmuck der Elben, aber auf seine schlichte, etwas primitive Art gefiel er Keil ganz gut. Der Reif war ungefähr so breit wie Felders Daumen und aus fünf miteinander verstrickten Drähten geflochten. Er glänzte in der Sonne, als Felder ihn triumphierend hochhielt. »Man läßt nicht zu, daß ich Thoria ohne dieses Dings verlasse. Es wiegt nicht viel, also trage ich es mit mir rum. Und man weiß nie, wann man überraschend einmal Geld braucht. Ich fürchte nur, er könnte eine Spur zu klein sein.«
»Hast du ihn noch nie getragen?« fragte Keil erstaunt. Es war irgendwie eine Schande, so einen Reif zu verstecken, statt ihn zu tragen. Und sowohl das Silber als auch das schlichte Muster mußten gut zu Felders dunkelbraunen Locken passen.
»Ich? Aber sicher doch«, lachte Felder. »Aber Lonnìl ist ein Stück größer als ich, und das kann auch auf seinen Kopf beziehen. Probier mal!« Er reichte Lonnìl den Reif.
»Was soll ich damit?« fragte Lonníl.
»Aufsetzen! Ich habe mit keinem Wort verlangt, daß du den Diener spielen sollst. Den gebe ich. Ich bin schon oft genug Prinz gewesen, und wie Morren bemerkte, nicht besonders überzeugend in dieser Rolle. Du bist dran.«
»Niemals!« rief Lonnìl und ließ den Stirnreif fallen wie eine giftige Schlange. »Ich bin kein Prinz, und ich werde mich niemals als solcher ausgeben!«
»Aber du gäbest sicher einen hervorragenden Prinzen ab! Diesen Edelmut kann man förmlich sehen! Etwas passende Kleidung, und jeder König gibt dir seine Tochter zur Frau. Was die Kleidung angeht - ich habe irgendwo da drinnen noch ein weißes Hemd, das ich so gut wie nie getragen habe. Es könnte dir passen. Im Sitzen bist du nicht viel größer als ich, und … Wieso willst du nicht? So eine Gelegenheit bekommst du nie wieder!«
Er bückte sich nach dem Reif und begann, ihn an seinem Umhang zu polieren. Das war wohl auch nötig, denn bei genauerer Betrachtung bemerkte Keil die dunklen Flecken und stumpfen Stellen, die das Metall bekommen hatte. Vermutlich war es kein besonders gutes Silber, nicht mit dem elbischen zu vergleichen. Oder Felder hatte sich seit langer Zeit nicht mehr um das Schmuckstück gekümmert. Auch Morren war es aufgefallen.
»Sag mal, wie lange ist es her, daß du zuletzt Zuhause warst?« fragte er.
»Wie, Zuhause?« Felder war irritiert. »Meinst du, am heimischen Hof? Vor zweieinhalb Jahren habe ich dort überwintert. Erinnere mich nicht daran! Wenn es etwas gibt, das schlimmer ist als Thoria, dann Thoria im Winter! Seitdem versuche ich, nicht jedes Mal zu meinem alten Herren zu laufen, wenn mir das Geld ausgeht. Sie könnten auf die Idee kommen, mich da zu behalten. Aber ich lasse mich ungern einsperren.«
»Bist du bekannt in Thoria?« fragte Morren weiter.
»Da gehe ich von aus. Natürlich kennen mich nicht alle persönlich, obwohl ich immer bemüht war, Kontakte zum einfachen Volk zu knüpfen. Aber gewisse Dinge scheinen sich herumgesprochen zu haben, so daß mich dort bestimmt jeder zweite auf der Straße erkennen würde. Prinz Schlangenauge, so nennen sie mich. Gefällt mir irgendwie.«
»Und du möchtest, wenn ich das richtig verstehe, Lonnìl als Prinzen von Thoria ausgeben? Wie gedenkst du vorzugehen? Willst du ihm das Gesicht zerschneiden, damit er dir ähnelt? Glaubst du nicht, der Ruf deiner schillernden Persönlichkeit könnte dir bis Dolua’d’llán vorausgeeilt sein?«
»Ähe …« sagte Felder. »Kann man da nicht irgendwas machen? Mit Zauberei, meine ich?«
»Ich könnte vielleicht etwas in der Richtung tun, wenn die Idee gut wäre und wir alle damit einverstanden. Da sie jedoch nichts weiter ist als ein Hirngespinst von dir, werde ich mich hüten. Wenn wir schon einen«, Morren hüstelte, bevor er weiter sprach, »funktionstüchtigen Prinzen dabei haben, sollte der auch die Rolle des Prinzen übernehmen, meinst du nicht auch? Es sei den natürlich, dir fehlt tatsächlich jegliche Fähigkeit, bei Hofe aufzutreten. Was machst du, wenn du in Thoria bist?«
»Ich trinke, würfle, schwenke mein Schwert und treffe mich mit Mädchen. In willkürlicher Reihenfolge.«
»Also gut«, sagte Morren und zuckte die Schultern. »Wir treffen euch dann vor der Feste wieder, wenn wir fertig sind. So wird das nichts. Lonnìl will den Prinzen nicht spielen, und du kannst es nicht. Man sieht sich!«
»Halt, halt!« rief Felder schnell. »Es ist ja nicht so, daß ich nicht durchaus Stil hätte, wenn es sein muß! Ich verstehe mich auf höfisches Tanzen, gehobene Konversation in verschiedenen Sprachen, kann mich elegant bewegen und bin in der Lage, mich äußerst geschmackvoll zu kleiden. Ich will nur nie. Ich meine - jetzt will ich!«
Er begann wieder, wie im Fieber seinen Beutel zu durchwühlen. Schließlich schüttete er den gesamten Inhalt auf dem Boden aus. Offensichtlich fiel niemand außer Keil und Schwinge der Geruch von altem Schweiß auf, der über den Kleidern lag. Keil hoffte, daß Felder sie schnell wieder einpacken möge.
»Hier habe ich es!« rief Felder und hielt ein Hemd aus feinem, weißem Stoff hoch. Es hatte tatsächlich so gut wie keine Flecken. Dafür war es völlig verknittert. »Und irgendwann gab es auch einmal ein passendes Wams dazu, aber ich glaube, das habe ich in Thoria gelassen. Ihr werdet sehen - wenn ich erst einmal dieses Hemd anhabe, dann steht ein leibhaftiger Prinz vor euch.« Er ließ seinen geflickten Umhang und seine braune Tunika achtlos zu Boden fallen. »Ich könnte natürlich auch ganz ohne Hemd gehen. Man hat mir schon oft gesagt, daß ich einen wahrhaft prachtvollen Oberkörper habe. Kein Fett, alles reine Muskeln und Sehnen.«
‘Und Haare’, fügte Keil in Gedanken hinzu. Zumindest hatte Felder seine Hosen anbehalten.
»Zieh sofort das Hemd an!« rief Morren entgeistert. »Sonst gibt es ernsthaften Ärger. Wir gedenken die Feste bei Tag zu betreten, und durch das Eingangsportal, nicht nachts durch ein Fenster im Damentrakt. Warte, ich helfe dir!«
Im nächsten Moment bedeckte das Hemd Felders sehnigen Oberkörper. Der Mensch starrte an sich hinunter, als habe er Morrens Wink gar nicht mitbekommen und wundere sich nun, was mit ihm geschah. Der Zauberer betrachtete kritisch sein Werk und war augenscheinlich noch nicht zufrieden. Keil verstand, wieso. Auch mit dem weißen Hemd sah Felder nicht ordentlicher aus als zuvor. Es war zu zerknittert und hing an ihm hinunter.
»Ich fürchte, es artet in Arbeit aus«, seufzte Morren. »Ich werde deinen Sachen ein etwas anderes Aussehen verpassen. Verwandeln werde ich sie nicht. Es bleiben die gleichen Lumpen wie bisher. Nur eine kleine Illusion. Nimm den Umhang!«
»Wird das niemand durchschauen?« fragte Keil, während Morren Felder mit höfischer Kleidung umgab. Zumindest Morren schien ein Gefühl dafür zu haben, was Menschen tragen sollten. Rot - »Ich nehme an, daß weinrot dir sympathisch ist« - stand Felder ganz ausgezeichnet, und die hellroten Beinkleider wirkten nur auf den ersten Blick schreiend.
