Drittes Kapitel

But go, and if you trust her, she will call.
Edwin Arlington Robinson

Einige Tage lang rang Keil mit sich, ob er überhaupt darüber reden sollte. Es war so ein lächerlicher Gedanke. Aber Schwinge würde nicht darüber lächeln, sondern wütend werden. Aber vielleicht konnte der Zauberer ihn verstehen?
Schwinge ging weiter vorne, die Augen wie üblich auf einen Punkt am Horizont gerichtet. Vielleicht würde sie einfach nicht auf ihn achten. Schließlich war Keil nur ein junger Barde und stellte keine Gefahr dar.
»Morren«, sagte er leise. Sofort war der Zauberer bei ihm. »Ich habe … einen Wunsch. Es ist schwer zu erklären. Und schwer zu verstehen, fürchte ich.«
»Es gibt nur wenig, das ein Zauberer nicht verstehen würde«, erwiderte Morren und lachte. »Versuch es!«
»Es sind die Menschen. Wir werden uns bald für immer vor ihnen verstecken, was sicher das Beste ist. Aber niemand von uns weiß etwas über sie. Ich bin der letzte, der noch die Möglichkeit hat, etwas über die Menschen zu erfahren, und es gibt so vieles, das ich wissen möchte: Wer sie sind, wo sie herkommen, wie sie leben … Glaubst du, daß du mir helfen kannst?«
Auch Morren sagte nichts, sondern blickte ihn nur ernst an, so daß Keil einen Moment lang bezweifelte, ob er ihm überhaupt richtig zugehört hatte. Dann sagte der Zauberer: »Du weißt, wie gefährlich dieser Wunsch sein kann?«
Keil nickte. »Schwinge wird wütend sein, wenn sie davon hört.«
»Das meine ich nicht. Vergiß Schwinge. Denk nur an das, was du wissen willst: Menschen. Glaub mir, ihr seid besser dran, wenn ihr so wenig wie möglich über sie wißt.«
»Sind sie denn so schrecklich?« fragte Keil entsetzt.
»Nein. Und genau das ist es. Sie sind anders als ihr oder alle anderen Völker. Aber es ist durchaus möglich, sie zu mögen. Ich kann mir tatsächlich vorstellen, daß du, wenn du sie näher kennenlernst, Gefallen an ihnen finden könntest. Und plötzlich wird dir der Gedanke, dich auf alle Zeiten in den Wäldern zu verstecken und nie wieder einen Menschen zu treffen, nicht mehr gefallen. Ich habe volles Verständnis für deinen Wunsch und bin gerne bereit, dir zu helfen. Aber dir sollte bewußt sein, daß du dadurch eure Mission aufs Spiel setzt.«
So hatte Keil das überhaupt noch nicht gesehen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er Gefallen an den Menschen finden konnte. Alle, die er bis jetzt getroffen hatte, waren wild und gefährlich. Nichts an ihnen erschien irgendwie liebenswürdig. Aber Keil mußte einfach wissen, wer sie waren!
»Ich bin noch sehr jung«, sagte er schließlich. »Aber es werden immer wieder solche kommen, die noch jünger sind als ich. Es werden Kinder geboren werden, wenn wir in den Wäldern leben; Kinder, die niemals erfahren werden, was außerhalb der Welt liegt, die sie kennen. Und eines Tages werden sie anfangen, Fragen zu stellen. Sie werden wissen wollen, vor wem wir uns verstecken. Dann genügt es nicht als Antwort, wenn wir sagen ‘Die Menschen sind haarig und unsere Feinde’. Sie werden ausziehen wollen, um mehr über die Menschen zu erfahren, und sich selbst und uns in Gefahr bringen. Deshalb möchte ich alles über die Menschen wissen, damit ich diese Fragen einmal beantworten kann. Ich glaube, das ist auch der einzige Grund, warum man gerade mich auf diese Reise geschickt hat. Ich bin hier, um Wissen zu sammeln und neue Lieder daraus zu machen.«
»Du bist sehr neugierig«, stellte Morren fest. »Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht für dich ist, aber ich fürchte, man kann nichts daran ändern. Die Alifwin sind normalerweise nicht für ihre Neugier bekannt. Zauberer forschen. Alifwin singen.«
»Man muß wissen, worüber man singt.«
»Und du glaubst nicht, daß du das Gegenteil von dem bewirken könntest, was du willst? Wenn du den Kindern von den Menschen vorschwärmst, wirst du sie nur noch begieriger machen, die Wälder zu verlassen.«
»Ich glaube nicht, daß man von den Menschen schwärmen kann«, sagte Keil und schüttelte den Kopf. »Aber du mußt es besser wissen. Schließlich hast du lange in ihrer Nähe gelebt. Erzähl mir alles, was du über sie weißt!«
Morren überlegte kurz. »Das könnte ich «, meinte er dann. »Aber es wäre nicht gut. Du solltest dir ein eigenes Bild von ihnen machen, aus Sicht der Alifwin, nicht der Zauberer. Wir sehen manche Dinge anders, mußt du wissen. Studiere die Menschen selbst, sonst wird es dir nichts bringen.«
»Aber wie soll ich das tun, wenn wir weite Bögen um ihre Ansiedlungen machen?« fragte Keil verzweifelt. Genau das war doch sein Problem! »Und wenn wir sie treffen, erleben wir immer nur die wilden Menschen, die uns angreifen, weil wir Alifwin sind. So werde ich niemals sehen, wie sie wirklich sind. Es ist unmöglich.«
»Wenn du mit einem Zauberer reist«, sagte Morren lächelnd, »ist nichts unmöglich.«

Lonnìl saß allein an einem Tisch in der Ecke. Das Gasthaus war überfüllt, aber niemand kannte ihn in dieser Gegend. Und vermutlich wirkte er auch nicht gerade einladend, wie er dort hockte und mit finsterer Miene in sein Bier starrte. Das war ihm ganz angenehm. Im Moment wollte er einfach nur seine Ruhe haben, nicht nur vor den Leuten im Gasthaus, sondern auch vor der ganzen Menschheit. Im letzten Monat hatte er seinen Grafen umgebracht.
Sie suchten ihn. Wenn ihn die Schergen fanden, würden sie ihn hängen. Er war ein Mörder. Und was war Graf Oban? Wann immer Lonnìl die Augen schloß, sah er vor sich Rauch - nicht den Rauch, der über der Ruine lag, sondern den Rauch, wie er ihn zuerst gesehen hatte: Eine Rauchsäule, die in der Ferne zum Himmel aufstieg. Sie hätte von überall kommen können. Aber Lonnìl spürte sofort, was es war. Er war rannte. Und dann wurde er immer langsamer, bis er schließlich erstarrte, auf der Schwelle seines Elternhauses. Auf der Schwelle von dem, was einmal sein Elternhaus gewesen war.
Niemand war in den Flammen umgekommen. Sein Vater, seine Mutter und seine beiden kleinen Schwestern waren schon vorher tot. Lonnìl fand sie hinter dem Haus. Blut. Hufspuren. Die Mörder hatten Pferde benutzt. Und Schwerter.
Niemand trug Schwerter außer Graf Oban und seinen Männern.
Zunächst konnte Lonnìl an nichts denken als an Rache. Seine einzige Waffe war ein mannslanger Eichenstab, und er schwor sich, daß er damit eigenhändig den Schädel des Grafen zerschmettern würde. Aber dann überwog seine Trauer. Es war ja doch sinnlos. Nichts konnte seine Familie ins Leben zurückbringen. Und egal, wie hart ein Eichenstab auch war, ein Schwert war härter und schärfer. Graf Oban schreckte vor nichts zurück. Er würde hingehen und weiterhin Höfe niederbrennen und jene töten, die sich ihm in den Weg stellten oder es wagten, in seinem Wald zu jagen oder sich weigerten, seine Steuern zu bezahlen - oder es einfach nicht konnten, weil sie kurz vor dem Hungertod standen. Er konnte machen, was immer er wollte - solange er lebte.
Als Lonnìl Graf Oban erschlug, tat er das nicht nur für seine Familie. Er tat es für das ganze Volk der Grafschaft Dunistan.
