Achtes Kapitel

For nought is left worth looking at since my delightful land is gone.
Christina Rosetti

Thoria gab es nicht mehr. Vor ihnen erstreckte sich ein düsteres Ödland. Wenige kahle Büsche und abgestorbene Bäume reckten ihre Arme durch die dichten Nebelschwaden. Obwohl es bereits Mittag sein mußte, gelang es keinem Sonnenstrahl, das Land über den Dämmerzustand hinaus zu erhellen. Aber am Unheimlichsten war die vollkommene Stille. Kein Vogel, kein Tier, kein Windhauch gab einen Laut von sich. Thoria war tot.
»Irgendwie sehe ich keinen Unterschied zu früher«, sagte Felder. »Thoria war immer schon öde«. Es sollte wohl munter klingen, aber er konnte nicht verbergen, daß seine Stimme zitterte, und seine Hände hatten sich zu so verkrampften Fäusten geballt, daß die Knöchel weiß wurden. Er lachte schrill und hysterisch.
Lonnìl wußte nicht, was er ihm hätte sagen können, und so legte er ihm nur seine Hand auf die Schulter. Aber Felder schüttelte sie ab und ging in die Knie. Es war nicht ganz zu erkennen, was er am Boden tat, aber es sah so aus, als risse er tote Grashalme aus. Er sagte nichts, und er lachte auch nicht mehr.
»Die Dunklen haben nichts übrig gelassen«, sagte Schwinge traurig. »Es sieht so aus, als hätten sie Thoria gegen ein Stück ihrer Welt eingetauscht.«
»Ihre eigene Welt ist das Nichts«, sagte Morren mit seiner ruhigen Stimme, die keinerlei Gefühlsregung verriet. »Thoria ist immer noch mehr als Nichts. Ich denke, es ist eine Art Zwischenwelt geworden, eine Verbindung zwischen unserer Welt und dem Dunklen Reich.«
»Wenn man nicht weiß, was es ist, könnte man es für ein Moor halten«, meinte Keil. »Und bestimmt wird eines Tages hier wieder neues Leben wachsen können. Mach dir keine Vorwürfe, Felder. Es war nicht deine Schuld.«
»Ich weiß, daß es nicht meine Schuld war!« fauchte Felder. »Aber für was haltet ihr mich? Glaubt ihr, nur weil ich ein fröhlicher Mensch bin, kann ich kein Leid empfinden? Mir hat nie viel an Thoria gelegen, und ich habe es nicht besonders gemocht, aber es war meine Heimat! Wenn ihr in euren Wald zurückkämet, und er wäre niedergebrannt, würdet ihr dann ein Jubelfest veranstalten wollen? Der König, der gestorben ist, war immerhin mein Vater, und ich hatte hier Freunde, und …« Er brach ab und ließ sich ganz zu Boden sacken.
»Es erscheint alles so sinnlos«, murmelte Lonnìl bedrückt. »Ein fruchtbares Land, von einem Volk in Jahrhunderten besiedelt, und nun … nichts mehr, als hätte es hier nie etwas gegeben. Aber wo sind die Thorianer? Die Dunklen sagten doch, sie hätten die Leute zurückgeschickt!«
»Sie haben mich betrogen«, sagte Felder bitter. »Von Anfang bis Ende.« Er vergrub das Gesicht in den Händen und machte keine Anstalten, wieder aufzustehen.
»Es hilft alles nicht«, sagte Morren. »Wir müssen hindurch. Du kannst doch kaum hierbleiben wollen, Felder? Möchtest du vielleicht vorher noch etwas trinken?«
Felder schüttelte den Kopf. »Nein. Dieser Anblick ist kein Grund, um sich ein bißchen zu betrinken. Er ist vielmehr ein Grund, um sich vollkommen zu betrinken, und das werde ich ganz sicher nicht tun, solange ich mich noch in Reichweite der Dunklen befinde, abgesehen davon, daß meine Vorräte nicht ausreichen würden. Wenn wir aus diesem Moor heraus sind, werde ich eine Pause bei einem Bauern einlegen und mich eindecken. Solange muß ich es wohl noch aushalten.«
»Ich wußte nicht, daß du deine Besäufnisse immer so genau planst«, sagte Morren. Sein spöttischer Tonfall klang herzlos, war aber vielleicht das Beste, um Felder wieder aufzurichten.
»In Notsituationen sollte man immer überlegt handeln. Und ich denke, dies ist eine ausreichende Notsituation. Bis es soweit ist, werde ich versuchen, Haltung und Fassung zu bewahren. Und ich trommle mein Volk zusammen, damit wir gemeinsam Thoria aus den … Händen will ich es nicht direkt nennen … der Dunklen befreien.«
»Ich wußte nicht, daß du das vorhattest«, sagte Lonnìl erstaunt. »Ich dachte, du hättest Thoria aufgegeben.«
»Du konntest es auch nicht wissen. Ich habe es gerade erst beschlossen. Frag nicht, wieso. Vermutlich irgendein letztes Pflichtgefühl meinen Leuten gegenüber. Ich habe niemals Herrscher werden wollen, aber ich tue, was ich muß.«
»Also bist du jetzt soweit?« fragte Schwinge. »Wir können losgehen?«
Felder, der wohl doch nicht so zuversichtlich war, wie er sich gab, schluckte. Dann nickte er. »Ich denke schon. Es ist in Ordnung, solange ich nicht daran denke, daß es Thoria war. Es ist einfach nur ein Moor. Und vor Mooren habe ich mich noch nie gegraust.«
Doch es war unmöglich, in diesen ‘Mooren’ seine Zuversicht zu behalten. Der Nebel verschluckte sie wie ein kalter Mund und legte sich um sie, wie ein klammer Mantel. Es war, als müßten sie gegen einen Widerstand anlaufen. Thoria ließ sie nur ungern passieren.
Auch ihre Gespräche verebbten nach einiger Zeit. Der Nebel erstickte das, was sie sagten, und Lonnìl konnte nie sicher sein, ob er nun Keils Antwort nicht gehört oder dieser seine Frage gar nicht erst verstanden hatte. Um Felder war es sowieso still geworden, als sie in den Nebel traten. Zwar versuchte er, es zu überspielen, aber es gelang ihm nicht besonders gut, seine Verzweiflung zu verbergen. Lonnìl konnte ihn verstehen, Er hatte auch nicht erwartet, daß das Land so vollständig ausgelöscht war. Vielleicht hatte Felder nur aus diesem Grund immer den Anschein erweckt, als mache ihm der Verlust gar nichts aus. Erst angesichts der Ödnis konnte er begreifen, was passiert war. Felder war jemand, der sich wenig um Konsequenzen scherte. Wenn ein Leben vorbei war, dann war es vorbei. Und wenn sein Land verloren ging, dann ging es eben verloren. Bis er es dann am eigenen Leib erleben durfte.
Sie hielten einander bei den Händen, um zusammenzubleiben. Lonnìl hätte gerne Schwinge geführt, um sie vor möglichen Gefahren zu beschützen, aber er war am äußeren Rand der Kette gelandet, und die einzige Person, die er festhielt, war Felder. Dessen Hand hatte sich so fest um seine gekrallt, als wolle er ihm sämtliche Knochen brechen. Auf der anderen Seite wurde Felder von Morren gehalten, und Lonnìl hoffte, daß der einen beruhigenden Einfluß auf den Prinzen ausüben würde. In Anbetracht der Lage hielt er sich tatsächlich ausgesprochen gut.
Der Nebel war inzwischen so dicht, daß Lonnìl nicht einmal mehr seine eigenen Hände sehen konnte, und ihm grauste vor dem, was sich hinter den undurchdringlichen Schleiern verbergen mochte. Vermutlich war es sogar besser, daß sie es nicht sehen konnten. Aber am schlimmsten war die Stille. Nach und nach löschte sie alle Geräusche aus. Langsam befiel Lonnìl das Gefühl, vollkommen allein und verlassen zu sein. Die anderen waren verschwunden. Der Nebel hatte sie verschluckt, so wie er alles Leben verschluckte. Lonnìl hörte nicht einmal mehr die Geräusche, die er selbst machen mußte - seinen Atem, das leise Rascheln seiner Kleidung, seine Schritte auf dem unebenen Boden. Der letzte Strohhalm, an dem er sich festhalten konnte, um nicht völlig den Kontakt zu verlieren, war Felders Hand, die seine immer noch umklammert hielt. Aber auch sie war kalt, wie alles ringsumher, und Lonnìl hatte fast vergessen, daß sie zu einem lebenden Menschen gehörte. Immer wieder mußte er sich ins Gedächtnis rufen, daß seine Freunde noch da waren. Eine solche Einsamkeit überkam ihn, daß er meinte, sich nicht mehr rühren zu können.
Lonnìl rief nach Felder und den anderen. Aber obwohl er die Worte auf seiner Zunge spürte, konnte nicht einmal er selbst sie hören. In verzweifelter Panik griff er fester nach der Hand, um Felder zu sich hinüberzuziehen.
Aber er war nicht mehr Felders Hand. Es waren Knochen.
Lonnìl schrie, ohne daß ein Laut über seine Lippen kam, und riß sich aus dem kalten Griff los. Im nächsten Moment war er wirklich allein. Um ihn herum war nichts als Nebel.

Keil hörte Lonnìl schreien. Es klang, als sei der Mensch auf eine Gefahr gestoßen, aber danach war nichts mehr von ihm zu hören.
»Lonnìl? Was ist los?« rief Keil, doch er bekam keine Antwort. »Wo bist du, Lonnìl?«
Morren blieb stehen. Der Zauberer ging in der Mitte der Kette, damit sein Licht für alle zu sehen war. Aber er konnte nicht weit durch den Nebel leuchten. Es sah so aus, als hielte er eine Kugel aus Licht auf seiner Hand, von der aber nichts an die Außenwelt drang. Keil fragte sich, ob das Licht vielleicht nur für Morren und ihn, der an seiner Seite ging, sichtbar war. Er hielt Schwinges Hand fest, damit auch sie stehenblieb.