»Niemand wird es durchschauen«, antwortete Morren, »weil niemand es durchschauen will. Die Elben sind zartfühlende Gestalten. Sobald sie merken, daß Zauberei in diesem Gewand am Werke ist, werden sie mir dankbar sein, daß ich ihnen nicht Felders ursprünglichen Anblick zumuten wollte.«
»Aber ich sehe einfach nur lächerlich aus!« jammerte Felder. »So … unmännlich! Niemand in Thoria trägt gepolsterte Schultern. Könntest du mich nicht … anderswo auspolstern? Nicht, daß ich es nötig hätte, aber …«
»Ich wüßte nicht, warum es nötig sein soll, deine Knie noch stärker hervorzuheben«, sagte der Zauberer lachend. Keil begriff nicht, was daran so lustig war. »Dies ist nicht direkt elbische Mode, aber nach elbischen Vorbild. Du wirst darin bei Hofe hinreißend aussehen. Und vergiß deinen Stirnreif nicht!« Morren war kaum jemals so vergnügt gewesen. Keil kam es so vor, als nutze Morren diese Gelegenheit, um Felder all die nervenden Fragen heimzuzahlen. Davon abgesehen, hatte er wirklich eine exzellente Arbeit geleistet. Sogar Schwinge sah Felder jetzt fast wohlwollend an. Nur Lonnìl konnte sich nicht mehr halten. Er brach bei Felders neuem Anblick in lautes Lachen aus.
Vielleicht waren Felders neue Hosen so rot wie Feuer. Aber der Blick, den er jetzt Lonnìl zuwarf, war aus Eis.
Während sie weitergingen und Keil mit jedem Moment erwartete, Dolua’d’llán durch die Bäume schimmern zu sehen, verwandelte sich Felder weiter, aber diesmal ohne Morrens Zutun. Er paßte seine Bewegungen seinem neuen Äußeren an. Sonst hatten seine Schritte immer etwas Hüpfendes an sich, er schien nicht ruhig neben jemandem hergehen zu können, sondern federte auf und ab und umkreiste seine Gesprächspartner, als wolle er verhindern, daß sie wegliefen. Wenn er nicht gerade mit jemandem sprach, pflegte er achtlos zu schlurfen, und manchmal zeigte er eine große Begabung darin, über vorstehende Steine zu stolpern, weil er nicht auf den Weg geachtet hatte. Aber jetzt bewegte er sich anders. Er setzte einen Fuß vor den anderen, so als liefe er auf einer unsichtbaren Linie, und er trat immer nur mit den Zehenspitzen auf. Aus seinen etwas klobigen Lederstiefeln hatte Morren Schuhe mit langen Spitzen gemacht, und in diesen schritt Felder nun voran, als habe er sein Lebtag nichts anderes gemacht.
»Ich hoffe, niemand wird erwarten, daß Wir tanzen«, bemerkte er. »Ich meine, ich bin ein wirklich guter Tänzer, aber ich bezweifle, daß ich an die Elben heranrage. Und ich fand immer schon, daß es nur eine Sache gibt, für die es sich lohnt, zu einem Ball zu gehen.«
»Die Getränke, nehme ich an?« fragte Morren lächelnd.
»Nein, ausnahmsweise nicht die Getränke. Es ist ja nicht so, als ob ich keine anderen Interessen hätte als Saufen, und das wißt ihr auch. Aber die jungen (und auch die nicht mehr ganz so jungen) Damen der Gesellschaft waren immer ganz wild darauf, mir vorgestellt zu werden, um mit mir zu tanzen. Und ich habe sie verblüfft durch meine Fähigkeit … fremde Sprachen zu sprechen.«
»Entzückend«, sagte Morren. »Und wo wir gerade dabei sind: Ich muß nicht mehr extra betonen, daß ich von dir erwarte, daß du nüchtern wirst -«
»Ich bin nüchtern!« protestierte Felder.
»- daß du nüchtern bleibst, bis wir Dolua’d’llán verlassen - und nach Möglichkeit auch noch danach.«
»Ich weiß, wie ich mich zu benehmen habe«, entgegnete Felder würdevoll. »Ich werde euch keine Schande machen. Kümmert euch lieber einmal darum, daß Lonnìl es ebenfalls weiß. Er soll nicht plötzlich auf die Idee kommen, Elbenadligen auf den Kopf zu hauen, um ihr geknechtetes Volk zu befreien.«

Dolua’d’llán war eins mit dem Berg. Niemand konnte sagen, wo der natürliche Felsen aufhörte und das Mauerwerk anfing. Die Sonne beleuchtete die Zitadelle nicht nur von hinten - sie machte, daß ganz Dolua’d’llán in sich strahlte. Welche Farbe der Stein hatte, war nicht genau zu erkennen. Während sich der untere Teil, der natürliche Felsen, in seinem bleiernen Grau nicht von den anderen Bergen unterschied, schimmerte der obere Teil rosagolden wie der Sonnenuntergang, aber die Farben gingen so fließend ineinander über, daß kein Bruch zwischen ihnen zu erkennen war. Der Berg wurde zur Burg, als ob keine fremde Kraft ihn dazu hätten ermutigen müssen.
Die Hohe Elbenfeste trug ihren Namen nicht zu Unrecht. Sie streckte sich so weit gen Himmel, daß die obersten Zinnen die Wolken zu berühren schienen. Keil wurde schwindelig angesichts solcher Größe. Der Anblick von Dolua’d’llán, wie es plötzlich hinter zwei sonnenbeschienen Gipfeln auftauchte, war das Schönste, was er jemals gesehen hatte. Und die anderen schienen ebenso zu denken. Selbst Morren, den sonst nie etwas zu berühren schien, wirkte entrückt, und der hartgesottene Felder riß vor Staunen Mund und Augen weit auf. Und zum ersten Mal seit vielen Tagen lächelte Schwinge.
Bei aller Größe wirkte die Feste zugleich anmutig und uneinnehmbar. Die zarten Türmchen und geschwungenen Bögen versuchten gar nicht, darüber hinweg zu täuschen, daß dies ein massiver Felsen war, in den keine fremde Macht eindringen konnte, wenn die Bewohner es nicht ausdrücklich erlaubten. Und hätten sie nicht ausdrücklich danach gesucht, so hätten die Gefährten das versteckte Tal gar nicht erst gefunden. Nur einen schmalen Zugang gab es durch den hohen Felsenkessel, in dessen Mitte sich der einzelne Berg von Dolua’d’llán erhob.
Keil konnte sich nicht vorstellen, wie sie hineingelangen sollten. Zwar waren überall Fenster, aber auf Höhe des Bodens waren keinerlei Eingänge zu erkennen, nicht einmal, als sie direkt davorstanden. Mit langsamen, andächtigen Schritten umrundeten sie den Fuß, die Köpfe im Nacken, um so viel wie möglich von der Pracht in sich aufnehmen zu können. Einzig Morren richtete sein Augenmerk auf den Stein direkt vor ihm.
»Ich weiß, daß es einen Eingang gibt«, murmelte er. »Ich bin schon mehrmals hier gewesen. Aber von außen ist das Tor gut verborgen. Mit Sicherheit wissen die Elben von unserem Kommen. Ihnen entgeht nichts von dem, was sich hier in der Gegend ereignet, und wir haben unterwegs mindestens zwei Späherposten passiert. Zum Glück sehen wir jetzt alle manierlich aus. Wir müssen nur warten. Sie werden uns bestimmt bald einlassen.«
»Vielleicht gibt es ein magisches Wort, das den Weg öffnet?« schlug Keil vor. Er dachte an eine alte Geschichte, in der sich ein Berg auftat, wenn man ihm ein einziges Wort sagte: Freund.
»Es ist merkwürdig«, sagte Morren. »Ich kann mich nicht erinnern. Dabei vergessen Zauberer niemals etwas. Es ist mir noch nie aufgefallen, aber … die Elben scheinen größere Zauberkraft zu besitzen, als man erwarten sollte. Laßt uns hier warten. Mehr können wir im Moment ohnehin nicht tun.«
Sie setzten sich in das Gras, das heller und weicher war als alle Wiesen, die Keil kannte. Die ganze Landschaft schien zu wissen, was für eine Kostbarkeit sie beherbergte, und sie tat ihr Bestes, um als Umgebung würdig zu sein. Dies war das schönste Fleckchen Land auf der ganzen Welt. Ob nun die Trommel aus Stein hier gehütet wurde oder nicht, zumindest paßte der Name, unter dem die Feste bei den Alifwin bekannt war: Doluadilan. Dies war wirklich der Ort, von dem Ruhe und Frieden kamen, und nichts konnte diese Idylle stören. Nicht einmal in den großen Kriegen, als die Zwerge alles verwüsteten, was mit den Hohen Völkern zusammenhing, waren die Horden hier eingefallen. Und selbst wenn sie gekommen wären - bei diesem Anblick wären sie ruhig und in Frieden wieder umgekehrt. Nicht einmal ein Zwerg hätte es gewagt, Dolua’d’llán zu zerstören. Nicht einmal die Menschen würden.