»Ich bin Clòn Lonnìl, Sohn von Graw Lonnìl und Arimaw, Bruder von Jimma und Raegat, die von deinen Männern erschlagen wurden. Ich bin gekommen, um dich zu erschlagen.«
Noch bevor der Graf wegreiten oder sein Schwert ziehen konnte, fegte Lonnìls Stab ihn vom Pferd. Ein zweiter Schlag brach sein Genick. Ehe seine Jagdfreunde den Grafen erreichten, war Lonnìl wieder tief im Wald verschwunden. Seither war er auf der Flucht.
Dunistan hatte er verlassen. Er hatte Angor durchquert, und da man dort ebenfalls seine Sprache sprach, hatte er schnell begriffen, daß es den Leuten dort nicht besser ging als in seiner Heimat. Wo immer er hinkam, herrschte Ungerechtigkeit. Lonnìl begriff, daß der Tod des Grafen Oban nur der Anfang gewesen war. Jetzt, wo man ihn ohnehin hängen würde, konnte er versuchen, auch den Leuten an anderen Orten zu helfen. Etwas anderes blieb ihm gar nicht mehr übrig. Das Leben eines Bauern konnte er nicht mehr führen, und er wollte es auch nicht. Seine Aufgabe war klar. Es würden noch viele Grafen sterben müssen, bis endlich Gerechtigkeit einkehrte in der Welt.
Aber erst einmal wollte er seine Ruhe haben.
Lonnìl hatte kein bestimmtes Ziel, nur das Gefühl, daß er irgendwo im Süden gebraucht wurde. Er half auf den Feldern, wo er konnte, so daß er nicht betteln mußte, um sein Brot zu verdienen. An diesem Tag hatte er aber keine Arbeit bekommen, und so war er mit dem bißchen Geld, das er besaß, in diesem Gasthof eingekehrt.
Lonnìl mochte Gasthäuser nicht. Es waren zu viele Leute dort, sie waren laut und betrunken und versuchten immer wieder, Schlägereien anzufangen. Hier war es nicht anders. Aber wenn er versuchte, einfach nicht auf die Leute zu achten, zu vergessen, wo er war und an nichts Bestimmtes zu denken, sah er Rauch. Eine schwarze Rauchsäule, die in der Ferne zum Himmel aufstieg.
Unwillkürlich blickte Lonnìl auf und schaute zur Tür. Ein neuer Gast war eingetreten, und obwohl sich Lonnìl nicht für die Vorgänge um ihn herum interessierte, konnte er nicht anders, als diesen Fremden zu beobachten. Es war etwas sehr Merkwürdiges um ihn. Auf den ersten Blick war er ein junger Mann, gekleidet wie ein Adliger. Aber auf den zweiten Blick merkte Lonnìl, daß es eigentlich unmöglich war, das Alter des anderen auch nur grob festzulegen. Er konnte jedes Alter haben, oder - so absonderlich Lonnìl dieser Gedanke auch erschien - gar keines. Und auch seine Kleidung wirkte nicht wie das, was ein Edelmann tragen würde. Nichts an den tiefschwarzen, weit geschnittenen Gewändern war irgendwie überladen oder aufdringlich, und doch hatten sie etwas ausgesprochen Vornehmes an sich. Lonnìl wußte nicht, wie er diesen Mann einordnen sollte. Er war anders als alle Menschen, die er jemals getroffen hatte, und er konnte seine Augen nicht abwenden.
Der Fremde bemerkte seinen Blick und erwiderte ihn. Als Lonnìl in die Augen des anderen blickte, hatte er das Gefühl zu erstarren. Diese Augen waren schwarz, nicht bloß von einem sehr dunklen Braun, sondern wirklich schwarz, und zugleich schien ein eigenes Feuer in ihnen zu liegen. Unwillkürlich wollte Lonnìl beiseite schauen, aber er zwang sich, geradeaus zu sehen. Er wußte nicht, wieso, aber er hatte das Gefühl, diesem Blick standhalten zu müssen. Gleichzeitig gelang es ihm, das Gesicht des Mannes zu erfassen, aber das erforderte schon etwas Konzentration. Glatte schwarze Haare hingen dem Fremden bis auf die Schultern und umrahmten seine feingeschnittenen Züge.
Weder die Augen noch das Gesicht verrieten die leiseste Gefühlsregung, doch Lonnìl hatte das unangenehme Gefühl, als blicke der Fremde direkt durch seine Augen in sein Herz. Einen Moment lang starrten sich die beiden Männer an, ohne sich zu rühren. Dann, für den Bruchteil eines Momentes nur, glitt ein Lächeln über die dünnen Lippen des anderen, und er hob kaum merklich die geschwungenen Augenbrauen. Lonnìl konnte förmlich spüren, wie sein Blick freigegeben wurde.
Und erst jetzt bemerkte er die beiden anderen, die mit dem seltsamen Fremden hereingekommen waren und hinter ihm in der Tür standen. Es waren ein junger Mann und ein Frau.
Beide waren sehr hoch gewachsen - noch fast einen Kopf größer als der Mann in schwarz - und sehr schlank. Ihre Haare waren lang und glatt, aber während die des Jungen silbrig weiß waren, schimmerten die der Frau wie reines Gold. Doch das Bemerkenswerteste an ihnen waren nicht ihre fremdartigen Kleider aus Leder und glänzendem bunten Stoff, verziert mit grünen Blättern, Federn und Fellstücken, sondern ihre Gesichter. Lonnìl hatte noch nie zuvor Elfen gesehen, aber er wußte, daß er nun zwei vor sich hatte. Ihre Gesichter waren schmal und lang, ohne dabei knochig zu wirken, mit ausgeprägten, hohen Wangenknochen, feinen, geraden Nasen und zarten, dünnen Lippen. Sie hatten seltsam schräge und langgezogene Augen: Die des jungen Mannes waren türkisblau, die der Frau so grün wie ein Wald im Sommerlicht; Farben, die von ihren Gewändern aufgegriffen wurden. Ihre kleinen Ohren liefen nach hin oben spitz zu.
Lonnìl hatte einige Geschichten über die Elfen gehört, vor allem über ihre Wildheit und Grausamkeit, aber als er sie nun lebendig vor sich sah, konnte er nicht mehr daran glauben. Vielleicht waren sie wirklich wild - ihre Kleidung ließ das vermuten. Aber wild ist nicht nur der reißende Wolf, sondern auch das scheue Reh. Und diese beiden konnten nicht die gefährlichen Bestien sein, als die man die Elfen immer beschrieb. Sie wirkten bedroht, nicht bedrohlich, wie sie nun neben dem Schwarzen in der Tür standen und sich umsahen. Es war Lonnìl unbegreiflich, wie er ihre schillernden Gestalten in dem tristen Grau und Braun der Umgebung zunächst hatte übersehen können.
Sie waren so schön, daß Lonnìl glaubte, nicht mehr atmen zu können, so als könne schon die leiseste Regung von ihm sie zerstören. Plötzlich kam er sich in seinem bäuerlichen Kittel sehr grob und plump vor, und er wünschte sich, unsichtbar zu sein. Am liebsten hätte er sich unter seinem Tisch verkrochen, und doch konnte er nicht anders, als die beiden Elfen anzustarren.
Während sich der Elf und die Elfe auf der einen Seite so sehr ähnelten wie Geschwister, konnte ihre Gesichter auf der anderen Seite nicht unterschiedlicher sein: Der Junge sah sich staunend und offenbar neugierig um, und um seine Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Die Elfe dagegen blickte ernst drein, und in ihren Zügen lag eine Bitterkeit, die auf schweres Leid schließen ließ. Der Anblick des Grams in ihren Augen brach Lonnìl fast das Herz. Wer immer dieser Frau ein Unheil zugefügt hatte, sollte dafür bezahlen, teurer noch, als es Graf Oban getan hatte.