»Ich glaube, wir haben Lonnìl verloren«, sagte Morren. »Was ist mit ihm passiert, Felder?«
»Ich weiß es nicht«, erklang die Stimme des Menschen undeutlich durch den Nebel. »Er war immer an meiner Seite, und plötzlich schrie er und riß sich los. Ich muß gestehen, ich habe nicht sehr darauf geachtet. Ich war mit meinen Gedanken woanders.«
»Wir müssen aufeinander aufpassen!« fuhr Morren ihn an. »Jetzt müssen wir zusehen, wie wir ihn wiederfinden, und das ist im Nebel so gut wie unmöglich.«
»Kannst du denn nicht in deiner Kugel finden? Du siehst doch sonst alles!« schrie Felder. »Wozu bist du sonst ein Zauberer? Und warum läßt du nicht den Nebel einfach verschwinden?«
»Ich habe es bereits versucht. Aber ich kann nicht.« Die Stimme des Zauberers klang gereizt. Nun war er schon zum dritten Mal an seine Grenzen gestoßen, und das mußte schlimmer an ihm nagen als das tote Land. »Und selbst, wenn ich ihn in meiner Kugel sähe, würde uns der Anblick von Lonnìl, der durch der Nebel tappt, nicht weiterhelfen. Wir wüßten immer noch nicht, wo er ist.«
»Wie kannst du das wissen, wenn du es noch nicht einmal probiert hast?« rief Felder mit schriller Stimme. »Lonnìl kann doch nicht einfach verschwinden und mich hier zurücklassen! Nimm deine Kugel, Morren!«
»Also gut«, sagte Morren. »Ich will es versuchen. Aber das bedeutet, daß ich dich loslassen muß, Felder.«
»Das ist egal! Ich kann auf mich selbst aufpassen. Aber finde Lonnìl.«
Morren seufzte und griff nach seiner Kugel, während seine andere Hand weiterhin Licht verbreitete. Keil, der seinen Arm nicht loszulassen wagte, sah beinahe fasziniert zu, wie die Kristall- und die Lichtkugel miteinander zu verschmolzen. Nun schien das Licht direkt aus der Kugel zu kommen.
»Ich kann ihn nicht finden«, sagte Morren nach einiger Zeit. »Meine Kugel ist voller Nebel. Aber ich habe es zumindest versucht, Felder … Felder?«
»Sag nicht, daß wir ihn auch noch verloren haben!« rief Schwinge ärgerlich und zugleich erschrocken. »Und wie sollen wir jemals hier herausfinden? Dieser Nebel ist nicht natürlich!«
»Felder ist verschwunden«, bestätigte Morren. »Und wenn wir uns loslassen, verlieren wir uns auch noch. Es sind die Dunklen, vermute ich. Sie wollen uns trennen. Und ich weiß nicht, was wir dagegen tun können.«
Aber Keil wußte, daß es noch eine Möglichkeit gab. Er mußte es versuchen.
»Ich werde Lonnìl rufen, und du mußt mir helfen, Schwinge. Ich kann meine Flöte nicht benutzen, ohne euch loszulassen, und dann wären wir alle verloren. Aber wir können es mit Singen schaffen, zusammen. Ich weiß, daß du sonst niemals vor anderen singst. Wirst du es tun?«
»Ich soll für einen Menschen singen? Das kannst du nicht von mir verlangen!« rief Schwinge aufgebracht.
»Doch, das kann ich!« sagte Keil ärgerlich. »Es wird langsam Zeit, daß du aufhörst, dich derartig aufzuführen! Lonnìl ist unser Freund und ein angenehmerer Reisegenosse als du! Er hat dir schon mehr als einmal geholfen, und es wird Zeit, daß du einmal etwas für ihn tust. Du mußt nicht weiter tun, als seinen Namen auszusprechen.«
»Ich kenne seinen Namen nicht. Ich bin eine Jägerin, kein Barde.«
»Du hast die Magie, genau wie ich! Das ist es, was uns von den Menschen unterscheidet! Willst du nun tun, als hättest du auch keine? Wenn ich dir seinen Namen sage - wirst du es tun?«
»Und wenn ich es nicht tue?« fragte Schwinge. Keil hätte nicht erwartet, daß sie derart halsstarrig sein konnte. Sie ging zu weit in ihrem Haß und ihrer Rachsucht.
»Dann werde ich es allein versuchen«, sagte er. »Und ich werde dich loslassen, damit dir das gleiche passiert wie Lonnìl und Felder. Aber ich werde dir nicht helfen, jemals wieder aus Thoria herauszufinden.«
»Du läßt mir keine Wahl!« flüsterte Schwinge wütend. »Sein Name?«
»Du kennst seinen Namen«, sagte Keil. »Er heißt Clòn Lonnìl Dhub.«
Sie sangen gemeinsam Lonnìls Namen, damit er zu ihnen zurückfinden konnte. Schwinge benutzte dieses Lied selbst manchmal, um Wild anzulocken. Sie durfte also nicht so tun, als ob sie es nicht kannte. Nun konnten sie nur noch hoffen, daß Lonnìl es durch den Nebel hindurch hören konnte. Darüber, wie sie Felder ohne Namen aufspüren sollten, versuchte Keil sich lieber keine Gedanken zu machen. Erst einmal mußten sie Lonnìl wiederfinden. Aber wenn er seinen Namen hörte, mußte er zu ihnen kommen. Und so sangen sie immer: Clòn Lonnìl Dhub, komm zu uns! Wir sind hier, und wir warten auf dich.
Lonnìl hörte sie. Zunächst leise, dann immer lauter drang sein Rufen durch den Nebel, mit dem eine Veränderung vorging: Je länger sie sangen und je näher ihnen Lonnìl kam, desto klarer wurde die Sicht. Zwar hing noch immer eine naßkalte Wolke über Thoria, aber nun war sie nicht mehr undurchdringlich. Die Umrisse der toten Bäume waren selbst in mehr als einem Dutzend Schritt Entfernung wieder zu erkennen und ebenso die dunkle Gestalt Lonnìls, der langsam auf sie zu kam. Es schien fast, als würde der Gesang der Alifwin den Nebel besänftigen oder ihn zurückweichen lassen.
»Ihr habt es geschafft!« rief Morren, als Lonnìl sicher wieder bei ihnen angekommen war. »Und jetzt dürfte es auch nicht mehr so schwer sein, unseren Freund Felder wiederzufinden.«
Keil wagte nicht, das Singen abzubrechen, aus Angst, der Nebel könne sich wieder verdichten. Aber Schwinge verstummte, kaum daß Lonnìls Umrisse zu erkennen waren. Ihre Hand war kalt vor Wut, und Keil befürchtete, daß es lange dauern würde, bis sie ihm verzieh.
Eigentlich war es ja auch merkwürdig, daß ein unnatürlicher Nebel ausgerechnet auf den Namen eines Menschen reagieren sollte. Vielleicht war es auch nur ein Zufall, oder der Gesang selbst - vielleicht hätte jedes andere Lied die gleich verblüffende Wirkung gezeigt. Trotzdem ließ Keil es lieber nicht darauf ankommen.
»Ich bin so froh, euch wiedergefunden zu haben!« sagte Lonnìl. »Es war furchtbar! Ich habe geglaubt, ich wäre ganz alleine, und Felder … wo ist Felder?«
»Verschwunden«, sagte Morren kurz. »Aber er wird wieder auftauchen.«
»Jedenfalls bin ich blind durch den Nebel geirrt«, fuhr Lonnìl fort, »und ich konnte nicht einmal meinen eigenen Atem hören, aber dann … es ist merkwürdig. Plötzlich war da euer seltsamer Gesang, und ich wußte genau, wohin ich meine Füße setzen mußte, um zu euch zurückzufinden. Es ist Magie, nicht wahr? Wie habt ihr das gemacht?«
»Wir haben dich bei deinem Namen gerufen«, erklärte Schwinge geringschätzig. »Du konntest nicht anders, als zu kommen.«
»Mein Name? Aber wie … Wie habt ihr mich genannt?«
»Du bist Clòn Lonnìl Dhub«, sagte Morren. »Und du tust gut daran es, es niemals zu vergessen. Aber wenn du jemand anderem diesen Namen sagst, kann er damit Macht über dich ausüben, wenn er weiß, wie. Behalte ihn für dich.«
»Aber ihr wißt meinen Namen. Und ihr könnt damit umgehen. Bedeutet das, daß ich jetzt in eurer Gewalt bin? Habt ihr Macht über mich?«
Keil hörte auf zu singen. »Wir könnten es«, sagte er. »Aber ich verspreche dir, daß wir sie niemals gegen dich einsetzen werden. Ich möchte keine Macht haben über meine Freunde.«
Trotzdem wich Lonnìl zurück. Ihm war anzusehen, daß er Angst bekommen hatte vor der Macht der Alifwin, und Keil fürchtete, daß Schwinge auf die Idee kommen könnte, diese Angst auszunutzen, wenn sie nicht tatsächlich Gebrauch von Lonnìls Namen machen würde. Wenn sie wollte, konnte sie den Menschen jetzt dazu bringen, die Gefährten zu verlassen und ihr nicht weiter zu folgen. Keil mußte sie im Auge behalten. Was er früher niemals für möglich gehalten hätte, war passiert. Er war bereit, für einen Menschen Partei gegen die Alifwin zu ergreifen. Und doch fühlte er sich nicht als Verräter.

Sie stolperten mehr über Felder, als daß sie ihn fanden. Er kauerte am Boden, ein kleines, verlorenes Häuflein Mensch, und im ersten Moment glaubte Lonnìl, so etwas wie das Wimmern eines kleinen Kindes gehört zu haben. Aber als der Thorianer dann aufstand und Lonnìl freundschaftlich gegen die Schulter boxte, wirkte er ganz ruhig und gefaßt.
»Ich dachte, ich könnte dich suchen gehen«, erklärte er. »Aber der Nebel war dichter, als ich gedacht hatte, und da habe ich etwas die Orientierung verloren. Darum habe ich mich einfach mal darauf verlassen, daß ihr mich schon irgendwann findet würdet. Ich bin wirklich froh, wenn wir aus diesem Moor wieder raus sind.«
»Es ist kein Moor, auch wenn du versuchst, dir das einzureden«, sagte Morren. »Es ist das Land, das einmal deine Heimat war, und du solltest aufhören, dich selber zu belügen.«
»Und was bringt es, wenn ich sage, daß es einmal Thoria war? Wem sollte ich erklären, daß dies alles meine Schuld wäre? Mein Volk ist verschwunden. Wenn ich auf Überlebende träfe, dann würde ich dafür sorgen, daß Thoria befreit wird, auch wenn ich allein in die Unterwelt hinabsteigen müßte. Aber so, wie es jetzt ist, fällt mir der Aufenthalt hier bedeutend leichter, wenn ich sage, daß es nicht Thoria ist.
Plötzlich mußte Lonnìl an den Tag denken, an dem er Felder kennengelernt hatte: Wie er sich Stück für Stück aus seiner Verkleidung geschält und zu guter Letzt die Augenklappe abgenommen hatte, um das zu zeigen, was er in Wirklichkeit war. Jetzt erst begriff Lonnìl, daß Felder die ganze Zeit noch eine Maske getragen hatte, die er niemals abnahm. Und selbst wenn er es täte, käme darunter vermutlich nur wieder eine weitere Maske zum Vorschein. Aber hier, in den Mooren von Thoria, hatten all diese Schichten Risse bekommen, und es schimmerte das hindurch, was vielleicht der wahre Felder war: Ein hilfloser, einsamer kleiner Junge.