Keil nahm die Silberflöte und begann, die Melodien zu spielen, die in seinem Herzen wuchsen. Wenn es einen Ort für sie gab, dann hier, denn die Elben hatten diese Flöte gemacht, und sie schien zu spüren, daß sie Zuhause war. Jedes Instrument besaß eine Seele und einen eigenen Charakter. Was immer er auf der Silberflöte spielte klang leicht und fröhlich, selbst wenn es eigentlich eine schwermütige Melodie war. Mit der Knochenflöte verhielt es sich genau umgekehrt.
Einzig Felder blieb stehen und starrte aus einigen Schritt Entfernung hinauf zu den schimmernden Zinnen. Sein Gesicht war beeindruckt, mehr noch, es war ehrfürchtig.
»Was ist?« fragte Lonnìl. »Warum setzt du dich nicht?«
»Ich möchte nicht, daß meine edlen Kleider Grasflecken bekommen«, entgegnete er und sah für einen Moment geradeaus, um Morren spöttisch zuzunicken. Dann machte er einen kleinen Schritt zur Seite und legte den Kopf schief beim Versuch, das Sonnenlicht an den verschiedensten Stellen einzufangen. »Ist sie nicht wunderschön?« flüsterte er. »Ich habe alles erwartet, aber nicht, daß sie so schön sein würde. Wenn ich jemals die thorianische Burg wiedersehe, werde ich weinen in der Erinnerung an diese Perfektion.«
»Ich möchte nicht noch einmal hören«, warf Morren dazwischen, »wie du Lonnìl wegen seiner romantischen Anwandlungen lächerlich zu machen versuchst.«
Aber Felder beachtete ihn gar nicht. Mit einem verzückten Lächeln bestaunte er die elbische Baukunst.
Sie mußten nicht lange warten. Nach einiger Zeit kamen drei Elben auf sie zu, die in prachtvolle violette Gewänder gekleidet waren. Keil konnte nicht sagen, wo sie so plötzlich herkamen. Schnell standen die Alifwin auf und verneigten sich, und Morren und die Menschen taten das gleiche.
»Ich grüße die Hüter von Dolua’d’llán«, sagte Morren. »Mit mir reisen Schwinge vom Waldvolk und Keil vom Flußvolk. Wir kommen in Frieden, und da unser Anliegen dringend ist, bitten wir um Einlaß.«
»Und ich«, fügte Felder eilig hinzu, »komme ebenfalls in friedlicher Absicht und erbringe Grüße vom menschlichen Hof in Thoria. Ist es möglich, daß ich eine Audienz beim Herrscher dieser Feste bekommen kann? Ich reise nur in Begleitung meines … Dieners.«
Die Elben warfen sich einige kurze Blicke zu. Ihnen war eindeutig bewußt, daß alle fünf Gäste gemeinsam gekommen waren. Aber sie sagten nichts. Diejenige, welche von den dreien die Älteste zu sein schien, trat vor.
»Ich bin Amalis. Bitte folgt uns. Talinas, der Herr von Dolua’d’llán, wird euch empfangen.«
Ihre Stimme war freundlich, und auch die beiden anderen lächelten. Aber Keil entgingen auch nicht die langen, silbernen Schwerter, die an ihren Seiten hingen. Er warf einen schnellen Blick zu Felder hinüber, der sie natürlich ebenfalls bemerkt hatte. Einen Moment lang glomm Begierde in den Augen des Menschen auf, aber dann legte er eine Hand auf den Knauf seines eigenen Schwertes, und er nickte zufrieden. Felders Gesichtsausdruck in diesem Augenblick war alles, an was Keil sich erinnern konnte, wenn er sich später fragte, auf welchem Weg sie Dolua’d’llán denn nun betreten hatten.

Während Morren und die Elfen sich wahrscheinlich köstlich amüsierten, saß Felder auf einem ungemein bequemen Bett und langweilte sich. Es fing schon wieder an. Kaum betrat er eine Burg, schon wurde er in ein Zimmer gesperrt. Und es war nicht besonders aufmunternd, daß er dieses mit seinem ‘Diener’ Lonnìl teilen durfte. Als Gesellschaft war der Bauer unbrauchbar. Sofern sich Schwinge in seinem Blickfeld befand, gab er hauptsächlich verliebte Seufzer von sich. Und jetzt, wo er sie nicht mehr vor Augen hatte, seufzte er sehnsüchtig. Unter normalen Bedingungen hätte Lonnìl der beste Freund sein können, den Felder sich vorstellen konnte. Aber nachdem er sich derart in die Sache hineingesteigert hatte, war nicht mehr viel mit ihm anzufangen.
»Sie haben uns abgeschoben«, murrte Felder. Seidene Bettvorhänge mochten durchaus ihre Vorzüge haben, aber hier war niemand, mit dem er dahinter hätte verschwinden können. Es gab aber auch wirklich nichts zu tun. »Eingesperrt.«
»Mhm«, sagte Lonnìl und seufzte.
»Du hättest nicht zufällig Lust, dich mit mir zu prügeln?« Der Raum, in den man sie gesteckt hatte, war groß genug.
»Nein.« Seufz.
Da er nichts anderes zu tun hatte, fuhr Felder damit fort, den Silberreif zu polieren. Er ging jetzt schon in die dritte Runde, und inzwischen waren auch wirklich alle angelaufenen Stellen verschwunden, aber es war immer noch besser, als überhaupt nichts mit den Händen machen zu können. Warum nur hatte Morren Felders Würfel verschwinden lassen? Gut, Lonnìl hätte nicht mitgespielt, und es machte wenig Spaß, sich selbst zu bescheißen - aber trotzdem!
»Warum kannst du nicht einfach stillsitzen?« fragte Lonnìl.
»Ich hasse Stillsitzen.«
Gab es irgendeine Ecke, die er noch nicht erkundet hatte? Was war das für eine hübsche silberne Schnur, die aus einem Loch in der Wand kam? Probeweise zog Felder daran. Aber nichts rührte sich, und er bekam schon fast Lust, die Obstschale durchs Zimmer zu schleudern, als plötzlich ein junger Elb im Zimmer stand.
»Ihr habt geläutet?« fragte der Diener - Felder erkannte einen Diener, wenn er ihn sah. Also war die Schnur doch zu etwas gut!
»Ich denke, das kann man so sagen«, sagte Felder. »Ich hätte gerne …«, er hielt inne. Was konnte er bestellen, ohne sich sofort in Verruf zu bringen? Würfel würde er wohl kaum bekommen, und mit allergrößter Wahrscheinlichkeit gab es unter den Elben keine Huren - aber von deren Angebot hatte er auch in Thoria nur selten Gebrauch gemacht. Der eigentliche Reiz des Eroberns ging ihnen ab. Was er jetzt brauchte war etwas Unverfängliches. Etwas, das sein hohes Niveau bewies. »Äh, etwas zu lesen, falls das möglich ist. Und außerdem … etwas Gutes zu trinken.«
Als er Morren versprochen hatte, nüchtern zu bleiben, da war noch nicht von Stubenarrest die Rede gewesen. Und außerdem war es sein gutes Recht, die elbischen Sitten und Gebräuche kennenzulernen, und dazu zählten auch landestypische Spezialitäten. Der Elb nickte und verschwand. Felder fragte sich, was er wohl bekommen würde. Alles in Dolua’d’llán war erlesen schön, kostbar und in jeder ästhetischen Hinsicht vollkommen. Und was für Bau und Möbel galt, das mußte auch für Speis und Trank gelten. Vermutlich war der beste thorianische Wein ein übler Fusel, verglichen mit dem, was es bei den Elben zu trinken gab.
»Mußte das sein?« fragte Lonnìl und blickte leidend - eigentlich hatte er den ganzen Tag über noch nichts anderes getan. »Du hattest doch gesagt -«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich verdursten will!« sagte Felder. Und da kam auch schon der Elbendiener zurück, einige Schriftstücke im Arm. Er wurde von einem zweiten begleitet, auf dessen Tablett eine gläserne Karaffe und zwei Kelche standen. Sie luden ihre Last auf dem hübschen Tischchen ab und gingen wieder, nachdem sie sich höflich verneigt und Felder sich vielfach bedankt hatte.