Sie mußte seinen Blick bemerkt haben, denn plötzlich glitt sie hinter den Mann in schwarz, als wolle sie den neugierigen Augen ausweichen. Lonnìl spürte, wie er errötete und sah schnell weg, tat so, als interessiere er sich für sein Bier, das längst seinen Schaum verloren hatte. Nun wußte er, warum er hierher gekommen war, warum er halb Dunistan und ganz Angor durchquert hatte. Es war irgendwie vorbestimmt gewesen, daß er auf diese Elfen traf. Zwar gab es keine wirklichen Hinweise darauf, aber Lonnìl spürte, daß sein Leben nach dieser Begegnung nie wieder das sein konnte, was es vorher war.

Menschen, wohin das Auge blickte, das war es, was er sah. Der ganze Raum war voll von ihnen. Große und kleine, dicke und dünne, alte und junge Menschen saßen, standen und lagen herum. Keil wußte gar nicht, wo er hinsehen sollte: Konzentrierte er sich zu sehr auf die eine Ecke, dann verpaßte er vielleicht etwas in der anderen, aber wenn er immerfort seine Augen durch den Raum schweifen ließ, konnte er gar nichts richtig beobachten. Außerdem fiel ihm in dieser Luft das Atmen schwer. Menschen mochten zwar sehr interessant sein, aber sie rochen nicht besonders gut, vor allem in geschlossenen Räumen. Nur in der offenen Tür war es möglich, frische Luft zu bekommen, weswegen er davor zurückschreckte, die Wirtsstube ganz zu betreten. Und es war laut, so daß es unmöglich war, einer einzigen Unterhaltung zu folgen. Alle redeten durcheinander, wie die Spatzen in ihren Büschen, und wie bei den Spatzen war das Einzige, was er heraushören konnte, ein vielstimmiges »Ich! Ich! Ich!«
Keil war trotzdem sehr dankbar, daß Morren ihm erlaubt hatte, in dieses Gasthaus zu gehen. Der Zauberer hatte ihn sogar gegen Schwinge verteidigt, die so wütend geworden war, wie er es noch nie erlebt hatte. Aber sie war mitgekommen. Vermutlich wollte sie nicht alleine vor einem Menschenhaus warten. Sie sagte, es gehöre zu ihren Aufgaben, den jungen Barden zu beschützen, und wenn er sich unbedingt in Gefahr begeben mußte, war es besser, wenn sie auf ihn aufpaßte. Aber es war weniger die kampferfahrene Schwinge, die ihn jetzt beschützte, als vielmehr Morren.
»Ich werde etwas versuchen, daß ich noch nie zuvor getan habe«, sagte der Zauberer, bevor sie die Schankstube betraten. »Ich werde einen Zauber über euch legen, der euch zwar nicht unsichtbar machen, aber verhindern wird, daß euch irgend jemand bemerkt oder auf euch achtet. Ich habe den Schild noch nie über andere gelegt, und noch nie vor einer größeren Menge, aber wenn ich mich konzentriere, müßte es funktionieren.«
Und so war es auch. Da standen sie nun, unbeachtet, und hatten die Gelegenheit, sich umzusehen. Keil fand es faszinierend, auch wenn er vorher hätte fragen sollen, was ein Gasthaus oder eine Schankstube überhaupt waren. Aber er merkte auch, wie angewidert Schwinge war.
»Ich trau meinen Augen nicht! Hey, Golspie, Brora, seht euch das an!« Ein über alle Maßen häßlicher Mensch erhob sich von seinem Schemel und kam direkt auf sie zu. Er hatte kurze, drahtige rotbraune Haare und einen struppigen Bart im Gesicht, das rot glänzte und so zerfurcht war wie schlecht gegerbtes Leder. Sein schmutziges braunes Hemd hing halb aus seinem Hosenbund und entblößte, da es nicht zugeschnürt war, einen nicht minder haarigen Oberkörper. Die Stimme des Mannes war laut und unangenehm. Keil wartete gespannt ab, was als nächstes passieren würde. Vielleicht sollten sie besser nicht in der Tür stehenbleiben. Wenn es draußen etwas Interessantes zu sehen gab, konnte noch einer dieser Menschen direkt in sie hinein laufen. Schließlich bestanden sie nicht aus Luft. Schnell trat Keil einen Schritt zur Seite, um den Ausgang freizumachen. Der Mensch sah nicht gerade sympathisch aus.
»Was’n los, Dornoch?« fragte ein nicht minder abstoßender Mensch, der am Tisch des ersten saß.
»Hier sind ‘n Paar verdammte Spitzohren! Frage mich, wer die reingelassen hat?«
Jetzt standen der zweite Mensch und noch ein dritter, der fast noch häßlicher war, ebenfalls auf und gesellten sich zu ihrem Freund. Aber keiner machte Anstalten, das Gasthaus zu verlassen. Vielmehr blieben sie in etwas mehr als einem Schritt Entfernung stehen und sahen zu den Alifwin hinüber. Keil hatte ein ziemlich ungutes Gefühl bei der Sache.
»Was bedeutet das, Morren?« fragte er leise. »Sie haben uns doch nicht etwa bemerkt?«
»Ich fürchte schon«, entgegnete der Zauberer. »Es ist meine Schuld. Ich glaube, ich war … einen Moment lang unkonzentriert. Hoffen wir, daß es keinen Ärger gibt.«
»Vielleicht sollten wir schnell wieder gehen«, schlug Keil vor.
»Nein, das werden wir nicht«, sagte Morren. »Du wolltest die Menschen kennenlernen, und das sollst du nun auch.«
Langsam kam Keil der Verdacht, daß Morren ihm eine Lehre erteilen wollte, um ihm seine Neugier abzugewöhnen. Vielleicht war er absichtlich ‘unkonzentriert’ gewesen, um die Männer auf sie aufmerksam zu machen? Aber würde Morren so etwas tun? Vielleicht ja, aber nur, wenn er wußte, daß keine ernste Gefahr bestand. Keil entspannte sich wieder. Es würde nichts passieren; er mußte abwarten.
Der Mensch, den die anderen Dornoch genannt hatten, baute sich vor ihm auf und blies ihm seinen übelriechenden Atem ins Gesicht. »Na, Spitzohr, was hat dich hierher getrieben? Bist du auf der Suche nach schönen Jungen, oder was?«
Keil antwortete nicht, sondern hielt nur die Luft an und lächelte. Er wollte abwarten, wie Morren reagierte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sich die beiden anderen Menschen jetzt Schwinge näherten. Auf den Zauberer schienen sie nicht weiter zu achten. Sie würden sich noch wundern.
»Was für schöne Federn du da an deinem Hemd hast! Und was für schöne Blumen in den Haaren.« Es waren nette Worte, aber die Art, wie der Mensch sie aussprach, klang alles andere als nett. Obwohl Keil normalerweise jedes gesprochene Wort verstand, hatte er bei Dornoch einige Schwierigkeiten. Der Mensch redete zwar so laut, daß Keil schon beinahe die Ohren weh taten, aber seine Worte waren nicht klar zu verstehen. Morren tat noch immer nichts. Langsam wurde es Keil ungemütlich. Es war wohl doch das Beste, wenn sie schnell wieder gingen …
Als er sich zur Tür umdrehte, stand plötzlich der Mensch vor ihm und verstellte ihm den Weg. Keil hatte ihm eine derart flinke Bewegung gar nicht zugetraut, denn zuvor hatte sich der Mann eher schwerfällig bewegt. Mit einem Knall schloß er die Tür.
Bevor Keil auch nur einen Versuch machen konnte, hinaus zu kommen, wurde er rückwärts in die Wirtsstube gedrängt. Schwinge, die nicht wie er zurückwich, wurde von den beiden anderen gestoßen.
»Schaut euch das an, Leute!« brüllte der dritte, welcher einen struppigen gelben Bart hatte und fast keine Zähne mehr. »Wir haben zwei echte Elfen gefangen!«
Wo war Morren? Keil hatte ihn aus den Augen verloren. Er sah nur noch die drei Menschen, die ihm und Schwinge grinsend Schulter an Schulter den Ausgang versperrten und langsam näher kamen. Dornoch streckte die Hand aus und riß eine Feder von Keils Weste. Dann hielt er sie hoch, damit alle sie sehen konnten.