»Es ist nicht länger nötig, dich zu verstellen, Felder«, sagte Lonnìl leise. »Wir wissen jetzt alle, wie du in Wahrheit aussiehst. Du kannst uns ruhig dein Gesicht zeigen.«
Verächtlich begann Felder zu lachen. »Wer bist du, daß du glaubst, die Welt dreht sich nur um dich? Glaubst du vielleicht, ich würde mich euretwegen verstellen? Nein, Morren hat das schon ganz richtig erkannt. Ich mache das alles nur für mich. Wenn es um euch ginge - ich weiß, daß es zwecklos wäre zu glauben, daß die Elfen nicht geradewegs durch mich hindurchschauen könnten. Aber ich kann es nicht, und ich will es überhaupt nicht. Ich könnte anfangen, mich zu entblättern, eine Hülle nach der anderen fallenlassen, und darunter wäre gar nichts mehr. Seit ich beschlossen habe, Felder zu werden, bestehe ich nur noch aus Hüllen. Und ich möchte nicht wissen, wieviel von mir noch übrig ist, seit wir bei den Dunklen waren. Deswegen ist es auch hier besonders schlimm, und es fällt mir ziemlich schwer, meine Täuschung aufrechtzuerhalten, nicht nur, weil dies meine Heimat war, sondern auch, weil dies jetzt das Gebiet der Dunklen ist und ich verdammt aufpassen muß, alle meine Sinne beisammen zu halten. Das bedeutet, daß ich es nicht wagen kann, auch nur einen Schluck zu trinken. Und das wiederum bedeutet, daß ich früher oder später anfange zu denken. Hast du das verstanden, Lonnìl? Laßt mich einfach sein, was ich sein will. Ich habe Thoria vor Jahren aufgegeben, weil ich hier immer nur als Prinz gesehen wurde. Und ich habe nie ein Prinz sein wollen. Die ganze Zeit höre ich dich reden über unfähige Herrscher und daß man sie alle töten sollte, und dabei weiß ich genau, daß ich den unfähigsten Herrscher von allen abgegeben hätte. Und es gab für mich keine Möglichkeit, dem zu entkommen, außer meinen eigenen Tod. Dann stellte sich heraus, daß es noch eine andere Möglichkeit gab, und daß ich sie ohne es zu wissen genutzt hatte. Kannst du dir vorstellen, wie froh ich war, Thoria loszusein? Und jetzt stehe ich hier und sehe, auf was ich mich in Wirklichkeit eingelassen habe. Laßt uns schnell weitergehen. Es denkt bereits in mir, und ich möchte hier raus sein, bevor es schlimmer wird.«
Sie ließen Felder reden, während sie sich langsam durch den Nebel, der immer noch dicht genug war, vorwärtsarbeiteten. Das, was er jetzt erzählte, unterschied sich stark von seinem üblichen Gerede. Langsam baute sich vor Lonnìl das Bild eines kleinen Jungen in einer großen Burg auf. Seine Mutter war schon lange tot, und sein Vater »kümmerte sich einen Dreck« um ihn, wie Felder es ausdrückte. Aber da waren Bedienstete, die für ihn sorgten, und der Junge war schlau und merkte schnell, daß sie alles taten, was er wollte. Er genoß diese Macht eine Zeitlang, aber dann wurde sie ihm langweilig, und er merkte, daß er im Grunde seines Herzens einsam war.
»Das ist nicht wahr«, sagte Felder. »Ich bin niemals einsam gewesen. Ich hatte Unmengen an Freunden, die besten, die man sich kaufen konnte, und ich hatte eine Menge Spaß mit ihnen. Ich habe im Leben immer nur ein einziges wirkliches Problem gehabt.«
»Daß du ein Prinz warst?« fragte Lonnìl. »Daß man Dinge von dir erwartete, von denen du wußtest, daß du sie nicht konntest?«
»Nein«, antwortete Felder. »Das war das weitaus kleinere Übel, oder es resultierte aus dem ersten. Mein Problem ist, daß ich, wann immer ich lange an einer Stelle bin und mir die Abwechslung und Gefahr fehlt - oder ich vollkommen nüchtern bin, so wie jetzt - anfange, mir Gedanken zu machen über die wirklich ernsten Dinge. Du glaubst vielleicht, du bist unglücklich, weil du verliebt bist, Lonnìl, aber ob du sie nun bekommst oder nicht ist gleichgültig in Anbetracht einer Tatsache: Egal, was du machst, egal, wie du lebst, eines Tages stirbst du. Und dann ist es egal, wie lang dein Leben gedauert hat. Dann bist du einfach nur tot. Die Zeit ist das größte Problem, das man haben kann, glaub mir. Verglichen mit ihr gibt es nichts, was stärkere Macht hätte. Seit ich klein bin, habe ich immer gegen die Zeit angekämpft. Ich muß sich überlisten, ich muß schneller sein als sie, damit ich, wenn sie mich einmal einholt, fertig bin und sagen kann: Ich hatte mein Leben. Ich habe es geschafft, in die Jahre, die ich bis jetzt hatte, mehr hineinzuquetschen, als mancher nicht in hundert Jahren schafft. Ihr Elfen seid weit über hundert, nehme ich an?«
»Ich bin ungefähr hundertundachtzig Jahre alt«, sagte Keil. »Und ich bin noch ziemlich jung, nach unserer Vorstellung.«
»Siehst du? Mein Vater, der jetzt gestorben ist, war achtundfünfzig. Und für uns ist das ziemlich alt. Wollt ihr mal wissen, wie alt ich bin? Fünfundzwanzig. Ich wette, in dem Alter seid ihr noch Wickelkinder. Da seht ihr, was ich meine. ich habe das Beste daraus gemacht. Aber es gibt Momente wie jetzt, da kommt die Zeit und macht mir vor, sie sei noch lange nicht überwunden. Und das ist mein Problem. Genügt euch das? Habe ich eurer Ansicht nach genug von meiner Selbsttäuschung aufgegeben? Gefällt es euch besser, mich depressiv am Boden zu sehen? Oder gefiel ich euch doch besser, als ich meine muntere Maske aufhatte und glücklich war?«
»Probleme verschwinden nicht einfach davon, daß man sie ignoriert«, sagte Keil ernst. Felders Bericht schien ihn bedrückt zu haben, vermutlich, weil sich für ihn als langlebigen Elfen dieses Problem nie gestellt hatte. Lonnìl hatte sich allerdings auch nie große Gedanken darüber gemacht.
»Sie verschwinden vielleicht nicht wirklich. Aber zumindest machen sie einem dann Ersteinmahl keine weiteren Probleme mehr. Und wenn ihr gestattet … Darf ich bitte meine Maske wieder aufsetzen?«
Lonnìl hatte immer das Gefühl gehabt, daß ihm Felder in seinem Wesen mindestens so fremd war wie Schwinge oder Morren, obwohl er sich eigentlich gut in andere Menschen einfühlen konnte. Aber langsam begann er, ihn zu verstehen.
»Du kennst dich selbst besser, als ich dachte«, sagte Morren. Dann fügte er für Keil und Schwinge etwas in der Elfensprache hinzu, was Lonnìl nicht verstehen konnte. Er nickte dabei.

Thoria würde ihr Grab sein. Während es schon tagsüber immer dämmrig war, verschwand bei Nacht jeder noch sie kleine Funken Lichts, und weder der Mond noch die Sterne durchdrangen den Nebel, der bei Nacht wieder stärker und zäher wurde. Ohne Morrens Gabe, in seiner Hand Licht zu machen, hätten die Elfen wahrscheinlich nicht einmal den ersten Abend überstanden. Die Gefährten schliefen nur wenig, denn im Schlaf gelang es der Düsternis wieder, Einzug in ihre Gedanken zu nehmen und ihre Träume zu vergiften. Auch mit ihren Vorräten mußten sie sparsam umgehen, denn es gab in Thoria nichts, was sie hätten essen können. Aber irgendwie verspürte ohnehin keiner von ihnen großen Hunger oder Durst.
Felders Stimmung sank mehr und mehr. Im Laufe des zweiten Tages stellte er das Reden gänzlich ein und ging dazu über, dumpf vor sich hinzubrüten. Er war auch nicht mehr ansprechbar. Die Gedanken, die ihn quälten, wurden immer erdrückender, und er hatte keine Ahnung, was er gegen sie unternehmen sollte. Es gab nichts, das ihn hätte ablenken können. Jeder Winkel Thorias sah gleich aus, der einzige Unterschied lag darin, daß der Nebel mal stärker und mal schwächer war, und Felder hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Die Zeit stand still, und sie waren in einem einzigen, sich ständig wiederholenden Tag gefangen. Jeden Schritt hatte er schon einmal gemacht. Es würde ihnen niemals gelingen, den Mooren zu entkommen. Die Dunklen hatten ihn also doch noch erwischt.
Aber immerhin konnte er jetzt endlich Morren und den anderen beweisen, daß sie tatsächlich immer maßlos wegen seiner Trinkerei übertrieben hatten. Wäre er wirklich ein Säufer gewesen, dann hätte er nicht diese langen Tage in den Mooren durchstehen können, ohne etwas zu trinken. So aber hielt ihn das Wissen um die körperlosen Klauen der Dunklen zurück, und er tröstete sich mit dem Gedanken daran, daß er sich hinterher so sehr betrinken würde, wie er es in seinem Leben noch nie getan hatte. Ein zugegeben schwacher Trost, aber immerhin.
Am dritten Tag stand Felder kurz davor, sich selbst aufzugeben. Er war erschöpft, und zu jedem weiteren Schritt mußte er sich zwingen. Eigentlich wollte er sich nur noch hinsetzen und ausruhen, gar nicht wieder aufstehen … Aber er ging weiter, mit einer Verbissenheit, wie er sie noch nie gespürt hatte. Um ihn herum stand die Zeit still, aber er konnte spüren, wie sie für ihn weiterlief, ihn mit jedem Schritt älter machte. Von den anderen konnte er keine Hilfe erwarten. Dies war die Strafe. Er war immer schneller gewesen als die Zeit, und jetzt hatte sie ihn gefangen und sorgte dafür, daß er nun das an Alter wieder aufholte, was er sich an Leben ermogelt hatte. Er war ein Teil Thorias, der letzte lebende Teil, und bald würde er genauso aussehen wie der Rest des Landes. Er war verloren. Die Dunklen hatten sein Leben so gut wie in der Tasche.