Der Krug war fast bis oben gefüllt mit einer klaren, leicht bläulichen Flüssigkeit, die nicht wie Wein aussah. Neugierig goß Felder sich einen Kelch ein und roch daran. Es roch nach gar nichts. Vorsichtig nahm er einen Schluck. »Aber … das ist Wasser
»Dann dürfte es deinen Durst doch wohl stillen«, sagte Lonnìl ernst, aber Felder entging nicht das schadenfrohe Funkeln in seinen Augen.
Wasser war für Felder etwas, das zum Waschen, Schwimmen und Suppekochen geeignet war. Man trank es, wenn man ansonsten nichts hatte, zum Beispiel auf einer längeren Wanderung. Aber doch nicht in geschlossenen Räumen! Trotzdem leerte er seinen Kelch, statt ihn, einem ersten Impuls folgend, an die Wand zu schmettern. Es mochte vielleicht nur Wasser sein - aber es schmeckte wirklich gut. Felder hätte nie gedacht, daß gewöhnliches Wasser so lecker sein konnte. War es überhaupt gewöhnliches Wasser?
»Du solltest einen Schluck probieren!« rief er Lonnìl zu. »Es ist gut.« Er goß sich einen zweiten Becher ein und machte es sich mit den Schriftrollen auf dem Bett bequem. Es war sehr zuvorkommend von den Elben, auch Menschendokumente in ihrer Feste zu führen. Felder fragte sich, wo der Diener sie so schnell her bekommen hatte. Das Personal in Thoria war immer einen halben Tag unterwegs, selbst wenn er nur einen Krug Wein bestellt hatte.
Vorsichtig entrollte er den ersten Text - und fluchte. Da hatte er ausnahmsweise einmal Lust, etwas zu lesen, wenn es schon sonst nichts zu tun gab, und dann verstand er die Worte nicht. Es war ein Jammer. Niemand in Thoria beherrschte so viele Sprachen wie er, weil er auf seinen Reisen immer die Ohren aufgesperrt hatte und fremde Begriffe schnell lernte, aber zwischen Sprechen und Lesen klaffte ein himmelweiter Unterschied. Vielleicht hätte Lonnìl etwas damit anfangen können - aber der Bauer konnte überhaupt nicht lesen. So beschränkte sich Felder darauf, die Schriftrollen nacheinander zu entfalten, einen Moment lang anzustarren, versuchen, irgendwelche bekannten Wörter zu entziffern und sie dann beiseitezulegen. Unter mehr als einem Dutzend Schriftstücken war nur ein einziges, das er verstand, wie immer es auch aus Thoria hergelangt sein mochte. Es war ein Bericht über die Fortschritte in der Rübenzucht.
Wütend fegte Felder die Texte von seinem Bett. Das war bei weitem nicht das, was er von der Hohen Elbenfeste erwartet hatte. Irgendwie mußte sie ihren guten Ruf doch verdient haben! Es ging nicht an, daß sich ihre Besucher zu Tode langweilten! Wenn sie keine Menschen, sondern Spitzohren gewesen wären, hätte man sich sicher richtig um sie gekümmert. Felder fühlte sich ausgeschlossen. Und er war nicht bereit, das noch länger hinzunehmen.
»Mir reicht’s«, sagte er zu Lonnìl. »Ich werde mich einmal eine Runde lang umschauen. Hast du Lust, mitzukommen?«
»Das solltest du lassen«, antwortete Lonnìl. »Sie haben uns gesagt, daß wir hier warten sollen.«
»Ich will nichts Verbotenes tun«, entgegnete Felder, »nur die Feste etwas erkunden. Daran ist doch nichts Schlimmes. Die Elben sollten sich vielmehr freuen, daß ich mich für ihren Bau interessiere.«
»Trotzdem … du könntest Ärger bekommen.«
»Wenn ich noch länger hier rumsitzen muß, fange ich bald an, das Zimmer kurz und klein zu schlagen. Und dann bekomme ich wirklich Ärger. Ich muß etwas tun. Du willst wirklich nicht mitkommen?«
Lonnìl schüttelte den Kopf. Felder zuckte die Schultern und ließ seinen Freund mit all den wehmütigen Gedanken an ein Mädchen, das er niemals bekommen würde, allein. Jetzt endlich fing der interessante Teil an.

Niemand konnte sagen, wie alt Talinas, der Oberste Hüter von Dolua’d’llán, sein mochte. Sein Gesicht war alterslos, aber nicht auf die gleiche Art wie die der Zauberer: Es wirkte jung, gepaart mit einer großen Weisheit und Lebenserfahrung. Bis jetzt hatte Keil solche Gesichter nur bei sehr alten Leuten gesehen, und er vermutete, daß Talinas schon seit weit mehr als tausend Jahren lebte. Und nach dem, was er gehört hatte, war er schon sehr lange Oberster Hüter.
Sie hatten Glück: Dadurch, daß die Elben schon von ihrem Kommen wußten, hatte man sie unverzüglich zu Talinas geführt. Keil war froh, daß die Menschen nicht dabei waren. Sie mochten interessant sein und gute Freunde, aber dies war etwas, das sie nichts anging. Eigentlich wäre es sogar das Beste gewesen, wenn auch Morren an einem anderen Ort auf sie gewartet hätte. Dies betraf nur die Elben und die Alifwin. Aber nun war Morren mit ihnen hier, und er konnte ihnen sicher nicht schaden. Doch obwohl der Zauberer längst der Führer ihrer Gruppe geworden war und für gewöhnlich das Wort führte, hielt er sich nun im Hintergrund, und es war Keil, der erzählte, warum sie gekommen waren. Er nahm sich Zeit und sprach ausführlich von ihrem Problem und den Instrumenten, damit die Elben begreifen konnten, wie wichtig sie für die Alifwin waren. Neben ihm stand Schwinge, wortkarg und würdevoll. Sie hatte sichtbar aufgeatmet, als Lonnìl und Felder den einen und sie selbst den anderen Gang hinunter geführt worden waren. Keil fragte sich, was Felder wohl Talinas erzählen würde, wenn es zu er Besprechung zwischen ihnen kam. Da Felder nicht wirklich im Auftrag seines Vaters reiste, würde er kaum die diplomatischen Beziehungen aufnehmen können, die er als Anlaß für sein Kommen vorgegeben hatte.
»Es ist schon sehr lange her, daß wir Alifwin als Gäste in Dolua’d’llán begrüßen konnten«, sagte Talinas. Wie auch sein Gesicht war die Stimme immer noch so kraftvoll, als ob die Last der Jahre sie nur gestärkt hätte. »Ich habe immer zutiefst bedauert, daß so wenig Kontakt herrscht zwischen unseren Völkern.«
»Mein Stamm hat immer wieder Handel mit reisenden Elben getrieben«, antwortete Keil. »Unsere Völker haben sich gegenseitig ausgeholfen, wenn es um Sachen ging, welche die einen hatten und die anderen brauchten. So soll es auch in Zukunft sein.«
»Wir möchten euch bitten, uns gegen die Menschen beizustehen«, fügte Schwinge hinzu. »Ihr scheint keine Probleme mit ihnen zu haben, aber sie töten die Angehörigen unseres Volkes, wann immer sie die Möglichkeit dazu haben. Wir brauchen die Instrumente der Hohen nur, um uns selbst zu verteidigen.«
Talinas warf seinen drei Beratern - es waren die Hüter, die sie in der Innere der Feste geführt hatten - kurze Blicke zu. Sie nickten zurück. Langsam begriff Keil, daß die Elben eine besondere Art hatten, sich untereinander zu verständigen. Wie Morren schon sagte, konnten Worte oft mißgedeutet werden. Aber Gedanken waren immer klar. Dann sah der Oberste Hüter Schwinge an, und sein Gesicht war ernst, als er sagte: »Es gibt hier keine Trommel aus Stein, die wir euch geben könnten.«

»Was ist mit dir, Mensch? Hast du dich verlaufen?«
Felder drehte sich um, und zum ersten Mal seit er denken konnte fehlten ihm die Worte. Hinter ihm auf dem Gang stand eine Frau. Er hatte sie nicht kommen hören, aber da sie eine Elbe war, war das nicht weiter verwunderlich. Natürlich hätte er sich denken müssen, daß man ihn früher oder später aufspüren und zurückbringen würde. Allerdings wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, daß er auf diese Weise eine Frau kennenlernen konnte.