»Ich habe ein kleines Hühnchen gefangen! Wollen wir es braten?«
»Was soll das?« fragte Keil jetzt ärgerlich und, wobei er hoffte, daß Schwinge es nicht bemerkte, angsterfüllt .Eigentlich erwartete er keine Antwort. »Laßt uns in Ruhe! Wir haben nichts getan!«
»Das Hühnchen spricht! Nichts getan, sagt es! Tausend tote und verschleppte Männer, aber das Hühnchen hier hat nichts getan!«
Wäre nur seine Flöte zur Hand gewesen, dann hätte Keil es diesen Rüpeln zeigen können. Doch er wagte nicht, sie aus ihrem Beutel zu ziehen, aus Angst, daß man sie ihm wegnehmen und zerstören könnte. Aber Schwinge griff nach ihrem Jagdmesser, wirbelte herum und wollte gerade zustoßen, als sich der mittlere der Menschen von hinten auf sie warf und sie festhielt. Sie war zwar fast einen Kopf größer als er, aber er war viel breiter und eindeutig stärker, und vor allem kam ihm sein Freund zur Hilfe. Dornoch packte Keil und hielt ihn fest.
»Da seht ihr es!« rief der Mensch. »Die Elfen haben versucht, uns anzugreifen! Worauf wartet ihr? Helft uns, sie zu erledigen! Ich habe mit ihnen noch ein Hühnchen zu rupfen.«
Mit diesen Worten riß er weitere Federn von Keils Weste. Er war so stark, daß er nur einen Arm brauchte, um Keil festzuhalten, und diese Demütigung schmerzte fast noch mehr als alles andere. Die beiden anderen hatten mit Schwinge mehr Probleme. Aber sie konnte zur Not ja auch mit einer ausgewachsenen Wildsau fertig werden, und die Ähnlichkeiten waren nicht zu übersehen.
Plötzlich stieß Dornoch Keil von sich, bis dieser eine Armeslänge von ihm entfernt war, und hieb ihn mit Wucht ins Gesicht.
»Ich schlag dich tot, du verdammter Elf!« schrie er und schlug noch einmal zu. Keil schloß vor Schmerz und Scham die Augen und versuchte, irgendwie zurückzuschlagen, aber er bekam nur das Hemd des anderen zu fassen. Dornoch riß sich los und schleuderte ihn zu Boden. Er trat ihm noch einmal gegen das Bein.
Im selben Moment hörte Keil lautes Poltern, Krachen und Schreie. Morren!
»Euch werd ich lehren, eine hilflose Frau zu belästigen!«
Das war nicht Morrens Stimme. Es war die tiefe, kehlige Stimme eines Menschen. Vorsichtig blickte Keil auf. Ein Mann, der zuvor ruhig in einer Ecke gesessen hatte, war aufgesprungen und hieb mit einem langen, relativ dicken Stab auf Golspie und Brora ein, die eilig das Weite suchten. Dornoch rannte hinterher, als sie unter dem schallenden Gelächter der anderen Menschen das Wirtshaus fluchtartig verließen. Jetzt begriff Keil, was Morren getan hatte. Er konnte es nicht wagen, offen gegen die Rüpel einzuschreiten. Statt dessen hatte er sich einen Gast von geeigneter Kraft und eindrucksvoller Statur, zudem bewaffnet, ausgesucht und ihn durch Zauberei dazu gebracht, die Rüpel in die Flucht zu schlagen. Aber es war die einzige Möglichkeit. Wenn Morren die Gegner mit einem Blitz angegriffen hätte, wäre vermutlich das ganze Haus zusammengebrochen, und es hätte Tote und Verletzte gegeben. So aber waren sie gerettet.
Keil klaubte seine verstreuten Federn auf, bevor er sich, immer noch leicht zitternd, aufrappelte. Vielleicht würde es ihm gelingen, sie wieder festzumachen. Es waren schöne Federn, die er im Laufe der Zeit zusammengesucht hatte. Aber Dornoch hatte auf ihnen herumgetrampelt, so daß sie jetzt unansehnlich und zerzaust aussahen. Vielleicht konnte Keil sie wieder herrichten. Möglicherweise würde Morren ihm ja auch helfen …
»Ist alles in Ordnung mit dir?« Der Mann, der sie gerettet hatte, streckte Schwinge seine Hand hin. Er war für einen Menschen sehr groß, größer als alle, die Keil zuvor gesehen hatte. Seine Kleidung war einfach, aber ordentlich, anders als die der drei Rüpel. Wie fast alle Menschen trug er ein eintöniges Braun. Keil fragte sich, ob sie selbst nicht merkten, wie trostlos das wirkte, oder ob es ihnen gleichgültig war. In der anderen Hand hielt der Mann seinen Stab. Schwinge sah ihn lange und abschätzend an. Dann drehte sie sich beiseite. Die Hand des Mannes verharrte noch einen Augenblick in der Luft, bevor er sie sinken ließ. Keil hielt die Luft an. Hoffentlich würde der Mann Schwinge diese Beleidigung nicht übelnehmen - schließlich war sie gerade von zwei Menschen angegriffen worden und nicht in der Stimmung, Frieden zu schließen.
Schnell sagte Keil: »Du hast uns gerettet. Danke.«
Er lächelte den anderen freundlich an, um zu zeigen, daß sie wirklich keinen Ärger wollten. Der Mann erwiderte seinen Blick und nickte, aber seine Miene blieb ernst. Es war etwas Trauriges an ihm, das Keil nicht sofort einordnen konnte. Dann merkte er, daß es ihn an Schwinge erinnerte. Die Augen des Menschen dagegen erstrahlten in einem Blau, das die tristen Farben seines Kittels sofort vergessen ließ.
»Es ist nicht der Rede wert«, sagte der Fremde. »Die Hauptsache ist, daß euch nichts passiert ist. Ich mußte einfach eingreifen. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie unschuldigen Menschen … Leuten ein Leid zugefügt wird. Bist du verletzt?«
Keil verneinte es, auch wenn sein Kopf noch von den Schlägen schmerzte und seine Unterlippe blutete. Er war noch nie zuvor geschlagen worden. Natürlich hatte er erwartet, daß es weh tun würde, aber was ihm mehr zu schaffen machte, war die hilflose Wut, die er gespürt hatte, als er am Boden lag. Die Hilflosigkeit war vorbei, aber die Wut geblieben. Doch zugleich verspürte Keil Dankbarkeit gegenüber seinem Retter. Irgendwie hatte er nicht mehr das Gefühl, daß Morren seine Macht im Spiel hatte. Dieser Mensch schien ihm aufrichtig besorgt.
Aber wo war Morren? Was hatte er während des ganzen Durcheinanders gemacht? Keil sah sich suchend um, als der Zauberer plötzlich aus einer Nische trat, die Keil vorher nicht bemerkt hatte. Er ging auf den großen Menschen zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Das hast du gut gemacht, mein Freund. Wir werden auf ewig in deiner Schuld stehen. Aber wer bist du, wenn ich fragen darf?«
Der Mann zögerte lange bevor er antwortete. »Meine Name ist Lonnìl«, sagte er schließlich.
»Sehr schön, Freund Lonnìl. Es freut mich, dich kennengelernt zu haben. Du kannst sehr gut mit deinem Stock umgehen. Ich vermute, du übst viel?«
Der Mann starrte ihn an und wurde blaß. »Wer seid ihr?« flüsterte er. »Woher kommt ihr?«
»Nicht von dort, wo man dich sucht, mein Freund - wo immer das sein mag. Hüte dein Geheimnis, so wie wir unseres hüten. Gestatte nun, daß wir aufbrechen. Nach diesem … Zwischenfall hält uns nicht mehr viel in diesem gastlichen Haus. Aber deine Mühe soll belohnt werden. Wenn du einmal in Gefahr geraten solltest, verbrenne diesen Zweig hier und denke fest an Morren, den Zauberer. Gehabe dich wohl.«
Er verbeugte sich noch einmal schwungvoll mit fliegendem Umgang und schritt hinaus. Keil folgte ihm eilig. Schwinge wartete bereits draußen.