Plötzlich griff eine Hand aus dem Nebel nach seinem Knöchel und ließ ihn straucheln. Felder schrie auf und schalt sich im nächsten Moment für seine Schreckhaftigkeit. Vermutlich war er nur an einer Wurzel hängengeblieben. Aber warum ließ sie dann seinen Fuß nicht mehr los, und warum krallten sich Finger in sein Gelenk? Felder schrie noch einmal, um die anderen zu warnen, schüttelte seinen Fuß und schlug danach, um wieder freizukommen. Es war wirklich eine Hand, und sie gehörte zu einem Arm. Aber es war keine kalte Klaue eines Ungeheuers. Sie gehörte zu einem Menschen.
»Gib mir Licht, Morren!« rief er. »Hier ist jemand!«
Wer immer es war, er lag am Boden und hielt sich nach wie vor an Felders Fuß fest. Felder ging in die Hocke, um das Gesicht sehen zu können und dem Menschen aufzuhelfen. Eine zweite Hand griff nach seiner, und er zog den anderen hoch.
Oberhalb des Bodens war der Nebel weniger stark, und dank Morrens Licht konnten sie nun genau sehen, mit wem sie es zu tun hatten. Es war eine alte Frau, und sie trug die Tracht einer Thorianerin. Felder hätte fast vor Freude aufgeschrien. Er hatte sein Volk gefunden. Jetzt konnte alles wieder gut werden.
Lonnìl hielt die Alte in seinem Arm und stützte sie. »Wie geht es dir, Großmutter?«
Die Frau starrte ihn an und versuchte etwas zu sagen, aber sie brachte nur ein paar krächzende, halberstickte Geräusche hervor.
Wahrscheinlich war sie seit Tagen ohne Nahrung und Wasser durch die Moore geirrt. Felders Hand zuckte instinktiv zu seiner Feldflasche, als ihm einfiel, daß sie das vermutlich umgebracht hätte. Und Keil hatte auch schon den Wassersack geöffnet.
Beim Anblick des Elfen stieß die Frau einen gurgelnden Schrei aus und wich zurück, und wenn Lonnìl sie jetzt nicht gehalten hätte, wäre sie sicher gestürzt. Felder wunderte sich nicht weiter. Vermutlich hatte die gute Frau noch nie einen Elfen gesehen. Er hatte auch noch nie davon gehört, daß in den letzten Jahren noch welche nach Thoria gedrungen wären. Und außerdem hatte die Alte hier in den Mooren sicher schon einiges durchgemacht. Als Felder Keil das Wasser aus der Hand nahm und es der Frau reichte, nahm sie es zögerlich an. Vermutlich überwog ihr Durst doch ihre Furcht vor den Elfen. Irgendwie war es Felders Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sie überlebte. Sie war nicht unbedingt das, was er sich als Volk vorgestellt hatte, und sie war auf ihre Art sogar noch schlechter als nichts, aber Pflicht war Pflicht. Wenn man ihm früher gesagt hätte, daß eines Tages von der ganzen thorianischen Bevölkerung nur noch er und eine Frau übrig sein würden, dann hätte er sich vielleicht sogar gefreut, aber er hätte sich ganz sicher eine andere Frau vorgestellt.
Kaum hatte die Alte gierig einige Schlucke getrunken, als sie wieder anfing zu schreien, diesmal schon kraftvoller, und versuchte, sich Lonnìls Griff zu entwinden. Jetzt war es wohl Zeit, daß Felder etwas sagte und sich zu erkennen gab.
»Sei still!« sagte er laut. Es war vielleicht nicht der beste Anfang, aber ein König mußte schließlich auf eine gewisse Weise seine Dominanz klarmachen. Außerdem mußte man hysterische Leute anschreien, damit sie wieder zu sich kamen. »Dir wird kein Unheil zugefügt werden, wenn du bereit bist, mit uns zusammenzuarbeiten. Du tätest gut daran, uns etwas Respekt zu zollen, denn ich bin Dhelin von Thoria, dein König und Herrscher!« Es war das allererste Mal, daß er sich unter diesem Namen vorstellte, und es klang nicht nur ungewohnt, sondern auch unüberzeugend, so als wäre er wirklich nur Felder, ein Hochstapler, der sich als König ausgab. Vermutlich deshalb schien die Alte ihm nicht zu glauben.
»Hilfe!« schrie sie mit krächzender Stimme. »Räuber! Mörder! Hilfe!«
»Aber ich bin Dhelin von Thoria!« sagte Felder, der es fast selbst nicht mehr glaubte. »Erkennst du nicht deinen eigenen König, Weib?«
Jetzt erst sah sie ihn an. Ihre Augen waren hellblau und unheimlich, und unter ihrem Blick fühlte sich Felder mindestens so unwohl, wie wenn der Zauberer ihn anstarrte. Auch sie blickte geradewegs in ihn hinein. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einer abscheulichen Fratze.
»Ich erkenne dich!« flüsterte sie heiser. »Der Prinz mit dem Schlangenauge! Schande deines Vaters und Schänder der Jungfrauen. Was hast du mit meinen Söhnen gemacht?« Plötzlich fing sie an zu kreischen, riß sich von Lonnìl los und stürzte auf Felder zu. Ehe er sich versah, hatten sich ihre krallenähnlichen Finger in seine Schultern gebohrt. Felder war überrumpelt und wußte nicht, was er tun sollte. Schließlich konnte er schlecht eine alte Frau zu Boden schlagen, auch wenn sie übergeschnappt war.
»Was hast du mit meinen Söhnen gemacht? Wo ist mein Sohn Dharkas, der mich schützte und pflegte auf meine alten Tage? Wo ist mein Sohn Borlik, der stärker war als alle anderen Bauern? Und wo ist mein Sohn Starnkin, dessen junge Frau ihr erstes Kind erwartete? Was hast du mit ihnen gemacht?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst!« sagte Felder und versuchte, aus ihrem Griff freizukommen. »Du redest irre, Weib!«
»Oh nein! Die alte Oana weiß, wovon sie redet! In den Wäldern war ich, um Kräuter und Pilze zu suchen, auf einer langen Wanderung. Als ich zurückkam, waren meine Söhne verschwunden, und mein Häuschen, und alles, was es hier jemals gegeben hat! Ich weiß, was du getan hast! Du falscher Prinz, du hast Thoria an die Elfen verkauft! Du hast dein Volk verraten! Du hast meine Söhne verraten!«
»Das habe ich nicht!« schrie Felder. Sie raubte ihm die Luft, weil sich jetzt seine Tunika in seinen Hals einschnitt. »Laß mich los, du alte Hexe! Morren, mach daß sie damit aufhört!«
»Gib mir meine Söhne zurück!« schrie die alte Oana, taub und blind vor Raserei. Keiner machte Ansätze, Felder irgendwie zu helfen, auch Morren nicht. Jetzt reichte es. Er hatte ihr die Gelegenheit gegeben, ungeschoren davonzukommen. Aber er konnte nicht zulassen, daß sie ihn erwürgte. Er hatte noch nie zuvor eine Frau geschlagen, und da legte er auch Wert drauf. Doch jetzt war er derartig in Wut geraten, daß er sich nicht nur aus dem Griff der Alten losriß, sondern sie regelrecht von sich weg schleuderte. Es ging ziemlich schnell. Sie fiel wie ein Bündel Lumpen auf die Erde, wo sie schluchzend liegenblieb. Immerhin lebte sie noch, und Felder wollte sich gerade entschuldigen, als Morren ihn schlug.
Morren hatte ihn schon öfters geohrfeigt wie ein unartiges Kind. Es hatte nie besonders weh getan. Aber dieser Schlag war anders. Er kam so schnell, daß Felder die Hand des Zauberers gar nicht kommen sah, und dann zerbarst das Licht in seinem Kopf. Er konnte nichts mehr sehen, nichts mehr denken, und er bekam nur noch halb mit, wie er zu Boden stürzte.
Er wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte, als er sich mühsam aufrappelte. Alles war hell, und er schloß geblendet die Augen, aber das half nicht. Das Licht kam von innen. Sein ganzer Kopf war damit angefüllt, so daß nichts anderes darin mehr Platz hatte. In seinen Ohren dröhnte es. Was war mit ihm geschehen? Wo war er? Dies waren nicht mehr die Moore von Thoria. Oder doch? Wenn er nur in der Lage gewesen wäre, einen klaren Gedanken zu fassen! Und wo kam all dieses Licht her? Langsam dämmerte Felder, was passiert war. Morren hatte ihn ins Gesicht geschlagen, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn er es nicht mit seiner Lichthand getan hätte. So aber hatte er Felder mit einer Handvoll konzentrierter Energie zu Boden geschlagen. Aber was sollte er jetzt tun? Wie sollte er dieses Licht wieder aus seinem Kopf hinausbekommen? Die nächste Frage, die Felder durch den Kopf ging, war die wohl schrecklichste, die er sich jemals gestellt hatte: Wieso ging er eigentlich davon aus, daß er überhaupt noch am Leben war? Er konnte genausogut tot sein.
Langsam begann sich in all dem Licht ein dunkler Umriß abzuzeichnen, ein schwarzer Schatten. Es dauerte einen Moment, bis sich Felders Augen daran gewöhnt hatten, gleichzeitig in hellstes Licht und schwärzestes Schwarz zu sehen, dann konnte er es deutlich erkennen. Er stand vor einem Thron. Um ihn herum war nichts als dieses Licht, und mittendrin stand ein Thron aus Dunkelheit. Sonst gab es nichts.
Fast nichts.
Möchtest du dich nicht setzen?
fragte eine Stimme in seinem Kopf. Es ist dein Thron. Du wolltest ihn zuletzt nicht haben, und jetzt steht er verwaist hier herum und wartet auf dich. Du hast es dir nicht vielleicht mittlerweile anders überlegt?
»Nein!« sagte Felder, oder zumindest dachte er, daß er es laut sagte. »Vergeßt es. Ihr bekommt mich nicht. Ich habe diesen Thron niemals haben wollen. Jetzt will ich ihn erst recht nicht mehr.«
Wir könnten dir ein gutes Angebot machen.

»Ihr denkt, daß ich euch auch nur noch einmal glaube? Ihr habt mich schon genug betrogen. Ihr habt gesagt, ihr hättet meinem Volk die Freiheit zurückgegeben! Ihr habt gelogen. Ihr habt alle Thorianer verschleppt bis auf eine alte Frau.«
Du irrst dich, Dhelin. Wir haben alle Thorianer in eure Welt zurück geschickt, wie wir versprochen hatten. Aber du wirst verstehen, daß wir sie nicht in diese Ödnis setzen konnten. Dort hätten sie sich nicht wohlgefühlt. Aber natürlich konnten wir auch nicht alle in einer anderen Gegend absetzen. Das hätte dort für Überbevölkerung gesorgt. Man muß immer auch die Belange der Anderen bedenken.