Es sprach einiges gegen sie: Zum einen war sie mindestens so groß wie er, genauer gesagt etwa einen Kopf größer, und zum anderen waren derart zierlich gebaute Mädchen nicht unbedingt sein Typ, auch wenn sie nicht so völlig neutral aussah wie Schwinge. Aber ihr Gesicht! Felder hatte noch nie ein Gesicht wie dieses gesehen, und er war sich ziemlich sicher, daß er es auch nie wieder sehen würde. Ihre Augen waren groß, mandelförmig und violett, so strahlend wie der Stein, den sie an einer Kette um den Hals trug. Dafür war ihre Haut so weiß, daß sie schon fast durchsichtig wirkte, und nur ihre Lippen von der Farbe der Rosenknospe wagten es, den Augen ein wenig an Farbe entgegenzusetzen. Umrahmt wurde das Ganze von glattem schwarzen Haar, in das violette Bänder geflochten waren. Unwillkürlich hielt Felder die Luft an. Ein Geschöpf von derart vollkommener Schönheit hatte er noch nie zuvor erblickt. Einen Atemzug lang bedauerte er, daß Lonnìl diesen Moment nicht teilen konnte. Bei diesem Anblick hätte er sich Schwinge endlich aus dem Kopf geschlagen. Aber noch im selben Augenblick wußte Felder, wie gut es war, daß Lonnìl auf dem Zimmer geblieben war. Sollte er sich nur ruhig weiter nach Schwinge sehnen. So konnte er Felder zumindest nicht in die Quere kommen.
Sie standen allein auf dem Flur - nur er und die Elbe. Und er wußte nicht, was er sagen sollte.
»Was ist mit dir? Ist dir nicht gut?« fragte sie.
Felder klappte schnell den Mund wieder zu. Schließlich wußte er nur zu gut, wie dämlich das aussah. Verdammt, er mußte doch besser als alle anderen wissen, wie man mit schönen Frauen umging! Er hatte schon oft genug welche kennengelernt, auch näher. Was war aus seinen bei Bedarf verfügbaren geschliffenen Manieren geworden?
»Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen«, würgte er schließlich hervor. »Vermutlich verdanken wir es nur irgendeinem mißlichen Umstand, daß wir einander noch nicht vorgestellt worden sind.«
»Aber ich weiß, wer du bist!« lachte die Elbe. »Du bist der Prinz von Thoria.«
»Meine Freunde nennen mich Felder«, sagte er. Es war gut gewesen, daß er nicht wirklich mit Lonnìl die Rollen getauscht hatte. Für den Diener des Prinzen hätte sie sich bestimmt nicht interessiert. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Ich bin Lamaír. Und ich wüßte gerne, was dich in diesen Teil der Festung verschlagen hat, Prinz von Thoria.«
»Die Suche nach einem hübschen Mädchen hat mich vorangetrieben, blindlings durch die Gänge …«
Wie alt mochte sie wohl sein? Es war unmöglich zu sagen, selbst wenn er bedachte, daß für das tatsächliche Alter einer Person die Zahl der Jahre bedeutungslos war. Auf eine gewisse Art wirkte Lamaír genauso kindlich und unschuldig wie Lyantra, und Felder kam zu dem Schluß, daß sie noch nicht erwachsen war - womöglich noch nicht einmal ausgewachsen. Aber das war jetzt nicht der Moment, um Vergleiche zu ziehen. Tatsächlich sah die Elbe ihr sogar ähnlich - das mußte an den Haaren liegen -, aber auch wenn er Lyantra sehr mochte und sie ihm dieses Hemd genäht hatte, waren Gedanken an sie im Moment doch völlig deplaziert. Lamaír - ein sonderbarer Name. Er klang geheimnisvoll. Definitiv elbisch.
Sie lachte über sein Kompliment. Er spürte, wie er zu grinsen begann. Der Bann war gebrochen.
»Wenn ich ehrlich sein darf, konnte ich den Gedanken nicht ausstehen, in einer so großartigen Burg wie Dolua’d’llán zu sein und meine Gemächer nicht verlassen zu dürfen. Da hätte ich ja gleich in Thoria bleiben können. Kurz gesagt: Mir war langweilig.«
»Aber in Dolua’d’llán ist es niemals langweilig!« rief Lamaír verwundert aus. »Überhaupt wundert es mich, daß man dir zu Ehren kein Fest veranstaltet hat. Menschenprinzen haben wir hier nur selten zu Gast, auch wenn wir schon einiges von dir -«
Sie brach plötzlich ab. Er grinste sie grimmig an. »Mein Ruf eilt mir voraus, nicht wahr? Und nun, wo du mich kennengelernt hast - glaubst du, die Gerüchte stimmen?«
Jetzt kam er endlich in den Genuß, eine Elbe erröten zu sehen. Aber sie wirkte nur einen Moment lang verlegen. Dann lachte sie wieder. »Nun, das kann ich jetzt noch nicht so genau sagen. Schließlich habe ich noch nicht gesehen, wie du …« Sie machte eine bedeutungsschwere Pause, und Felder überlegte, was genau man den Elben über ihn erzählt hatte. Er hoffte, daß es nicht die Affäre um Graf Arlin war. Aber dann sagte die Elbe nur: »tanzt.«
Jetzt war es an Felder, zu erröten. »Zugegeben, ich bin kein schlechter Tänzer, aber ich glaube nicht, daß wir das selbe darunter verstehen. Immerhin bin ich nur ein Mensch.«
Sie warf einen Blick auf seine Füße, stutzte kurz und fing wieder an zu lachen. »Armer Prinz, da bist du den ganzen Weg von Thoria zu Fuß hergekommen, und das in diesen Schuhen! Kein Wunder, daß du nicht mehr tanzen magst!«
Felder wußte genau, daß sie bemerkt hatte, daß seine Spitzenschuhe in Wirklichkeit etwas klobige, aber überaus bequeme Lederstiefel waren. Aber solange sie nichts sagte, war es besser, den Schein zu wahren. Schnell beeilte er sich zu erklären: »Nein, so schlimm ist es nicht. Erst gestern ist mein Pferd gestürzt, und wir mußten es töten.«
Die Götter allein mochten wissen, was wirklich aus dem Gaul geworden war. Vielleicht hatte ihn der Bauer, der ihn gewonnen hatte, vor seinen Pflug gespannt. Nicht unbedingt das beste Schicksal für ein ausgebildetes Reitpferd. Aber verloren war verloren.
Sie glaubte ihm nicht, denn sonst hätte sie sicherlich etwas gegen das Töten von Tieren gesagt. So aber lachte sie nur noch einmal mit ihrer hellen, melodischen Stimme und nahm ihn bei der Hand.
»Du wirst dich hier noch amüsieren, Prinz von Thoria. Und tanzen sollst du auch. Aber vorher zeige ich dir die schönsten Stellen von Dolua’d’llán.«
Wenn Felder jemals an einem Ort hatte bleiben wollen, dann in Dolua’d’llán. Nicht nur die Elbe, alles hier verbreitete eine Leichtigkeit, wie sie in der thorianischen Burg niemals zu spüren gewesen war. Die Mauern wirkten nicht erdrückend, alles war hell, freundlich und wunderschön. Wie ein Netz feiner Äderchen zogen sich die zarten Linien durch den Marmor der Wände, durch die das Sonnenlicht selbst in die innersten Räume hineinzuscheinen schien. Sogar der Fußboden strahlte Leben aus, und durch die Sohlen seiner Stiefel konnte Felder spüren, daß er erwärmt war. Wo immer es möglich war, erhellten Fenster die Räume. Und es war auch nicht zugig, sondern angenehm warm. Einen kurzen Moment lang dachte Felder wieder an Thoria. Die Burg war nichts weiter als ein großer Hohn, verglichen mit der Elbenfeste. So sehr er auch immer gegen die Spitzohren wetterte - er wußte nur zu gut, daß kein Mensch jemals etwas derartiges würde erschaffen können, und erst recht kein Thorianer. Felder fühlte sich erfüllt von einer großen Zufriedenheit und, was noch seltener war, innerer Ruhe, obwohl er den ganzen Tag über nichts als Wasser getrunken hatte. Es machte ihn auch überhaupt nichts aus, bei klarem Verstand zu sein. Dies war kein Ort, an den sich düstere Gedanken verirren konnten. Hier stand die Zeit still. Oft genug hatte er sich nach dem Tal der Ewigen Jugend gesehnt. Jetzt hatte er es gefunden. Als er Lamaír andächtig durch die verbogenen Gänge folgte, grinste er nicht, wie er es für gewöhnlich tat. Er lächelte. Und es war überhaupt nicht nötig, noch viel zu sagen.