»Nun«, fragte Morren nach längerem Schweigen, »hat dir das, was du über die Menschen gelernt hast, gereicht? Oder möchtest du noch mehr Erfahrungen zu sammeln?«
Keil antwortete nicht und ignorierte auch den schadenfrohen Unterton, in der Stimme des Zauberers. Es würde lange dauern, bis Schwinge ihm dieses Erlebnis verzeihen würde - wenn sie es überhaupt jemals tat.
»Ich habe dich etwas gefragt!« sagte Morren scharf.
»Die Menschen sind so … unterschiedlich«, antwortete Keil schließlich. »Die drei, die uns angegriffen haben, waren furchtbar, aber der andere Mann war nett. Woher wußtest du, daß er verfolgt wurde? Hast du seine Gedanken gelesen?«
»Das war nicht nötig. Ich erkenne eine gehetzte Kreatur, wenn ich sie sehe. Vermutlich hat er jemanden erschlagen, und das muß er nun seiner Ansicht nach wiedergutmachen. Darum hat er euch gerettet. Ich mußte ihn nur auf euch aufmerksam machen. Aber die Idee mit dem Zweig gefällt mir immer noch. Diese Bauern sind so leicht zu beeindrucken. Das mag ich.«
»Es war kein magischer Zweig?« fragte Keil.
»Es war Wacholder. Ich finde ständig irgendwelche Kräuterreste in meiner Kleidung. Zu schade zum wegzuwerfen, aber für meinen Tee nehme ich lieber frisch gepflückte.«
Schwinge ging, ohne sich umzusehen, voraus, und Keil hatte Probleme, ihren langen Schritten schnell genug zu folgen. Er mußte nicht einmal ihr Gesicht sehen, um zu wissen, daß sie wirklich wütend war.

Ihr Gesicht … warum ging ihm ihr Gesicht nicht mehr aus dem Kopf? Sie hatte so traurig ausgesehen, aber das alleine konnte es nicht sein. Dies waren harte Zeiten für alle außer den Adligen, und er hatte Schmerz und Leid schon tief in viele Gesichter gegraben gesehen.
Aber als Lonnìl nun die Augen schloß, sah er keinen Rauch mehr vor sich - nur noch das Gesicht der Elfe. Und selbst jetzt, wo sie nicht mehr wirklich vor ihm stand, stiegen ihm Tränen in die Augen, und er mußte die Luft anhalten angesichts solcher Schönheit.
Wie im Traum bezahlte er sein Bier, von dem er nur einen Schluck getrunken hatte, und ging. Er wußte nicht, wohin er gehen wollte. Aber er merkte, daß er ganz von selbst den Weg eingeschlug, den die Fremden genommen hatten. Seine Hand umklammerte den magischen Zweig, den ihm der Zauberer gegeben hatte. Das hätte er eigentlich sofort erkennen müssen. Kein gewöhnlicher Mensch trug derartige Kleider, aber vor allem hatte kein gewöhnlicher Mensch derart durchdringende Augen. Elfen, Zauberer … es war, als hätte Lonnìl es verlernt, sich über irgend etwas zu wundern. Nicht, daß ihn sein Leben so sehr abgestumpft hätte. Er erkannte Schönheit, wenn er sie sah. Aber das plötzliche Auftreten dieser übersinnlichen Gestalten erschien ihm so normal, als habe er insgeheim die ganze Zeit darauf gewartet erwartet. Vielleicht war es kein Zufall, daß sie an diesem Tag in diesem Gasthaus aufeinander getroffen waren? Es war, als zöge ihn eine unsichtbare Macht mit Gewalt aus seiner Ecke und zwinge ihn, zuzuschlagen, so wie er auf Graf Oban eingeschlagen hatte. Diesmal hatte er zum Glück niemanden getötet. Aber die beiden hatten anständig gehumpelt, als sie davon rannten, und Lonnìl bedauerte, daß der Dritte ungeschoren entkommen war.
Und was würde er jetzt tun? Darauf gab es nur eine Antwort. Er würde den Fremden folgen, auf Gedeih oder Verderb, ohne daß er sagen konnte, warum. Mit dem Bild der Elfe vor Augen und dem Zweig in seiner ausgestreckten Hand ging er seinen Weg, als ob diese Zeichen ihn führen könnten. Sie konnten es.
Lonnìl war nie abergläubisch gewesen. Aus Wolkenformationen hatte er nie drohendes Unheil gelesen, sondern immer nur drohendes Unwetter, und auch die Flughöhe der Wildgänse hatte keinen Einfluß auf sein Schicksal. Natürlich wußte er, daß es die Götter gab. Aber sie scherten sich nicht darum, was ein einfacher Bauer tat. Doch plötzlich fühlte er sich, als ob etwas Fremdes sein Denken, sein Handeln bestimmte.
Wenn er morgens aufwachte, wußte er genau, in welche Richtung er sich wenden mußte, als habe eine unsichtbare Stimme ihm im Traum den Weg gewiesen. Aber erst nach mehr als drei Tagen erkannte Lonnìl, welche fremde Kraft mit einem Mal sein Leben bestimmte: Es war die Liebe.
Das Gefühl war seltsam: Sein ganzes Leben über hatte er darauf gewartet, daß es passieren würde. Lonnìl glaubte an die Kraft der Liebe. Er wollte keine Frau heiraten, die er nicht wirklich aus tiefstem Herzen liebte. Und jetzt hatte er sie gefunden.
Wen kümmerte es schon, daß sie kein Mensch war? Seiner Liebe tat es keinen Abbruch. Keine Menschenfrau konnte so schön sein wie diese Elfe. Einen Moment lang bekam Lonnìl Angst. Elfen gebrauchten Magie, das wußte er. Was war, wenn sie ihn verhext hatte, damit er ihr willenlos folgte? Aber das paßte nicht zu dem, was man sich sonst von den Elfen erzählte. Es hieß, sie töteten die Menschen immer sofort.
Aber sie hatten es nicht getan. Und Lonnìl spürte auch, daß seine Liebe nicht das Ergebnis von trügerischer Zauberkraft war, sondern echt. Kein anderes Gefühl war jemals so wirklich gewesen, so schmerzhaft. Er mußte die Elfe wiederfinden, ihn nicht nur folgen, sondern sie einholen. Lonnìl gab die Hoffnung nicht auf. Stärker als Magie war die Liebe. Und sie würde seinen Schritt beflügeln, bis er die Elfe endlich in seinen Armen hielt.

Schwinge war aufgefallen, daß Morren in den letzten Tagen sehr viel öfter als zuvor in seine Kugel blickte, und sie fragte ihn, was los war.
»Ich sage es nur sehr ungern«, antwortete er, »aber ich werde das Gefühl nicht los, daß wir verfolgt werden.«
»Vielleicht sind es diese drei Menschen«, sagte Keil und schauderte. »Sie wollen sich an uns rächen.« Schwinge würde nie vergessen, wie er dort in dem Haus gelegen hatte, zitternd wie ein kleines Kind. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken. Seine Feigheit würde sich eines Tages noch zu einer größeren Gefahr entwickeln als seine unbezähmbare Neugier. Aber Morren ließ nicht zu, daß Schwinge dem Barden deswegen Vorwürfe machte.
»Sie sollten sich besser an diesem Mann rächen, wie hieß er noch gleich … Lonnìl. Immerhin war er es, der sie verprügelt hat. Und ich glaube auch nicht, daß sie uns folgen. Ich versuche, die Wegstrecke zu überblicken, die hinter uns liegt, aber ich sehe immer nur eine einzelne Person, nicht drei. Alleine aber trauen sich diese Rüpel zu nichts. Also ist es keiner von ihnen. Es kann natürlich ein Zufall sein, aber …«
»Was willst du sagen?« fragte Schwinge.