»Was habt ihr mit ihnen gemacht?«>
Wir haben sie über die Welt verteilt, so daß sie niemandem direkt zur Last fallen werden. Und wir versprechen dir, daß wir niemals wieder auch nur einen von ihnen in unser Reich holen werden. Sie sind auf alle Ewigkeit vor uns sicher. Bist du jetzt beruhigt, Dhelin?
In seinem Kopf lachte es.
»Nennt mich nicht Dhelin!« schrie Felder, der jetzt merkte, worauf die Dunklen aus waren. »Ich bin Felder!« Wenn er auf den anderen Namen gehört hätte, den Namen der Könige von Thoria, dann hätte er jetzt auf den Thron steigen müssen. Und dann hätte er den Dunklen gehört. Er wußte jetzt, daß er den Namen Dhelin nie wieder aussprechen durfte. Wenn er es noch einmal tat, war er verloren. »Ich bin Felder!« schrie er noch einmal.
Die Stimme verschwand. Der Thron verschwand. Es gab nur noch Licht

»Was hast du getan?« rief Keil erschrocken. Es war alles so schnell gegangen - die alte Frau, die zu Boden stürzte, Felder, der verwundert auf seine Hände starrte, Lonnìl, der das Schwert aus der Scheide riß und auf Felder lossprang, und Morren, der im selben Moment Felder mit einem Lichtblitz niederschlug. Jetzt lag Felder am Boden und rührte sich nicht.
»Ich hatte schon lange keinem von euch beiden mehr das Leben gerettet«, sagte Morren ruhig. »Wenn du ihn durchbohrt hättest, Lonnìl, hätte es dir hinterher leid getan.«
»Aber er hat die alte Frau geschlagen!«
»Das ist kein Grund, ihn dafür umzubringen!« fuhr ihn Morren ärgerlich an. »Warum könnt ihr Menschen nicht einmal vernünftig nachdenken, bevor ihr euch die Köpfe einschlagt?«
Lonnìl antwortete nicht, sondern kniete sich wieder zu der Thorianerin, um sich um sie zu kümmern. Sie lag zusammengekrümmt im toten Gras und schluchzte. Felder kauerte nur einen Schritt neben ihr. Er hatte die Augen zusammengekniffen und rappelte sich schon langsam auf, aber Keil hatte nicht den Eindruck, daß der Mensch wahrnahm, was um ihn herum geschah. Er reagierte nicht, als Keil ihn vorsichtig an der Schulter schüttelte, sondern bedeckte nur seine Augen mit einer Hand. Dabei bewegte er die Lippen, wie in einer stummen Konversation. Schwinge stand dabei und sah ungerührt zu, wie Felder tastend um sich griff, als wäre da gar kein Keil, der ihn am Arm hielt.
»Was hast du mit ihm getan, Morren?« fragte sie.
»Ich habe ihn lediglich zu Boden geschlagen«, sagte Morren. »Vielleicht hätte ich die andere Hand nehmen sollen. Aber es ist doch irgendwie faszinierend, wie sich Licht als Nahkampfwaffe einsetzen läßt, nicht wahr? Es hat annähernd den selben Erfolg erzielt, als wenn ich einen Blitz geschleudert hätte, nur daß die Streuung geringer ist. So ein gezielter Schlag kann natürlich viel präziser eingesetzt werden.«
»Aber du hättest Felder töten können!« rief Keil. »Und was wird jetzt mit ihm?«
Im gleichen Moment schrie Felder auf, und jetzt konnten sie auch seine Worte hören. »Nennt mich nicht Dhelin! Ich bin Felder!«
»Aber das ist doch kein Problem«, sagte Morren und lachte leise. »Ich habe ihm eine Handvoll Licht in den Schädel getrieben. Das setzt ihn vielleicht außer Gefecht, aber es tötet ihn nicht. Und jetzt«, er bückte sich und macht mit seiner freien Hand eine Greifbewegung, bei der nicht ganz klar war, ob er nur vor oder in Felders Gesicht griff, »muß ich es mir nur wiedernehmen.« Er zog die Hand zurück und hielt in ihr eine zweite Lichtkugel. Dann formte er aus beiden Händen eine Art Schale und ließ die Lichtkugeln zusammenfließen, was im Nebel einfach nur wunderschön aussah. »Man kann eine Menge Spaß mit Licht haben, auch wenn einige andere Zauberer, unter ihnen mein geschätzter Bruder, für derartige Spielereien wenig übrig haben.« Immer noch lachend, ließ er das Licht von einer Hand in die andere gleiten oder schnippte es wie einen Ball in die Luft, wo es regungslos hängenblieb, bis Morren es wieder aufnahm.
»Und was ist jetzt mit Felder?« fragte Schwinge, die wie ebenfalls wenig Vergnügen an der Vorstellung fand.
»Felder? Der ist wieder in Ordnung«, sagte Morren.
»Nein, das ist er nicht«, sagte Felder langsam. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren und wirkte so gräulich-weiß wie der Nebel selbst. »Ich weiß nicht, ob ihr mich als euer Spielzeug betrachtet, an dem ihr neue Kunststücke ausprobieren könnt, aber diesmal seid ihr einen Schritt zu weit gegangen. Ich habe dieser Oana nichts tun wollen. Ich wollte nur, daß sie aufhört, mich zu würgen. Vielleicht hatte ich nicht erwartet, daß sie so wenig wiegen würde. Es war bestimmt falsch von mir, sie so zu schubsen. Aber das ist noch lange kein Grund, mir meinen Kopf derart mit Licht vollzupumpen. Drei Tage bin ich jetzt durch dieses Moor geirrt, und ihr könnt mir glauben, es waren die schrecklichsten und längsten Tage meines Lebens. Die ganze Zeit mußte ich mir sagen ‘Was immer du tust, sieh zu, daß du einen klaren Kopf behältst’, weil ich wußte, daß sonst die Dunklen wieder versuchen würden, mich zu bekommen und vielleicht Erfolg haben würden. Und ich habe auch einen klaren Kopf behalten. Ich habe kaum geschlafen und nichts getrunken, um meine Gedanken beisammen zu halten, und ich hatte die klarsten Gedanken seit Jahren, und einer war unangenehmer als der andere, und ich habe alles durchgestanden - nur damit man mir im entscheidenden Moment eine Ladung Licht um die Ohren schlägt und all meine klaren Gedanken vollkommen außer Kraft setzt. Durfte dann feststellen, daß meine Befürchtungen richtig waren: Die Dunklen kommen tatsächlich, wenn man seine Gedanken nicht klar beisammenhält. Sie hätten mich gerade um ein aar bekommeHaar bekommen, zu eurer Information, und auch wenn ich jetzt gelernt habe, wie ich mit ihnen umgehen muß, hätte ich doch auf diese Erfahrung gerne verzichtet. Und jetzt entschuldigt mich.«
Er setzte sich auf den Boden, löste die Flasche von seinem Gürtel und begann zu trinken.
»Was wird das, wenn es fertig ist?« fragte Morren. »Wolltest du dir das nicht für hinterher aufsparen? Hast du uns nicht gerade einen Vortrag über klare Köpfe gehalten?«
»Zu Frage eins: Ich trinke. Zu Frage zwei: nein. Dieser Rest hier reicht gerade mal aus, mich in das angenehme Stadium am äußersten Rand der Nüchternheit zu versetzen. Und da gedenke ich die nächste Zeit zu bleiben. Denn, um auf Frage drei zurückzukommen: Wenn du mir richtig zugehört hättest, wüßtest du, daß ich jetzt nichts mehr von den Dunklen befürchten muß und wie sehr ich es hasse, klar zu denken. Ich bevorzuge es, wenn alles so ein ganz bißchen unscharf ist. Und, um der nächsten Frage vorzugreifen: Mir ist wirklich nicht mehr zu helfen.«

Schwinge wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Es war nicht nur die grauenvolle Atmosphäre dieser Unwelt, die ihr zu schaffen machte, sondern vor allem der Anblick dieser Menschenfrau. Wenn Felder bis jetzt davon gesprochen hatte, daß Menschen alt wurden, hatte sie sich immer etwas anderes darunter vorgestellt. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß sie dann derart … zerfielen. Dieses Gesicht würde sie nie wieder vergessen können - der zahnlose Mund und jede einzelne Falte hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Aber was Schwinge so sehr verwunderte, war, daß sie nicht nur Abscheu empfand angesichts dieser Kreatur, sondern auch Mitleid. Ihre Hand hatte das Messer schon halb gezogen. Wäre diese Frau ein Tier in ihrem Wald gewesen, so hätte sie es jetzt von seinem Dasein erlöst.
»Denke nicht einmal daran!« raunte ihr Keil zu. Entweder hatte er ihre Bewegung bemerkt, oder ihm waren die selben Gedanken gekommen. »Du kannst sie nicht einfach so töten. Sie wird von selbst sterben, wenn sie hierbleibt.«
»Und das wäre besser?« entgegnete Schwinge. Es war erstaunlich: Diese Frau war ein Mensch, aber Schwinge wollte nicht, daß sie litt. Der Tod der Alten hätte für alle eine Erleichterung bedeutet, aber Schwinge würde ihr nichts tun. Ihr ekelte bei dem Gedanken, dieses verfallende Stück Fleisch anzurühren. Dies war es also, was Felder so sehr fürchtete. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Es war so armselig. Wenn es das war, was die Zeit - und recht kurze Zeit nur - aus den Menschen machte, dann würden sie die Welt nicht lange beherrschen können.
Lonnìl kümmerte sich um die Alte am Boden und versuchte wohl, sie zum Aufstehen zu bewegen, aber vergeblich. »Großmutter Oana, du mußt mit uns kommen! Hier kannst du nicht bleiben!«
»Hier ist der einzige Ort, an dem ich bleiben kann! Thoria ist die einzige Heimat, die ich jemals hatte, und der einzige Ort, an dem ich sterben will. Ihr - verschwindet von hier! Verräter meiner Söhne! Laßt euch nie wieder hier blicken! Laßt mich allein!«
Schwinge wollte endlich weitergehen. Sie konnte nicht länger an dieser Ort bleiben, der alles Leben aus ihr sog, und Keil auch nicht. Es war ein Fehler gewesen, Thoria jemals zu betreten. Sie hätten es umgehen müssen, auch wenn es einen lange Umweg bedeutete.
»Laßt uns endlich aufbrechen!« sagte auch Felder. »Ich finde, wir haben schon bei weitem zu lange gerastet!«
»Aber sie will nicht mitkommen!« wandte Lonnìl ein.