Aber Lamaír hatte sich mehr in den Kopf gesetzt, als ihrem Opfer die Elbenfeste zu zeigen. Sie wollte ein Fest organisieren, um ihn tanzen zu sehen. Der Gedanke behagte Felder nicht besonders. Er machte sich ungern vor schönen Frauen lächerlich. Egal, wie gut er tanzen konnte, sie war und blieb ein ganzes Stück größer als er, und es würde einfach nur lächerlich aussehen, wenn er neben ihr herhopste. Doch sie ließ sich nicht beirren. Nach und nach schlossen sich ihnen immer mehr Jungelben an, wo immer sie so schnell hergekommen sein mochten. Felder wurde einem jeden von ihnen vorgestellt, aber sie sahen nicht nur alle gleich aus, sondern hatten auch noch gleichklingende Namen: Talanis, Tanalis, Nantalis und so fort. Von Lamaír abgesehen, gab es nur einen Elb, dessen Namen und Gesicht er sich einprägen konnte: Finlas, Sohn des Herren einer anderen, nicht ganz so hohen Elbenfeste mit Namen Paer Car’afan, was immer das bedeuten mochte, und er hatte einen guten Grund, daß er sich gerade diesen schönen Jüngling merkte:
»Finlas ist zur Zeit Gast in Dolua’d’llán«, erklärte Lamaír, »weil er bei meinem Vater um meine Hand anhalten möchte.«
Wie jede begehrenswert schöne Frau hatte auch diese den entscheidenden Nachteil, daß sie bereits vergeben war. Felder überlegte kurz, was er von dieser Eröffnung halten sollte. Bedeutete sie, daß sie das eigentliche Werben nur interessanter gestalten würde, oder aber war sie ein deutliches Anzeichen dafür, daß er besser die Finger davon lassen sollte? Nur weil die Elfen sich niemals über Liebe und Eifersucht ausließen und es so etwas wie Ehe bei ihnen gar nicht direkt zu geben schien - glückliche Geschöpfe! -, bedeutete das noch lange nicht, daß die Elben nicht an weitaus zwingendere Konventionen gebunden waren. Noch war Lamaír nicht verheiratet, aber Finlas würde sicher etwas dagegen haben, wenn sich Felder vor seinen Augen an sie heranmachte. Natürlich hatte gerade das Verbotene seinen besonderen Reiz. Aber wer wußte, wie übel der Elb es nehmen würde? Felder hatte nicht die Absicht, versehentlich einen Krieg zwischen den Menschen und den Elben auszulösen. Kämpfe waren, ebenso wie sein Liebesleben, eine private Sache. Er wollte weder in das eine, noch in das andere, sein Volk hineinziehen. Duelle waren in Ordnung. Da konnten nur diejenigen sterben, die direkt von das Sache betroffen waren. Man focht sie aus Vergnügen aus. Aber Felder hätte niemals ein Heer anführen mögen. Das war einer der Gründe, warum er kein König werden wollte. Jeder hoffte, daß Thoria endlich einmal wieder einen Krieg gewinnen würde. Und man hatte Felder dazu auserkoren, damit anzufangen. Aber da machte er nicht mit. Er war für Spiele zuständig. Ein Krieg war kein Spiel. Felder wußte, wo seine Grenzen lagen und wann er zu weit ging, nicht nur, was das Trinken anging. Er würde nicht wegen einer Affäre den Fortbestand der Thorianer, möglicherweise der ganzen Menschheit, gefährden.
In Gedanken schrieb er Lamaír ab, auch wenn es schon bei Weitem zu lange her war, daß er zuletzt eine Frau geliebt hatte, und die Elbe wirklich verdammt gut aussah. Aber der Weltfrieden ging vor, und außerdem war sie sowieso viel zu groß, zu alt und zu verliebt in einen anderen. Seit Felder mit Lonnìl unterwegs war, erkannte er die Anzeichen. Und er merkte auch, daß Finlas graue Augen ihn bereits argwöhnisch beobachteten. Spätestens seit der Geschichte mit Arlin kannte er diesen Blick. Von den anderen Elbenmädchen ragte keines an Lamaír heran, und wer wußte, mit wem sie verlobt waren. Felder gab auf, bevor er überhaupt angefangen hatte. Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte war, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen und sich zu amüsieren.

Morren hatte ihnen zu verstehen gegeben, daß er sich heraushalten und die ganze Verhandlung den Alifwin überlassen würde. Nun saß er im hinteren Teil der Halle, und Schwinge konnte sein amüsiertes Lächeln regelrecht in ihrem Nacken spüren. Sie atmete ruhig und versuchte, ihren Herzschlag zu verlangsamen. Von allen Zeitpunkten, an denen sie zornig werden konnte, war dies der schlechteste, aber es war noch schlechter, Keil allein reden zu lassen, denn er sah zu viele Dinge völlig falsch und würde sie auch so darstellen.
»Wir kommen nicht als Bettler«, sagte sie beherrscht. »Es war noch nie zuvor nötig, daß die Alifwin die Elben um Hilfe hätten bitten müssen. Aber nun sehen wir keine andere Wahl.«
»Es ist so, wie ich gesagt habe«, wiederholte Talinas. »Wir haben nichts, was wir euch geben könnten.«
»Aber der Name eurer Feste ist Dolua’d’llán! Wenn ihr die Trommel nicht habt, wo ist sie dann?«
»Auch das können wir euch nicht sagen. Seit Jahrtausenden haben die Hüter von Dolua’d’llán Stillschweigen bewahrt, und so soll es auch für immer sein. Wenn ich eines Tages gehe, wird mir ein neuer Hüter nachfolgen. Wir wurden dazu geboren, den Hort der Trommel geheim zu halten. Versteht mich nicht falsch. Wenn ich könnte, würde ich euch die Aufenthaltsorte der anderen Instrumente verraten, aber über sie weiß auch ich nichts. Und wenn ihr sie findet, solltet ihr sehr vorsichtig mit ihnen sein. Die Hohen hatten mehr Macht als ihr oder wir. Über die Laute weiß ich nichts, und auch von der Harfe nur sehr wenig. Aber mir ist eine Warnung bekannt, die aus uralten Zeiten stammt. Vielleicht nützt sie euch, aber wahrscheinlich kennt ihr sie bereits, denn sie stammt von den frühen Alifwin.

Laßt die Flöte ungehört:
Wer sie spielt, der wird zerstört.
Kommt sie in die falschen Hände,
ist das aller Welten Ende,
denn wenn falsche Weisen klingen,
wird sie nichts als Unheil bringen,
und den wahren, reinen Klang
spielt sie niemals unter Zwang.

Es ist zwar nicht von Eis die Rede, aber ich denke, es ist dieselbe Flöte gemeint. Im Namen alle Völker beschwöre ich euch, achtzugeben.«
»Wir werden nicht auf den Instrumenten spielen«, sagte Keil. »Auf der Flöte spielt man nicht, das wissen wir. Aber wir danken dir trotzdem für diese Warnung. Gibt es sonst noch etwas, das du weißt?«
»Es gibt noch ein oder zwei Dinge, die ich euch über die Harfe sagen könnte. Aber wenn ihr meinen aufrichtigen Rat hören wollt, ist es das Beste, wenn ihr die Instrumente an den Orten belaßt, an denen sie sind. Ihr seid noch sehr jung, und da ihr zu wenig über die Instrumente wißt, könntet ihr zu leicht einen Fehler begehen. Seid als unsere Gäste in Dolua’d’llán, aber fragt nicht mehr nach der Trommel. Selbst wenn ich wollte, verbietet es mir mein Amt als Hüter, es euch zu sagen.« Der alte Elb sprach genau wie die Zauberer. War dies eine Verschwörung gegen die Alifwin? Warum wollte ihnen niemand helfen?
»Dann steht uns auf andere Art bei! Wenn sich die Elben und Alifwin vereinigen, können wir die Menschen auch ohne die Instrumente der Hohen besiegen!«
Talinas erhob sich und ging auf sie zu. Die drei anderen folgten ihm, und ihre Gesichter waren plötzlich seht streng.