»Ich glaube, der Mann, der uns folgt, ist Lonnìl. Ich weiß nicht, was er damit bezweckt. Vielleicht ist ihm eingefallen, daß er auch eine richtige Belohnung hätte verlangen können. Aber er liegt mehr als einen ganzen Tag hinter uns zurück, obwohl er erstaunlich lange Schritte macht.«
»Wir selbst kommen viel schneller voran, seit du bei uns bist«, stellte Keil fest. »Wie machst du das?«
»Du möchtest, daß ich dir erkläre, wie Magie funktioniert?« Morren lachte leise. »Nicht, bevor du weißt, wie die Welt funktioniert. Und schon das ist mehr, als du jemals erfahren willst.«

Er war überzeugt, daß sie diesen Weg genommen hatten, auch wenn Lonnìl keinerlei Spuren fand und niemand, den er fragte, sie gesehen hatte. Sein Herz spürte, welcher Weg der richtige war. Er ging so schnell er konnte, und mit jeden Tag rastete er kürzer, um die verlorene Zeit aufzuholen. Doch nirgends fand sich ein Zeichen der Elfe. Schließlich verzichtete er völlig auf Pausen. Die Liebe gab ihm die Kraft, Tag und Nacht hindurch zu wandern, und wenn er an nichts anderes dachte als ihr Gesicht, dann fühlte er keinen Hunger, keine Müdigkeit. An einem Tag nahm ihn ein Bauer ein Stück weit auf seinem Ochsenkarren mit, aber der war noch langsamer, weshalb sich Lonnìl schnell wieder verabschiedete.
Drei Tage und zwei Nächte hindurch wanderte Lonnìl, ohne auch nur ein einziges Mal länger anzuhalten. Doch dann verließen ihn seine Kräfte. Nicht einmal die Macht der Liebe kann einem Mann Essen und Schlaf ersetzen, zumindest nicht für längere Zeit. So schlug er am Abend des dritten Tages sein Nachtlager auf, mitten im tiefsten Wald, denn die Elfen und der Zauberer hatten die befestigten Wege verlassen. Lonnìl fühlte, daß er ihnen nun schon sehr viel näher war, und er hatte jetzt auch richtige Spuren, denen er folgen konnte: Er war am Vormittag an einem Rastplatz vorbeigekommen, dessen Asche noch warm war.
Mit einem gezielten Steinwurf tötete er ein Kaninchen, wie er es als Junge gelernt hatte, und entzündete mit zwei Steinen und einiger Mühe ein kleines Feuer, über dem er es braten konnte. Aber er war zu müde, um mehr als nur ein paar Bissen zu essen. Das Fleisch würde am nächsten Morgen immer noch gut genug, wenn auch kalt, sein. Das einzige, was Lonnìl jetzt noch wollte, war schlafen. Es kümmerte ihn nicht, daß es kalt war und der Boden hart und uneben. Kaum hatte er sich in seinen Mantel wie in eine Decke eingerollt, fielen ihm auch schon vor Erschöpfung die Augen zu, und er war gerade noch lange genug wach, um das Bild der Elfe vor sich zu sehen, wie sie ihm zulächelte.
Er konnte nicht sagen, wie lange er geschlafen hatte, nur, daß es zu kurz war, ihn plötzlich einige harte Fußtritte aus der traumlosen Ruhe rissen. Zu müde, um die Schmerzen wahrzunehmen, öffnete Lonnìl die Augen. Ein weiterer Tritt traf ihn direkt in der Bauchgegend.
»Hoch mit dir, Tagedieb!« schrie eine laute, befehlsgewohnte Stimme. »Ich werde dir zeigen, was es heißt, in den Wäldern des Grafen zu wildern!«
Noch bevor der Mann wieder zutreten konnte, war Lonnìl auf die Füße gesprungen und griff nach seinem Stab. Ein Schwindelgefühl ließ ihn fast wieder zu Boden stürzen, doch es gelang ihm, sich aufzustützen. Schwer atmend sah er nun endlich, wer ihn da überfallen hatte. Es was ein mittelgroßer bärtiger Mann mit einem grünen Hut und grünem Wams. Wahrscheinlich waren auch seine Hosen und Stiefel grün, aber das konnte Lonnìl nicht erkennen, denn es war noch immer finstere Nacht, und das einzige Licht kam von der Laterne, die der Fremde in der Hand hielt. Aber Lonnìl mußte nicht mehr sehen, um zu wissen, mit wem er es zu tun hatte: Einem Wildhüter.
»Ich habe nicht gewildert!« beeilte er sich zu sagen.
»Ach nein? Und was ist das da?« Der Mann trat gegen die Reste des Kaninchens. »Dafür wirst du hängen!«
Ohne Nachzudenken riß Lonnìl seinen Stab hoch, um den Wildhüter niederzuschlagen, noch bevor der sein Schwert ziehen konnte. Da dieser mit der Rechten die Laterne hielt, würde er nicht schnell genug reagieren können. Aber das war auch gar nicht nötig. Alles, was er machte, war ein Schritt zur Seite. Lonnìl selbst wurde seinem eigenen Schwung von den Beinen gerissen. Er hatte vergessen, daß der Stab seine Stütze war. Ein stechender Schmerz zog sich durch seinen Bauch, wo ihn die Stiefel getroffen hatten, und Lonnìl schrie auf, als er im Fallen mit der Hand in die noch immer schwelende Glut seines Feuers griff. Der Wildhüter lachte höhnisch.
»So nicht, mein Freund«, sagte er. »So nicht.«
Und während Lonnìl noch zu überlegen versuchte, was mit ihm geschehen war, zog der Wildhüter sein Schwert. Mit letzter Kraft rollte Lonnìl zur Seite. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Nun forderten die drei Nächte, in denen er nicht geschlafen hatte, ihren Tribut. In der Hoffnungslosigkeit seiner Situation mußte er lachen. So würde nun der Mörder des Grafen Oban sterben, weil er ein Kaninchen getötet hatte. Vor seinem Auge überschnitten sich zwei Bilder: Das des Wildhüters, der mit seinem Schwert auf ihn zu kam, und das immer deutlicher werdende Gesicht der Elfe. Während die Welt um ihn herum mehr und mehr verschwamm, wurden ihre grünen Augen immer deutlicher, brennender. Aber sie waren gar nicht grün … Sie waren schwarz! Und sie gehörten nicht der Elfe, sondern dem Zauberer. Plötzlich fiel Lonnìl die Worte wieder ein: ‘Wenn du einmal in Gefahr geraten solltest …’ Warum hatte er nicht mehr an den Zweig gedacht? Fahrig griff Lonnìl in die Tasche seines Kittels. Das Schwert hatte ihn noch nicht erreicht. Es war, als ob die Zeit für alles außer ihm stillstände, als ob die Götter ihm noch eine letzte Gelegenheit gaben, sein Leben zu retten. Er wollte nicht sterben!
Lonnìl ertastete den Zweig und warf ihn in die Glut. Doch so sehr er sich auch auf Morren, den Zauberer, zu konzentrieren versuchte, gelang es ihm nicht, sich an sein Gesicht zu erinnern. Mehr als die Augen waren ihm nicht im Gedächtnis geblieben, während er die Elfen so deutlich vor sich sah, als stünden sie neben ihm.
Morren …
Das Feuer loderte plötzlich wieder auf, mit mannshohen Flammen, rot wie Blut. Lonnìl wurde es schwarz vor Augen, und das letzte, was er hörte, war ein leises, aber durchdringendes Lachen.

Keil fuhr jäh aus dem Schlummer hoch, als er das Schreien hörte. Es war zwar nur leise, konnte aber nicht weit entfernt sein, allenfalls ein paar hundert Schritt, und die Stimme war die eines Menschen. Keil setzte sich auf und sah sich lauschend um. Morren und Schwinge hatten es ebenfalls gehört.
»Das ist kein Tier«, sagte Schwinge. »Da ist etwas. Jemand.«
»Bleibt ganz ruhig«, flüsterte der Zauberer. »Ich werde nachsehen.« Er zog die Kugel hervor, warf aber nur einen kurzen Blick hinein und ließ sie wieder sinken. »Das gibt es doch nicht!«
»Was ist los?« fragte Keil und versucht, etwas zu erspähen. Aber wieder einmal mußte er feststellen, daß der Kristall seine Geheimnisse nur dem Zauberer offenbarte. Sein Inneres war so weiß und trüb wie immer.