»Das ist hervorragend. Ich will nämlich auch nicht, daß sie mitkommt. Sie soll sich nicht so anstellen. Ihren Söhnen geht es gut - haben mir die Dunklen zugesichert. Früher oder später werden sie schon hier auftauchen und die alte Vettel mitnehmen. Bis dahin kann sie von mir aus krepieren.«
Ohne weitere Reaktionen abzuwarten, raffte Felder seinen Beutel zusammen und marschierte los, in den Nebel hinein. Schwinge hätte nie gedacht, daß sie sich eines Tages einem Menschen anschließen würde, aber sie folgte ihm. Doch sah sie ihn nicht an, und sie sagte nichts. Als sie hinter sich Schritte vernahm, drehte sie sich um. Keil und Morren waren ihr ebenfalls gefolgt, und hinter ihnen konnte sie die breiten Konturen von Lonnìl ausmachen. Er war allein. Die alte Frau hatte er zurückgelassen.
»Wie schön, daß wir endlich einmal alle einer Meinung sind!« rief Felder fröhlich. »Ihr stimmt mir doch zu: Bloß weg hier!«
»Du hast deinen Plan, Thoria zu befreien, bemerkenswert schnell wieder aufgegeben«, meinte Morren, und es klang nicht im Geringsten überrascht. »Solltest du nicht bei der Frau bleiben und sich um sie kümmern, wie es als König deine Pflicht wäre?«
»Damit sie mich wieder würgt? Ich bin hier kein König. Thoria hätte mir nicht deutlicher zeigen können, daß es nicht an meiner Hilfe interessiert ist. Thoria will mich nicht, ich will Thoria nicht, fertig. Das ist es. Mit Thoria bin ich fertig.«
Mehr sagt er nicht dazu. Noch an diesem Nachmittag durchbrachen sie endgültig den Nebel. Sie hatten es geschafft. Die Moore von Thoria lagen hinter ihnen.

An diesem Nachmittag kam es zwischen Lonnìl und Felder zum Streit. Hinterher konnte Lonnìl nicht einmal genau sagen, warum er damit angefangen hatte, denn diesmal war es ganz allein seine Schuld, daß sie aneinandergerieten. Vielleicht lag es daran, daß er die alte Frau nicht vergessen konnte, die sie ihrem Schicksal überlassen hatten. Er mußte immerzu daran denken, daß Felder all dieses Leid verursacht hatte. Felder dagegen schien keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Nachdem sie einmal aus den Mooren heraus waren, verlor er kein Wort mehr darüber. Er war wieder ganz der Alte, redete munter und ausdauernd auf Morren ein und versuchte, Keil die Melodie eines Wanderliedes beizubringen. Offensichtlich war er glänzender Laune, und Lonnìl bezweifelte, daß dies nur ein weiterer Teil von Felders Selbstverleugnung war. Mit jedem Moment, den er Felder ertragen mußte, wuchs Lonnìls Wut. Und als Felder schließlich wieder nach seiner Flasche griff, um, wie er es nannte, »den Zustand stabil zu halten«, riß Lonnìl die Geduld.
»Du trinkst soviel, daß mir schon allein vom Zusehen übel wird!« schrie er Felder an, der vor Überraschung einen Schritt rückwärts machte. Aber es war schwer, den Burschen aus der Fassung zu bringen. Er trank erst in aller Ruhe weiter, bevor er antwortete.
»Du bist so edel, daß ich dich nüchtern nicht ertragen kann.« Ein einziger Satz, aber er genügte, um Lonnìl die Sprache zu verschlagen. Was sollte er auch darauf antworten? Felder fuhr fort: »Warum bin ich hier der einzige, dem immer wieder seine mangelnde Selbsterkenntnis vorgehalten wird? Immer bekomme ich einen auf den Deckel, dabei bin ich hier so ziemlich der einzige, der sich wirklich kennt. Ich kenne mich zu gut. Ich weiß, daß ich mich zugrunde richte, mein eigenes Grab schaufle, was auch immer. Aber euch gefällt es nicht, daß ich das so genau weiß. Ihr hättet es doch gerne, wenn ich mich belügen würde, damit ihr mich aufrütteln und retten könnt. Ihr sagt, ich bin ein Säufer, ich sage, ich bin keiner, aber wo ist der Unterschied? Ich trinke davon nicht mehr und nicht weniger. Zumindest nicht weniger. Ich schade mir vielleicht selbst, aber euch tue ich doch nur gut. Solange ihr mich vor Augen habt, seid ihr beschäftigt und müßt euch nicht an eure eigene Nase packen. Ich bin doch nur Bestandteil eurer eigenen Lebenslügen.«
»Was willst du damit sagen?« fragte Lonnìl mühsam beherrscht.
»Daß du endlich aufhören sollst, dich selbst zu belügen! Dein Edelmut trieft aus jeder Pore, du trägst ein Schild um den Hals, auf dem in drei Fuß großen Buchstaben ‘Held’ geschrieben steht, obwohl du nicht einmal lesen kannst, und du siehst auch nur das, was du wirklich sehen willst. Weil dir einmal ein Edelmann geschadet hat, haßt du alle, und egal, was ich tue, du wirst in mir immer nur einen weiteren Prinzen sehen, dem man am Besten sofort den Schädel einschlägt. Und doch versuchst du ständig, mir meine Masken abzunehmen, damit du nicht deine eigene abnehmen mußt - oder die, die du Schwinge aufgesetzt hast. In deinen Augen ist Schwinge doch das nobelste, holdeste Geschöpf, das jemals gelebt hat! Du bildest dir ein, daß du sie liebst!«
»Ich bilde es mir nicht ein! Ich weiß, daß ich sie liebe!«
»Gar nichts weißt du! Du glaubst. Du redest dir ein, daß sie die große wahre Liebe deines Lebens ist. Du willst sie gar nicht sehen, wie sie in Wirklichkeit ist. Du erfindest Ausreden dafür, daß sie nicht in der Lage ist, dich ebenfalls zu lieben. Du schiebst es darauf, daß sie eben eine Elfe ist. Aber in Wirklichkeit liebst sie dich deswegen nicht, weil sie nicht in der Lage ist, ein anderes Gefühl zu empfinden als Haß! Verlieb dich in Keil, wenn du unbedingt Elfen lieben willst. Es würde keinen großen Unterschied machen, daß er ein Junge ist, wenn es da bei den Elfen überhaupt Unterschiede gibt. Der Unterschied wäre, daß Keil ein fühlendes Wesen ist, und Schwinge nicht. Das weißt du selbst. Du bist nicht so dumm, daß du es nicht mittlerweile gemerkt hättest. Aber solange du es nicht wahrhaben willst, wirst du dich auf alle Zeiten weiter belügen!«
»Sei still!« schrie Lonnìl. Er wäre am liebsten in der Erde versunken, weil Schwinge sicher jedes Wort gehört hatte. Gab es denn keinen anderen Weg, diesen Burschen zum Schweigen zu bringen, als sich mit ihm zu prügeln? Aber wenn Lonnìl Felder jetzt schlug, bedeutete das, daß er ihm Recht gab. »Du bist doch betrunken!«
»Ist das alles, was du mir vorwerfen kannst? Trinker und Narren reden die Wahrheit. Im übrigen denke ich immer noch nüchterner als du. Ich habe vielleicht meine Gedanken in etwas Watte verpackt, aber ich bin nicht blind, im Gegensatz zu Leuten, die ihren ganzen Kopf in eine rosa Wolke stecken. Worauf wartest du noch? Schlag mich endlich. Geh mit dem Schwert auf mich los. Ich habe die Wahrheit gesagt, und du kannst sie nicht mehr verleugnen, dafür haben mich zu viele gehört. Tu mit mir was du willst, aber tu es schnell, denn morgen früh werde ich nicht mehr bei euch sein.«
Lonnìl holte aus und schlug Felder ins Gesicht, so fest er konnte. Felder mußte seine Hand gesehen haben, aber er wich ihr nicht aus, sondern sah ihn nur belustigt an, während er sich das Blut vom Mund wischte.
»Ich gewöhne mich allmählich daran. Irgendwie trefft ihr immer die selbe Stelle. Geht es dir jetzt besser? Freut dich der Gedanke, daß er große Kämpfer für die Gerechtigkeit Leute schlägt, nur weil sie die Wahrheit gesagt haben? Sonst machen das nur wir Tyrannen. Möchtest du noch einmal? Keine Angst - ich wehre mich schon nicht. Ich warte!«
Lonnìl wußte, daß Felder ihn mit Absicht reizte. Wenn er jetzt noch einmal zuschlug, hatte Felder endgültig gewonnen. Trotzdem tat er es. Er rammte dem Prinzen seine Faust in dem Magen, und wäre jetzt nicht endlich Morren dazwischen gegangen, hätte Lonnìl seinen Gegner vermutlich mit bloßen Händen erschlagen.
»Das ist genug!« sagte Morren mit schneidender Stimme, die Lonnìl durch Mark und Bein ging. Gleichzeitig berührte er eine Stelle in Lonnìls Nacken, so daß dieser am ganzen Körper erstarrte, wie ein Katzenjunges, das von seiner Mutter dort gepackt wird. Mehr mußte Morren nicht tun. Lonnìl erkannte plötzlich was er getan hatte. Felder hatte Recht gehabt mit seiner letzten Behauptung. Wenn er Leute schlug für das, was sie gesagt hatten, dann war er wirklich keinen Deut besser als die, gegen die er kämpfte. Er war vielleicht kein Mann der großen Worte. Aber wenn er nicht wußte, was er sagen sollte, war es besser, gar nichts zu tun. Selbst wenn er sich derart gemeine Anschuldigungen anhören mußte wie Felders Behauptungen. Anschuldigungen? Oder Wahrheit?

Plötzlich wurde Felder klar, wo sie waren, und er sog zischend die Luft durch die Zähne ein. Zunächst war er so froh gewesen, endlich den Mooren und auch den Dunklen entkommen war, daß er der Umgebung keine größere Beachtung geschenkt hatte. Die Hauptsache war, daß es keinen Nebel mehr gab, das Gras grün war und die Luft voller Geräusche. Eigentlich hatte Felder immer so etwas wie Erleichterung gespürt, wenn er Thoria verlassen durfte, aber diesmal war es natürlich vollkommen anders. Und außerdem war der Ort, von dem sie jetzt kamen, gar nicht mehr Thoria.
Aber als die erste Euphorie langsam wieder von ihm abfiel, begann er sich umzusehen. Er kannte diese Gegend. Für Lonnìl sah es vielleicht wie ein ganz gewöhnliches Land mit einigen Äckern und Wäldern und gelegentlichen Bauernhöfen aus, aber Felder war oft genug hier gewesen, um zu wissen, wo sie waren. Dies war der südöstliche Rand des Landes Gondria. Und das war unmöglich.