»Gerade noch habt ihr uns erzählt, ihr sucht die Instrumente, um vor den Menschen in Sicherheit zu sein, und nun ist plötzlich die Rede davon, daß ihr sie besiegen wollt«, sagte der Oberste Hüter, und der violette Kristall vor seiner Brust begann drohend zu leuchten. »Was ist der wirkliche Grund eurer Suche?«
»Unser Frieden«, erwiderte Keil ohne zu zögern, während Schwinge schwieg. Nun mußte sie ihre Worte wirklich abwägen. »Wenn ihr irgend etwas über den Verbleib der Instrumente wißt, dann sagt es uns!«
»Versteht mich nicht falsch«, sagte Talinas. »Ich würde euch gerne helfen, aber ich habe den Eindruck, daß ihr beide nicht auf der selben Suche seid. Wenn ihr euch nicht einmal untereinander einig seid, können wir nichts für euch tun.«
»Aber es kann doch nicht in eurem Interesse sein, daß die Alifwin von den Menschen ausgerottet werden!« rief Schwinge. Langsam dämmerte ihr eine schreckliche Erkenntnis. »Die Menschen töten alles, was nicht so ist wie sie. Wie kommt es dann, daß sie euch nichts tun?«
»Sie haben keinen Grund dazu«, antwortete Talinas. »Die Menschen haben schon früh erkannt, daß sie viel von den Elben lernen können, wenn sie nicht versuchen, gegen uns zu kämpfen. Als die Menschen kamen, wußten sie über dieser Welt nur sehr wenig. Sie konnten weder richtige Burgen bauen, noch haltbare Waffen schmieden. Da wir in ihnen keine Gefahr sahen, haben wir ihnen geholfen, zu lernen. Vielleicht war dies auf lange Sicht ein Fehler, und es scheint, als hätten wir sie falsch eingeschätzt, aber es hatte zur Folge, daß die Menschen die Elben als einen festen Bestandteil der Welt akzeptiert haben und mit Hochachtung behandeln, wenn sie auch unsere Nähe meiden.«
Schwinge war sprachlos vor Entsetzen. Sie hatte damit gerechnet, daß Talinas den Verrat abstreiten würde, aber er sprach davon, als ob es das Natürlichste der Welt wäre. Die Elben hatten den Menschen beigebracht, die Schwerter zu schmieden, mit den diese nun die Alifwin abschlachteten.
Talinas war ihr Blick nicht entgangen, aber er sagte nichts weiter zu diesem Thema, sondern ging mit langsamen Schritten zurück zu seinem hochlehnigen Stuhl und nahm Platz.
»Nichts liegt mir ferner, als Streit mit den Alifwin zu suchen, vor allem nicht jetzt, wo Tage der Freude herrschen in Dolua’d’llán, denn meine einzige Tochter wird den Prinzen von Paer Car’afan zum Mann nehmen, und das große Fest wird schon vorbereitet.«
Er versuchte, vom Thema abzulenken, und von allen Sachen konnte Schwinge das am Schwersten ertragen. Sie waren nicht gekommen, um über große Feste zu reden, wenn die Zukunft ihres ganzes Volkes auf dem Spiel stand.
»Ihr habt uns verraten!« rief sie, daß es laut durch den Saal scholl. »Die Elben haben ihr Erbe verraten. Sie haben sie Hohen verraten und sich auf Seiten der Menschen gestellt.«
»Schwinge vom Waldvolk, achte auf deine Worte«, entgegnete Talinas ebenso laut. »Ich verstehe deinen Ärger, und so belasse ich es erst einmal dabei, dich zu verwarnen. Aber nenne nie wieder die Elben Verräter. Die Elben sind nicht mehr und nicht weniger Verräter als ihr, die ihr zwei Menschen nach den Instrumenten der Hohen suchen laßt. Habt ihr geglaubt, uns täuschen zu können? Wir sind zwar gerne bereit, uns auf politische Beziehungen zu Thoria einzulassen, aber der einzige Grund, warum diese Menschen zum gleichen Zeitpunkt wie ihr hier eingetroffen sind, ist der, daß sie eure Begleiter sind!«
Schwinge hatte gewußt, daß ihnen die Menschen in Dolua’d’llán zum Verhängnis werden würden. Talinas’ Vorwurf traf sie schwer. Aber er änderte nichts daran, daß erst die Elben die Menschen zu dem gemacht hatten, was sie heute waren. Die drei Hüter hinter Talinas sprachen immer noch nicht, aber ihre Hände lagen auf den Kristallen in ihren Schwertknäufen. Wollte man ihr drohen?
»Sag nichts mehr, Schwinge!« flüsterte Keil kaum hörbar. »Es reicht, daß die Menschen uns hassen. Wenn wir uns jetzt mit den Elben streiten, brechen die Hohen Völker endgültig auseinander.«
Auch Morren war plötzlich an ihrer Seite und befahl ihr zu schweigen. Doch Schwinge hörte sie nicht mehr. Sie sah nur noch das selbstgefällige Lächeln in den Gesichtern der Elben. Wer sie verraten hatte, der sollte ihren Zorn zu spüren bekommen.
»Die Hohen Völker sind bereits endgültig auseinandergebrochen, und das durch nichts anderes als durch den Verrat der Elben. Und ich lege keinen Wert darauf, mit euch in Freundschaft zu leben.«
Talinas fuhr hoch, und sein Kristall leuchtete hell auf, ebenso wie die der drei anderen Hüter. »Das ist genug. Wir haben euch in guter Absicht Dolua’d’llán aufgenommen und waren bereit, euch nach bestem Wissen zu helfen. Das Schicksal der Alifwin ist uns nicht gleichgültig, und wir möchten wirklich nicht, daß unsere guten Handelsbeziehungen gestört werden. Aber wir können es nicht zulassen, daß ihr uns derart beleidigt und unseren Frieden in Gefahr bringt. Und so muß ich euch leider bitten, Dolua’d’llán zu verlassen.«

Es war ein traumhaftes Gefühl, an Lamaírs Seite durch den Saal zu schweben. Genaugenommen war sie es, die schwebte, und er versuchte krampfhaft, mit ihr Schritt zu halten, aber es war trotzdem herrlich. Felder konnte sich nicht erinnern, einen Ball jemals derart genossen zu haben. Keinen der Elben schien es zu stören, daß er ein Mensch war und verglichen mit ihnen ein kleinwüchsiger Trampel. Sie waren nicht anderes als er: Junge Leute, die sich amüsieren wollten. Und bei allen Göttern, das taten sie.
»Was ist mit dir?« fragte Lamaír irgendwann. »Du scheinst außer Atem.«
»Das liegt daran, daß ich außer Atem bin«, antwortete Felder. »Ich habe das Gefühl, den halben Tag ununterbrochen getanzt zu haben.«
Lamaír lachte. »Es war beinahe ein ganzer Tag. Aber was ist schon ein Tag, gemessen an der Ewigkeit?«
Er hatte Recht gehabt: Dies war das Tal der Ewigen Jugend. Zeit bedeutete nichts. Hier würde er bleiben.
Sie setzten sich auf einige Stühle, die am Rand standen, damit er sich für den nächsten Tanz etwas erholen konnte. Da er sich in der Tat sehr zurückgehalten hatte, schien auch Finlas keinerlei Argwohn mehr ihm gegenüber zu hegen. Warum auch?
Aber plötzlich veränderte sich die Stimmung, ohne daß Felder sagen konnte, was los war. Die Elben wirkten genauso vergnügt wie zuvor - bis auf Lamaír, deren Gesicht einen Moment lang bestürzt erschien. Sie griff hastig nach ihrem violetten Kristall und umschloß ihn mit der Hand, aber es war Felder nicht entgangen, daß der Stein zu leuchten begonnen hatte.
»Was ist los?« fragte er. »Stimmt etwas nicht?«
Lamaír schien ihn nicht zu beachten. Sie murmelte etwas in ihrer Sprache, von dem er nur mit Glück ein Wort verstehen konnte: Dolua - Trommel, wenn er es sich richtig zusammengereimt hatte. Also waren Morren und die Elfen erfolgreich? Sie hatten die Trommel gefunden? Oder was war geschehen?
Lamaír schüttelte nur den Kopf, dann lächelte sie ihm wieder zu und machte sich daran, ihn zurück auf die Tanzfläche zu befördern, als ob nichts geschehen war. Doch als dann ein weiterer Elb Lonnìl in den Saal führte, verstummten die Musikanten. Alle sahen zu dem Bauern hinüber, was diesem wohl furchtbar unangenehm war, denn er ging schnell zu Felder hinüber, ohne sich weiter in dem prachtvollen Marmorsaal umzusehen.
»Was gibt es?« fragte Felder. »Willst du mitfeiern?«
Lonnìl schüttelte den Kopf. »Es hat sich etwas … ereignet. Schwinge und die anderen verlassen die Feste. Und ich gehe mit ihnen.«
»Haben sie die Trommel gefunden?«
Er selbst hatte versucht, beiläufig einige Informationen von Lamaír zu bekommen, aber obwohl sie offensichtlich etwas wußte, hatte sie immer nur lachend das Gespräch in andere Richtungen gelenkt. Er konnte es ihn nicht verübeln. Sie wäre schön dumm gewesen, das Geheimnis um ein derart wichtiges Artefakt an einen Menschen zu verraten.