»Dieser Mensch, Lonnìl. Ich war mir sicher, daß er uns verloren hatte. Er konnte unmöglich mit unserer Geschwindigkeit reisen. Und doch hat so weit aufgeholt, daß er kaum zweihundert Schritt hinter uns sein Lager aufgeschlagen hat. Aber was für erstaunliche Fähigkeiten er auch haben mag, im Moment ist er in Schwierigkeiten. In ziemlich ernsten, sogar.«
»Was ist mit ihm?« fragte Keil besorgt. Es war zwar nur ein Mensch, aber immerhin hatte er sie gerettet. Das Rufen hatte längst aufgehört. Morren antwortete nicht. Er lachte noch einmal kurz auf und begann dann, sich ganz auf die Kugel zu konzentrieren, und seine freie Hand zuckte. Schließlich meinte er: »Manchmal bin ich von mir selbst erstaunt. Aber ich glaube, dieser Wacholderzweig, den ich ihm gegeben habe, hat gerade sein Leben gerettet.«
Er steckte der Kristall ein, erhob sich vom Boden und machte Anstalten, die Lichtung zu verlassen.
»Was ist los?« fragte Schwinge. »Wo gehst du hin?«
»Nachsehen«, antwortete Morren bloß. »Kommt mit, wenn ihr wollt.«
Schwinge nahm ihren Bogen, dann folgten sie dem Zauberer durch den nächtlichen Wald. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine kleine Kugel aus reinem Licht. Keil hatte noch nie etwas derart Schönes gesehen, aber jetzt war nicht der Moment, um danach zu fragen. Schnell hatten sie die Stelle erreicht, von wo die Schreie gekommen sein mußten. Nun war es dort ruhig. Nichts war zu sehen außer einem heruntergebrannten Feuer, zertretenem Gras und einem Menschen, der reglos am Boden lag Es war wirklich Lonnìl.
»Schaut nach, ob er noch lebt«, ordnete Morren an. »Ich habe hier gerade etwas Feuer gemacht, und er war ziemlich nah daran. In der Kugel konnte ich nur sehen, daß ich seinen Gegner in wilde Panik versetzt und vertrieben habe, aber nicht, ob ich unserem Freund überhaupt das Leben retten konnte.«
Doch sowohl Keil als auch Schwinge zögerten. Sie konnten doch nicht einfach einen Menschen berühren!
»Ob er lebt oder nicht, ist mir gleichgültig«, sagte Schwinge.
»Aber er hat uns gerettet!« warf Keil ein.
»Ich weiß. Darum ist es mir ja auch gleichgültig. Jedem anderen hätte ich den Tod gewünscht.«
Inzwischen war Morren selbst neben dem Bewußtlosen niedergekniet. »Lebt«, stellte er fest. »Nicht einmal verletzt. Kleine Brandwunden. Er ist einfach nur ohnmächtig.«
»Dann können wir ja wieder gehen«, sagte Schwinge. »Du weißt, was du wissen wolltest.«
»Nein«, sagte Morren. »Es erklärt noch immer nicht, wie er uns einholen konnte. Ich werde ihn aufwecken.«
In diesem Moment kam Lonnìl wieder zu sich. Er zwinkerte verwirrt. Aber als sein Blick auf Schwinge fiel, konnte Keil ihn förmlich erstarren sehen.
»Warum starrst mich der Mensch so an?« fragte Schwinge.
»Meine Liebste«, flüsterte der Mensch benommen. »Endlich habe ich dich gefunden.«
»Wovon redet der Mann?« fragte Keil verwundert.
Morren lachte und half Lonnìl, aufzustehen. »Komm mit, mein Freund!« sagte er in der Menschensprache und fügte, an die Alifwin gerichtet, hinzu: »Ich glaube, wir haben das Glück, Zeuge eines einmaligen Phänomens zu werden. Dieser Mensch hier hat sich in Schwinge verliebt.«
Es gab einiges, das Morren Keil in dieser Nacht erklären mußte, während der Mensch und so friedlich schlief, als ob nichts geschehen sei. Endlich fing der Zauberer damit an, ihm etwas über die Menschen beizubringen, aber Keil fand es ausgesprochen verwirrend.
»Aber das ist nur ein grober Überblick«, sagte Morren. »Lonnìl wird es dir besser selbst erklären, wenn er wieder wach ist. Laß ihn schlafen. Er ist zu erschöpft, um irgend etwas anderes zu tun.«
Keil warf einige skeptische Blicke auf den schlafenden Mann. Morren schien davon auszugehen, daß sie sich am nächsten Morgen noch ausgiebig mit dem Menschen würden unterhalten können, aber Schwinge war entschieden dagegen.
»Ich weiß, daß er uns einmal geholfen hat«, sagte sie. »Aber jetzt hast du ihn gerettet, und damit sind wir ihm nichts mehr schuldig. Wir sollten ihn liegenlassen und weitergehen.«
»Wir sollten die Entscheidung auf morgen früh verschieben«, meinte Morren. »Ich möchte gerne mehr über ihn wissen. Und vielleicht wirst du auch deine Meinung über Menschen ändern, wenn du mit ihm geredet hast.«
»Ich werde nicht mit ihm reden. Ich spreche nicht mit Menschen. Es ist Verrat.«
»Nichts mehr darüber«, sagte Morren. »Morgen reden wir weiter.«

Als Lonnìl am nächsten Morgen erwachte, wußte er zunächst nicht mehr, was in der Nacht geschehen war. Dann kam die Erinnerung, düsteren Schatten gleich, und sie endete damit, daß er und die Elfe sich Auge in Auge gegenüber standen. Aber sie hatte ihn nicht angelächelt, wie in seinen Träumen. Ihr Blick war finster.
Und jetzt lag er hier, und die Elfen und der Zauberer standen um ihn herum und starrten ihn an. Sein Bauch schmerzte ihn noch immer von den Tritten des Wildhüters, und seine linke Hand brannte. Es konnte also kein Traum sein. Wer träumte, hat keine Schmerzen.
»Ich habe dir das Leben gerettet«, sagte der Zauberer. »Schwinge hier findet, damit sind wir quitt.«
Ihr Name war Schwinge! Immer wieder hatte Lonnìl sich überlegt, wie sie wohl heißen mochte, aber kein Name, den er ihr gegeben hatte, paßte so gut wie dieser. Schwinge.
»Ich möchte dir aber noch einige Fragen stellen«, fuhr der Zauberer fort. »Zunächst einmal: Warum umklammerst du fortwährend deine linke Hand?«
»Ich habe sie mir verbrannt«, antwortete Lonnìl. »Ich bin ins Feuer gefallen.«
»Da sehe ich aber nichts von«, sagte der Zauberer lächelnd.
Lonnìl betrachtete seine Hand erstaunt. Die Brandwunde war verheilt, nicht einmal eine Narbe zurückgeblieben. Eigentlich spürte er auch gar keine Schmerzen mehr. Sie waren da gewesen, weil sie hätten da sein müssen. »Das … das hast du gemacht?«
Morren nickte. »Das, und noch einiges mehr. Aber was ich vor allem wissen will: Warum bist du uns so weit gefolgt? Es ist doch kein Zufall, daß du direkt hinter uns warst!«
Lonnìl starrte in die Glut und schwieg. Er konnte doch nicht einfach einem dritten seine Liebe zu Schwinge gestehen! Aber der Blick des Zauberers, hatte etwas Forderndes. In dem Gasthaus war es schwer gewesen, ihm standzuhalten. Jetzt war es unmöglich.
»Ich konnte nicht anders«, flüsterte Lonnìl schließlich. »Ich mußte einfach … Es ist … ich liebe sie!«
»Das ist, wenn auch keine kluge, zumindest eine klare Aussage«, sagte der Zauberer. Es schien ihn nicht weiter zu überraschen. Lonnìl fragte sich, ob er in der Nacht, zwischen Schlaf und Ohnmacht, vielleicht schon etwas in der Art gesagt hatte. Er erinnerte sich nur noch an ihr Gesicht.