Drei Tage hatten sie gebraucht, um Thoria zu durchqueren. Das hieß - sie konnten es gar nicht durchquert haben. Eine Durchquerung Thorias, wo das Land am breitesten war, dauerte bestenfalls zehn Tage, und auch nur, wenn man sehr gut zu Fuß war oder ein Pferd hatte. Sie hatten vorgehabt, Thoria an seinem nördlichen Rand kurz zu schneiden. Das war innerhalb von drei Tagen zu schaffen, auch wenn sie vermutlich nur im Kreis herumgelaufen waren. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, daß sie nach diesen drei Tagen hier waren, in Gondria. Sie waren mehr als fünf Tagesreisen zu weit südwestlich, auf der völlig falschen Seite der Moore. Diese Strecke konnten sie unmöglich in drei Tagen zurückgelegt haben. Es sei den …
Felder begann zu schwitzen. Er war noch zu nüchtern, als daß er die Gedanken, die ihm jetzt kamen, hätte abstellen können. Nicht umsonst hatte er in den Mooren das Gefühl gehabt, mit der Zeit stimme etwas nicht. Mit der Zeit hatte tatsächlich etwas nicht gestimmt. Es war wie bei den Dunklen. Außerhalb der wirklichen Welt verstrich die Zeit schneller. Oder langsamer? Jedenfalls lief sie für jeden so schnell, wie die Dunklen es wollten. Wieviel Zeit war wohl in der richtigen Welt vergangen? Wochen? Monate? Das wohl kaum. Das Wetter noch genauso sommerlich wie vor vier Tagen. Vielleicht waren es aber Jahre?
»Morren!« schrie Felder. Eigentlich hatte er seine Überlegungen für sich behalten wollen, aber jetzt liefen sie auf ein ernsthaftes Problem hinaus. Und der Zauberer war der einzige, der ihm vielleicht dabei helfen konnte. Es kostete ihn einige Anstrengung und Nervenkraft, Morren auf sich aufmerksam zu machen, aber endlich gelang es ihn, seinen Freund in ein Gespräch zu verwickeln.
Morren hörte sich alles schweigend an, dann nickte er.
»Was deine Beobachtung angeht, so hast du vollkommen recht. Thoria liegt nicht ganz in der Welt, an die du gewöhnt bist, und die Zeit läuft auch in anderen Bahnen. Aber es war gut von dir, mich darauf anzusprechen. Du weißt doch, daß du in mir immer einen Ansprechpartner hast, wenn es um wichtige Dinge geht. Ich bin dir in sofern dankbar, als daß ich etwas die Orientierung verloren hatte und nicht die leiseste Ahnung, wo wir hier sind. Gondria also. Übel. Es wird mich davon abhalten, in Zukunft weitere Abkürzungen durch verwunschenes Gebiert zu nehmen. Aber ich kann dich auch beruhigen. Es gibt eine ganz einfache Erklärung für das, was du bemerkt hast, auch wenn du sie vielleicht etwas schwer zu begreifen findest. Es könnte dich verwirren.«
»Es könnte mich kaum mehr verwirren, als ich ohnehin schon bin. Versuch es.«
»Die Dunklen haben Thoria entführt, das ganze Land mitsamt dem Raum, den es einnahm. Zurück blieb nur ein Nichts im wahrsten Sinne des Wortes. Soweit ist es noch verständlich, vermute ich. Bist du überhaupt noch aufnahmefähig?«
»Willst du mich beleidigen?«
»Nichts läge mir ferner. Jetzt kommt der verzwickte Teil. Alle Länder, die Thoria umgaben, sind noch da, und sie haben nichts von ihren Grenzen verloren. Das heißt also, Thoria hat, obwohl es keine Fläche mehr hat, den selben Umfang wie vorher. Wenn du also Thoria, oder die Moore, wie du es zu nennen beliebst, umrunden willst, brauchst du Wochen. Aber du kannst hineingehen, und wenn du hinauskommst, bist du am anderen Ende. Es ist nicht so, daß gar kein Raum da wäre. Dieser Ort, der uns tagelang festgehalten hat, ist immer noch wirklicher als das Nichts, wie dir unschwer aufgefallen ist. Das liegt daran, daß Thoria von seinen Grenzen zusammengehalten wird. Hast du verstanden, was ich meine?«
»Ich sehe nicht, wo das Problem sein soll«, sagte Felder. »Es ist wie deine Tasche, die so klein aussieht, und man kann die ganze Welt hineinstopfen, nur umgekehrt. Dies erleichtert mich ungemein. Du meinst also, wir haben wirklich keine Zeit verloren? Wir waren wirklich nur die drei Tage dort?«
Möglicherweise hatte Morren eine Vorstellung davon, daß Felder in seinem ganzen Leben kaum jemals so erleichtert gewesen war. Aber er zuckte nur die Schultern und lächelte geheimnisvoll. »Warte auf den Mond, dann weißt du Näheres.«
Felder war so klug wie vorher. Aber er wußte immerhin, daß er nicht länger zaudern durfte. Noch in den Mooren war sein Entschluß gereift. Er mußte diese Gruppe verlassen. Natürlich war es mit ihnen zusammen nett gewesen, oder zumindest nicht langweilig. Trotzdem hatte es ihm nicht den Spaß gebracht, den er sich erhofft hatte. Morren war unsterblich, aber das würde keinem außer ihm jemals etwas nutzen. Und der Anblick der langlebigen Elfen rieb Felder jeden Tag seine eigene Sterblichkeit unter die Nase. Diese Leute lenkten ihn nicht von seinen Gedanken ab. Vielmehr zwangen sie ihn, stärker denn je über diese Sachen zu grübeln. Außerdem machten sie gleich einen Elch aus jeder Ameise. Niemand in Thoria, von Tarnil einmal abgesehen, der auch an allem herummeckern mußte, wäre auf die Idee gekommen, Felder Vorhaltungen wegen des Trinkens zu machen. Aber Lonnìl und Morren, die immer den Mund so weit aufreißen mußten, würden niemals begreifen, daß er diese Reisen und Abenteuer brauchte, um nicht soviel trinken zu müssen. Vor allem würden sie es ihm dann nicht glauben, wenn er das tat, was er für den Abend vorhatte.
Es war ein glücklicher Zufall, daß sie gerade in dieser Gegend gelandet waren. Da gab es einen Bauer ganz in der Nähe, der ein wirklich phantastisches Zeug brannte. Bei ihm würde Felder seine Flasche auffüllen, oder am besten gleich noch eine zweite kaufen. Und am nächsten Tag, oder vermutlich eher am nächsten Abend, würde er aufstehen und ein neues Leben beginnen. Keine Elfen, Zauberer oder Dunklen mehr. Dieses Gesocks hatte ihn schon in genug Schwierigkeiten gebracht. Statt dessen: Menschen, aller Altersgruppen und vor allem aller Geschlechter. Seit er mit Schwinge zusammen reiste, hatte Felder schon fast vergessen, wie eine richtige Menschenfrau aussah. So etwas gedachte er nun zu finden.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er wirklich frei, das zu tun, was er wollte. Es gab keinerlei Verpflichtungen mehr für ihn. Er war freier als alle Menschen, die er jemals getroffen hatte. Sein Leben lag noch komplett vor ihm. Vielleicht gehörte ihm Thoria nicht mehr. Aber dafür gehörte ihm jetzt die Welt.
Der Bauer war noch genau da, wo Felder ihn in Erinnerung hatte. Und er war noch genauso glücklich wie früher, wenn sich jemand für seinen Schnaps interessierte - oder ihm Gold gab. Felder bekam alles, was er wollte, auch wenn die Augen seiner Gefährten aus sicherer Entfernung argwöhnisch bis haßerfüllt auf ihm ruhten. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, sie in seine Abschiedspläne einzuweihen.
»Ich werde euch jetzt verlassen«, sagte er. Wozu lang um den heißen Brei herumreden? »Ich habe euch schon genug in Schwierigkeiten gebracht, und darum ist es wohl das beste, wenn sich unsere Wege jetzt trennen. Um es genau zu sagen, werde ich jetzt anfangen, mich zuzukippen, und da ich euch den Anblick nicht zumuten möchte, solltet ihr gehen, bevor es zu spät ist. Nehmt diese schmackhafte Wurst hier als Andenken. Der Bauer hat sie mir geschenkt, weil er fand, sie passe besonders gut zu seinem Hausgebrannten, aber ich da ich keinen besonderen Hunger habe, ist es voll besser, wenn ihr sie eßt.«
Das war nicht ganz das, was der Bauer gesagt hatte. In der Tat hatte der Text gelautet: »Also gut, mein Junge, ich verkaufe dir wirklich zwei Flaschen, aber dafür bestehe ich auch darauf, daß du diese Wurst hier vorher ißt. Du solltest auf jeden Fall etwas Solides im Bauch haben.« Aber warum hätte Felder auch versuchen sollen, dem gewünschten Effekt entgegenzuwirken?

Ein Stöhnen und ein kaum merkliches Zucken deuteten darauf hin, daß langsam wieder Leben in das nasse Bündel auf dem Scheunenboden kam.
»Er lebt!« rief Lonnìl. »Er kommt zu sich!«
»Das wurde ja auch langsam mal Zeit«, sagte Morren. »Vier Eimer voll Wasser! Wenn er auf den nächsten nicht reagiert hätte, wäre selbst ich mit meiner Weisheit am Ende gewesen. Dann hätten wir ihm nur noch zu einer gelungenen Aktion gratulieren können. Saubere Arbeit, allerdings nur im übertragenen Sinn.«
Das Stöhnen wurde lauter. Felder rührte sich und machte sogar den Ansatz, ein Auge zu öffnen. Aber es dauerte noch einige Momente, bis in seinem Blinzeln so etwas wie Erkennen lag, oder zumindest Wahrnehmung der Umgebung. Dann ertönte ein weiteres Stöhnen. Das Auge schloß sich wieder.
»Sei so gut, Lonnìl, und hol noch etwas Wasser«, sagte Morren. »Ich denke, er kann noch etwas vertragen.«
Lonnìl nahm den leeren Eimer und lief nach draußen, um ihm am Brunnen zu füllen. Morren bedachte Felder mit einem unbarmherzigen Blick, und so stand er auch noch, als Lonnìl zurück kam. Der fünfte Eimer schaffte es endlich, Felder das volle Bewußtsein wiederzugeben, auch wenn dieser darüber nur bedingt glücklich schien. Er lehnte sich mit einem Mittelding aus Liegen und Sitzen gegen die Scheunenwand, blickte verwirrt zwinkernd um sich und litt offensichtlich.
»Ich frage mich, was du dir dabei gedacht hast«, sagte Morren nachdenklich. »Es sah weniger so aus, als ob du dich betrinken wolltest, sondern mehr, als ob du möglichst schnell aus dem Leben scheiden wolltest. Wie ist es - wolltest du sterben?«
»Ich bin gerade dabei«, ächzte Felder, »und ich wäre dir dankbar, wenn du das Licht von meinem Gesicht wegnehmen könntest.«
Lonnìl schüttelte den Kopf. Die Hände des Zauberers waren leer. Das einzige Licht fiel von draußen durch einige Ritzen zwischen den Brettern hinein, und es war eher schummrig in der Scheune. Aber selbst das war Felder in seinem derzeitigen Zustand wohl zuviel. Seine Augen waren rot und verquollen.