»Äh … nein«, druckste Lonnìl herum. »Sie … es hat etwas Ärger gegeben.«
»Aber ich habe nichts getan! Wirklich nicht!«
»Nein, nicht wegen dir. Es war …« Lonnìl atmete tief durch. »Jedenfalls müssen wir jetzt gehen.«
»Ich auch?« fragte Felder. »Aber … es hatte gerade erst angefangen, nett zu werden!«
Finlas mischte sich ein. Er schien zu wissen, um was es ging, obwohl er sich die ganze Zeit nicht aus dem Ballsaal entfernt hatte. »Natürlich nicht«, sagte er. »Weder du noch dein Diener müssen Dolua’d’llán verlassen. Ihr seid unsere Gäste, und da ihr nicht an der Meinungsverschiedenheit mit Talinas beteiligt wart, wäre es ungerecht, euch ebenfalls bitten, zu gehen. Selbstverständlich steht es euch frei, noch länger hier zu bleiben.«
»Ich werde nicht bleiben«, sagte Lonnìl. »Ich gehe dahin, wohin Schwinge geht.«
Wenn Felder das Ganze richtig verstand und man die Elfen, aus welchem Grund auch immer, rausgeschmissen hatte, dann erklärte das, weswegen Lonnìl offensichtlich stark bemüht war, eine Wut zu unterdrücken. Die Elben konnten sich vor Glück schätzen, daß er nicht einen dieser seiner Anfälle hatte und mit seinem Stock um sich schlug.
Aber was würde er selbst tun? Er war in keine der beteiligten Personen verliebt, und dies war der schönste Ort auf der Welt. Felder überlegte schnell. Wenn er blieb, bedeutete es, daß er der einzige Mensch war unter einem Haufen von Spitzohren. Er war nur Gast, und sie würden ihn nicht für immer da behalten wollen. Aber er war so oft auf sich allein gestellt, wenn er unterwegs war. Warum nicht noch ein wenig bleiben?
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch vor wenigen Momenten hätte er laut verkündet, für immer hier bleiben zu wollen, und es machte überhaupt nichts aus, daß es nichts als Wasser zu trinken gab. Aber jetzt erkannte er plötzlich, daß dies kein Ort für ihn war. Es war, als hätte er das Tal der Ewigen Jugend gefunden und feststellen müssen, daß die Zeit dort nur für die anderen stillstand, für ihn aber nur um so schneller weiter lief.
Er konnte nicht für alle Ewigkeit tanzen. Früher oder später würde es ihm langweilig werden. Und Dolua’d’llán würde aufhören, etwas Besonderes zu sein, wenn er sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Von aller Schönheit abgesehen, war es doch nur eine Burg, und Burgen wurden, je länger man sich dort aufhielt, immer dunkler, enger und erdrückender. Wenn er jetzt ging, würde er Dolua’d’llán in wunderschöner Erinnerung behalten. Und das war das Beste. Sobald er König war, würde er zusehen, daß er diplomatische Beziehungen zu den Elben aufnahm. Es sah aus, als könnten die Thorianer einiges von ihnen lernen.
Vor allem aber würde er herausfinden, wo dieses Paer Car’afan lag, und Lamaír ein prinzliches Hochzeitsgeschenk zukommen lassen.
»Ich denke, mir bliebt nichts anderes übrig«, sagte er murrend. Seine elbischen Freunde sollten nicht etwa denken, daß er sie freiwillig und gerne verließ. Das wäre unhöflich gewesen. »Da ich es zu meiner Aufgabe gemacht habe, bei der Suche nach den Instrumenten zu helfen, werde auch ich schweren Herzens abreisen.« Er lächelte Lamaír ein letztes Mal an. »Obwohl ich wünschte, wir hätten die Gelegenheit gehabt, uns noch näher kennenzulernen.«
Während er Lonnìl aus dem Saal folgte, schnaubte er wütend. Natürlich ging er aus eigenem Antrieb und nicht, weil man die Elfen rausgeschmissen hatte. Aber wer immer die Schuld daran trug - er würde ihn sich vorknöpfen.

»Ich fasse es nicht!« schrie Felder. »Rausgeschmissen! Ich gebe mir die allergrößte Mühe, bin höflich, charmant, nüchtern und was weiß ich nicht noch alles, und dann schmeißen sie uns raus! Und warum? Nur weil Frau Elfe selbst nicht an sich halten konnte! Wenn ihr es noch einmal wagen wolltet, mir Vorwürfe zu machen, dann seid ihr es, die den Ärger bekommt! Und was gedenkt ihr jetzt zu tun?«
Schwinge blickte trotzig in die entgegengesetzte Richtung. Sie konnte dem Menschen nicht widersprechen, und das machte alles noch schlimmer. Natürlich hätte sie sich zurückhalten müssen. Aber was blieb, war die Tatsache daß sie Recht gehabt hatte. Die Elben hielten die Trommel absichtlich zurück, obwohl sie wußten, wie dringend die Alifwin sie benötigten.
»Falls es euch interessiert«, fuhr Felder fort, »war ich gerade dabei, wichtige diplomatische Beziehungen zwischen den Elben und Thoria zu knüpfen, und aus all dem wird jetzt nichts. Das hast du gut gemacht, Schwinge, wirklich!«
»Würdest du dich bitte beruhigen!« sagte Morren. »Es hilft keinem, wenn du jetzt randalierst. Du hältst uns vom Denken ab.«
Sie standen mitten auf dem Weg, der durch den Wald führte. Wenn sie sich umdrehten, konnten sie Dolua’d’llán immer noch majestätisch hinter sich aufragen sehen.
»Du darfst Schwinge keine Vorwürfe machen!« sagte Lonnìl zu Felder. »Sie hat doch nur ihre Meinung gesagt.«
Daß der Mensch sie als einziger in Schutz nahm, traf Schwinge fast noch härter als alles andere. Wütend drehte sie sich um.
»Sagt es doch nur!« rief sie. »Ich habe versagt. Meinetwegen wurde der Friede zwischen den Hohen Völkern gestört. Aber ich weiß, wann ich einen Fehler gemacht habe. Ich werde zu unserem Volk zurückkehren und berichten, was ich getan habe, auch wenn ich dann bestraft werde. Sie hätten wissen müssen, daß ich für diese Aufgabe nicht geeignet bin.«
»Würdest du dich ebenfalls bitte beruhigen?« sagte Morren. »Es bringt nichts, wenn ihr einander oder euch selbst zerfleischt. Wir können die Ereignisse nicht ungeschehen machen. Setzen wir uns lieber hin und überlegen, bevor wir zu weit von Dolua’d’llán entfernt sind. Immerhin wissen wir jetzt mit ziemlicher Sicherheit, daß sie die Trommel besitzen, und ich habe niemals behauptet, daß es leicht werden würde, sie zu bekommen. Ich hatte vielmehr mit etwas derartigem gerechnet. Wenn die Elben eigens einen Hort bauen, nur um die Trommel zu schützen, dann werden sie sich wohl kaum gerne davon trennen, nicht wahr? Hat irgend jemand einen Vorschlag - von Felder abgesehen?«
»Warum darf ich nichts vorschlagen?« fragte Felder beleidigt.
»Weil ich deinen Vorschlag bereits kenne«, antwortete Morren. Er lautet: ‘Ich habe da eine Idee, die todsicher funktionieren wird’.« Er ahmte Stimme und Tonfall des Menschen so perfekt nach, daß dieser ihn voller Faszination anstarrte. »‘Ich habe die Zeit genutzt, um ein paar wertvolle Kontakte zu knüpfen, vorzugsweise zu den örtlichen Mädchen. Mich würden sie ohne Einwand wieder in die Feste lassen, weil ich mir nichts zuschulden habe kommen lassen, und nachdem ich einmal ihre Herzen gewonnen hätte, wäre es mir ein Leichtes, die Trommel zu finden und hinauszuschaffen. Sämtliche Frauen in Dolua’d’llán liegen mir zu Füßen, müßt ihr wissen.’ Vorschlag abgelehnt. Du siehst, Felder, ich kenne dich wirklich.«
»Das glaubst auch nur du«, sagte Felder. »Ich habe statt dessen eine ganz andere Bitte an dich: Schaff mir diese Kleider vom Leibe! Und gib mir meine Sachen wieder.«
Mit einem Seufzen gab Morren dem Menschen sein altes abgeschabtes Aussehen wieder. Felder war der einzige, der darüber glücklich schien. Zufrieden überprüfte er den Sitz der Feldflasche an seinem Gürtel und öffnete den Mund, um wieder etwas zu sagen.
In dem Moment wurde es um sie herum dunkel.

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