»Du meinst, es ist nicht klug, daß ich als Mensch eine Elfe liebe?« fragte Lonnìl. Jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, fiel es ihm erstaunlich leicht, darüber zu reden.
»Liebe ist niemals klug«, entgegnete der Zauberer. »Sonst wäre es keine Liebe.« Sein Lachen war ein leiser Abgrund. »Und du liebst sie wirklich? Immerhin hast du sie nur einmal kurz gesehen.«
»Das weiß ich. Aber ich liebe sie.«
Morren nickte. »Ich verstehe. Selbst wenn wir dich jetzt wieder verließen, würdest du weiter versuchen, uns zu folgen, nicht wahr?« Dann fügte er, an die Elfen gerichtet, etwas in einer Sprache hinzu, die Lonnìl nicht verstand. Was immer es bedeuten mochte, es klang wie eine wunderschöne Musik. Der Elfenjunge blickte auf, und jetzt erst merkte Lonnìl, daß er zuvor gar nicht das Lied eines fremden Vogels gehört hatte, sondern eine kunstvoll gespielte silberne Flöte.
Schwinge antwortete dem Zauberer aufgebracht und zeigte mehrmals auf den Wald hinter sich. Lonnìls Herz sank. Nun hatte er sie gefunden - und sie wollte ihn nicht in ihrer Nähe haben. Während die Elfe mit dem Zauberer diskutierte, wünschte Lonnìl sich wieder, unsichtbar zu sein. Die ganze Situation war ihm furchtbar unangenehm. Hätte er doch nur kein Wort von seiner Liebe gesagt! Er spürte den Blick des Elfen, der wieder zu spielen begonnen hatte, auf sich ruhen. Die Musik hatte etwas Erleichterndes, Befreiendes an sich. Langsam wurde Lonnìl wieder sicherer. Er würde Schwinge folgen, und wenn es bis an das Ende der Welt ging.
Nach einiger Zeit kam Morren zu ihm zurück. »Es sieht schlecht aus für dich, mein Freund. Schwinge haßt die Menschen. Sie würde euch am liebsten alle tot sehen.«
Lonnìl schluckte und spürte, wie etwas in ihm erstarrte. Wenn das stimmte, dann waren die Elfen wirklich so wie in den Geschichten: Böse, grausame Gestalten, nach außen hin wunderschön, aber innerlich kalt und berechnend. Von allen Fragen, die er im Laufe seines Lebens gestellt hatte, war dies sicher die unangenehmste. Aber Lonnìl mußte es einfach wissen.
»Morren«, begann er zögerlich. »Sind die Elfen … sind sie nun gut oder böse?«
»Mußt du das wissen?« fragte der Zauberer zurück.
»Nun, ich … ich denke schon. Alle Leute haben immer gesagt, die Elfen sind böse, aber ich will es nicht glauben.«
»Du gehörst zu den Leuten, die immer alle anderen nach ‘gut’ und ‘böse’ einteilen müssen. Gibt es für dich kein ‘neutral’?«
»Niemand ist neutral«, erwiderte Lonnìl, ohne lange zu überlegen. »Allerhöchstens unentschlossen.«
Der Zauberer begann zu lachen. »Ich denke, es gibt mehr Farben als schwarz und weiß. Aber was die Alifwin angeht … nun, sie wären mit deiner Frage überfordert. Ausdrücke wie gut und böse gibt es für sie nicht. Sie schauen darauf, ob ihnen jemand freundlich gesonnen ist oder nicht. Die Menschen verhalten sich ihnen gegenüber feindlich, folglich sind auch die Alifwin die Feinde der Menschen. So einfach ist das. Wen macht das in deinen Augen nun gut oder böse?«
»Die Menschen«, antwortete Lonnìl nach langem Zögern.
Morren schüttelte den Kopf. »Falsch. Niemanden.«
Als Lonnìl merkte, daß er dabei war, dem Zauberer sein gesamtes Leben zu erzählen, war es schon zu spät. Die Fragen kamen so behutsam, daß er keinerlei Argwohn schöpfte. Und jetzt wußte Morren alles, selbst von dem Mord an Graf Oban. Dennoch fühlte Lonnìl keine Angst. Diese Leute würden ihn nicht verraten. Und es tat gut, nach all den Wochen endlich darüber zu reden.
»Also ziehst du jetzt umher und tötest Adlige?« fragte der Elfenjunge, Keil hieß er, plötzlich. »Faszinierend.« Bis dahin hatte Lonnìl völlig vergessen, daß die Elfen auch seine Sprache sprechen konnten. Aber Schwinge redete trotzdem nicht mit ihm, und sie ließ sich auch nicht anmerken, daß sie ihn verstand. Der Elf fügte hinzu: »Mit Schwinge ist es ähnlich. Die Menschen haben ihre Eltern getötet, und eines Tages wird sie sich dafür rächen.«
Getötet … Das erklärte natürlich alles, ihre ganze feindselige Haltung. Wenn er ihr nur begreiflich machen konnte, daß er ihr nichts Böses wollte! Er wollte ihr doch nur helfen! Der Gedanke an Menschen, die ohne jeden Grund Elfen abschlachteten, versetzte ihn mindestens so sehr in Wut wie der an die grausamen Adligen. Er fühlte den selben Zwang, einzugreifen.
»Wenn es irgend einen Weg gibt, wie ich euch beistehen kann, dann sagt es mir!« rief er. »Ich möchte euch helfen zu finden, was immer ihr sucht. Ich möchte euch beschützen, nicht zulassen, daß die Menschen euch weiterhin wie Tiere behandeln.«
»Grob gesagt: Du möchtest uns begleiten?« fragte Morren. »Und das, obwohl du noch nicht einmal weißt, was wir suchen? Es könnte das Ziel der Alifwin sein, alle Menschen zu vernichten und die Herrschaft über die Welt zurückzugewinnen.«
Lonnìl schüttelte den Kopf. »Das würden sie nicht tun. Es wäre nicht gerecht, und sie wissen das. Was also sucht ihr?«
Die Elfen berieten einige Zeit in ihrer eigenen Sprache miteinander. Schließlich setzte Keil sich zu ihm. »Wir haben beschlossen, daß du die Geschichte hören darfst, Mensch«, sagte er freundlich. »Du wirst keinen Schaden damit anrichten können, wenn du weißt, wie die Welt vor eurer Zeit ausgesehen hat.«
Lonnìls Gefühl, daß die Elfen die Menschen wirklich nicht vernichten wollten, hatte ihn nicht getrogen. Der Plan war zwar sehr traurig, aber doch voller Hoffnung. Als Keil geendet hatte, sagte Lonnìl mit belegter Stimme: »Ich möchte euch mit aller Kraft helfen, wenn ihr bereit seid, meine Hilfe anzunehmen. Nehmt es als ein Zeichen der Versöhnung.«
»Das meinst du ehrlich, nicht wahr?« sagte Morren. »Auch auf die Gefahr hin, eigenmächtig zu handeln: Ich würde mich freuen, wenn du uns begleitest, Lonnìl. Ein Zeichen der Versöhnung ist genau das, was den Menschen und Alifwin im Moment fehlt. Ich werde es durchsetzen, daß du mitkommen darfst. Da ist nur eine kleine Sache, um die ich dich im Namen der Alifwin bitten möchte. Dieses Gestrüpp an deinem Kinn soll ein Bart werden?«
Lonnìl nickte, während ihm die Schamesröte ins Gesicht schoß. Ein kurzer Bart unterschied einen Mann von einem Jungen, und als Lonnìl  Oban erschlug, wußte er, daß seine Kindheit endgültig vorüber war. »Hältst du mich für zu jung?«
»Die Alifwin haben eine große Abneigung gegen Bärte. Sie sind seit Jahrtausenden mit den Zwergen verfeindet, und vor dem Eintreffen der Menschen waren diese die einzigen Bartträger der Umgebung.«
Lonnìl hatte verstanden. Er würde nie wieder einen Bart tragen.

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