»Geht weg! Laßt mich sterben!«
»Wir hätten uns wohl kaum einen Tag und zwei Nächte darum bemüht, dich ins Leben zurückzurufen, wenn wir dich jetzt sterben ließen«, bemerkte Morren trocken. »Das hast du natürlich wie üblich unserem Freund Lonnìl zu verdanken. Nichts bereitet ihm mehr Vergnügen, als dir das Leben zu retten. Auch wenn es diesmal extrem unvergnüglich war, nicht wahr, Lonnìl?«
Lonnìl antwortete nicht und versuchte, auch nicht mehr an die vorletzte Nacht zu denken. Es war einfach nur widerlich gewesen.
»Erwartet keine Dankbarkeit von mir«, nuschelte Felder. »Ein schöner schneller Tod wäre diesem Elend eindeutig vorzuziehen gewesen, ganz gleich, ob ich es nun überlebe oder nicht.«
»Also wolltest du dich wirklich umbringen?«
»Ich glaube, ich hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen. Frag mich doch nicht so was Schweres! Ich versuche gerade auf die Reihe zu bekommen, wer ich bin, wer ihr seid, und wie ich in dieses Loch hier gekommen bin. Ihr könntet euch ruhig einmal nützlich machen, statt da rumzustehen und zu gaffen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich früher weniger Zunge hatte. Im Ausgleich dazu konnte ich sie so bewegen, wie ich wollte. Habt ihr nichts zu trinken?«
»Du hast nichts übrig gelassen«, bemerkte Morren.
»Wasser, ihr Idioten!«
»Man sollte meinen, auch davon hättest du mehr als genug gehabt. Es ist aber noch ein Rest im Eimer.«
Lonnìl reichte Felder dem Eimer, aber die Hände des Prinzen zitterten so stark, daß er ihn nicht alleine halten konnte. Schließlich mußte Lonnìl ihm das Wasser beinahe einflößen, denn Felder versuchte zu trinken, ohne dabei den Kopf auch nur einen Deut zu bewegen. Der größte Teil des Wassers lief ihm über Kinn und Hals, aber das machte ihm wohl weniger aus als sein Brummschädel.
»Was hast du mit mir gemacht, Zauberer?« wimmerte er. »Warum müßt ihr mich derart bestrafen?«
»Weil du es nicht anders verdient hast«, sagte Morren unbarmherzig. »Mach den Mund wieder auf!« Er zog einen kleinen Beutel aus der Tasche und schüttete daraus etwas Pulver in Felders gehorsam geöffneten Rachen. Felder schluckte reflexartig, verzog das Gesicht, hustete, würgte und riß ungeachtet aller damit verbundenen Körperbewegungen den Eimer an sich, um den letzten Schluck Wasser dem Pulver hinterherzugießen.
»Willst du mich auch noch vergiften? Was war das - Brechwurz?«
»Nein, das hast du nicht mehr nötig. Du hattest es vorgestern mindestens so eilig, den Fusel wieder von dir zu geben, wie du ihn in dich hineingeschüttet hast - was dir übrigens wohl das Leben gerettet hat. Das hier war zerstoßene Weidenrinde. Wirkt meiner Erfahrung nach ganz gut in solchen Fällen. Aus meiner Zeit in diesem Dorf hatte ich noch ein paar von den hilfreichen Kräutern in der Tasche. Ich wußte immer, daß es ein Fest gegeben hatte, wenn die Dorfjugend kam und etwas gegen Kopfschmerzen und Übelkeit haben wollte. Da mein geschätzter Bruder viel Zeit für seine Studien braucht, blieb die Aufgabe, sich um diese Kinder zu kümmern, für gewöhnlich an mir hängen.«
»Sie gingen zu einem Zauberer?« fragte Lonnìl erstaunt. »In meinem Dorf hatten wir zu diesem Zweck eine Kräuterfrau.«
»So etwas gab es in unserem Dorf natürlich auch. Es gibt sie überall - unsere Freundin Oana zum Beispiel war mit Sicherheit eine. Aber unser Kräuterweib wurde eines Tages vom Blitz erschlagen, und das sahen die Leute als Zeichen dafür an, in Zukunft bei uns um Wunder zu bitten. Sie zahlten ganz anständig. Vermutlich hatten sie Angst, wir könnten sonst auch Blitze auf den Hals schicken. Jedenfalls konnte man diesem Leuten mit Zaubereien nicht viel weiterhelfen. Sie waren an Kräuter gewöhnt, und darum wollten sie nichts anderes.«
»Freiwillig?« fragte Felder und schüttelte sich. Es schien ihm aber tatsächlich schon etwas besser zu gehen. Er hatte jetzt beide Augen fast voll geöffnet und stöhnte nicht mehr bei jeder Bewegung auf, und das, was er sagte, war jetzt auch deutlicher zu verstehen. »Sie müssen wahnsinnig sein. Glaubt es mir oder nicht, aber dies ist das erste Mal in meinem Leben, daß es mir derart dreckig geht, und ich habe beschlossen, daraus meine Lektion zu lernen.«
»Soll das heißen, du hörst auf mit dem Trinken?« fragte Lonnìl. Das wäre zwar phantastisch gewesen, aber er glaubte nicht daran. Es war eine natürliche Reaktion, am nächsten Tag zu schwören, nie wieder einen Tropfen anzurühren. Und Felder hatte nicht einmal das vor.
»Bloß nicht! Aber ich werde es in Zukunft wieder so unter Kontrolle halten wie früher. Ab einem gewissen Punkt hört es auf, angenehm zu sein. Es gibt sicher schönere Arten, sein Leben zu verlieren, und ich habe doch vor, es noch einige Zeit zu behalten, zumindest für ein paar Jahre. Es gibt soviel, was ich noch tun kann. Aber … waren wir nicht früher mal zu fünft? Wo sind die Elfen?«
»Sie konnten deinen Anblick nicht länger ertragen«, sagte Lonnìl, »und ich kann es ihnen nicht verdenken.«
»Du hast Keil innerhalb von einem Abend mehr über Menschen beigebracht, als er jemals wissen wollte«, fügte Morren hinzu. »Er und Schwinge warten in einem Wäldchen dort drüben auf uns. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, dann hätten wir dich wirklich deinem Schicksal überlassen, und wären weg gewesen, noch bevor du weg warst.«
Felder verzog wieder das Gesicht beim Versuch nachzudenken. »Zu meiner Information - habe ich irgend etwas … zu ihnen gesagt? Erzählt mir das nur noch, dann könnt ihr wirklich gehen und mich allein lassen. Ich werde euch keine Probleme mehr bereiten. Ich komme schon zurecht. Also … was habe ich noch getan?«
»Gar nichts. Ich habe in all der Zeit noch nie jemanden gesehen, der es so eilig hatte wie du. Du hast länger gebraucht, die zweite Flasche zu öffnen, als sie hinunterzustürzen, falls es dich beruhigt. Danach dauerte es nur noch ein paar Augenblicke, und du bist vornüber gekippt. Vielleicht hättest du vorher die Wurst essen sollen. Drei Tage hungern und dann das - vermutlich hätte jeder andere nur die erste Flasche geschafft. Es war wohl ziemlich stark?«
Felder nickte mit nicht zu übersehendem Stolz und brachte ein verzerrtes Lächeln zustande. »Niemand weiß, wie er es macht. Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt keinen Bauern, der ein stärkeres Zeug brennt. Es heißt, man muß es nur einmal schief ansehen, und es geht in Flammen auf. Abgesehen davon schmeckt es durchaus passabel. Der Bauer wird sich sicher wundern, wenn ich heute abend zu ihm gehe und meine Vorräte wieder auffrische. Wenn er sieht, daß ich noch lebe, wird er sich sicher daran machen, die Rezeptur noch etwas zu verbessern. Und jetzt - macht es gut. Viel Erfolg noch auf eurer Suche. Aber ohne mich dürfte es nicht mehr schwer sein. Wünscht mir Glück.« Ohne weitere Vorwarnung verdrehte er die Augen, und sein Kopf kippte nach vorne. Aber sein gleich darauf einsetzendes Schnarchen machte klar, daß er nicht wieder bewußtlos geworden, sondern nur eingeschlafen war. Wenn er wieder wach wurde, würde es ihm sicher besser gehen.
Lonnìl und Morren verließen die Scheune und gingen zum Wald hinüber. Die Elfen warteten schon auf sie. Jetzt erst fiel Lonnìl auf, was er vergessen hatte: Felders Schwert hing immer noch an seiner Seite. Früher hätte er das zwar nicht für möglich gehalten, aber er hatte sich so sehr an das sperrige, schwere Ding gewöhnt, daß er vergessen hatte, es Felder zurückzugeben. Dabei wollte er es doch gar nicht behalten! Aber jetzt war es zu spät. Lonnìl überlegte zwar noch kurz, ob er zurücklaufen und das Schwert neben Felder legen sollte, damit er es fand, wenn er aufwachte, aber die Elfen waren nicht länger bereit, noch länger zu warten. Das war auch nur zu verständlich. Wegen Felders Unvernunft hatten sie schon zwei Tage in diesem Wäldchen ausharren müssen, obwohl sie es sicher kaum erwarten konnten, endlich die Flöte in den Händen zu halten.
Sie waren schon ein ganzes Stück gegangen, als Lonnìl plötzlich begriff, wie nötig Felder sein Schwert jetzt brauchen würde. Mit dem Dolch, den er ansonsten noch hatte, würde er alleine nicht weit kommen. Und von was wollte er leben? Aber das wollte Lonnìl lieber nicht so genau wissen.
Erstaunlicherweise konnte Lonnìl nicht einmal sagen, ob Felder ihm nun fehlen würde oder nicht. Auf der einen Seite war er froh, diese lästige Nervensäge los zu sein. Aber auf der anderen Seite … Es war auf einmal so ruhig. Niemand redete. Zwar hatte Lonnìl nur auf das Allerwenigste von dem, was Felder sagte, geachtet, weil es sich oft nicht lohnte, ihm zuzuhören, aber irgendwie war er längst daran gewöhnt. Dieses Schweigen hatte etwas Bedrückendes an sich.
Doch trotz aller doch vorhandener Zuneigung, die Lonnìl dazu bewegt hatte, bei Felder zu bleiben und sich um ihn zu kümmern, bis sicher war, daß er überlebt hatte, war es doch das Beste, daß der Prinz nicht mehr dabei war. Dinge, die ihm Felder während des Streites an den Kopf geworfen hatte, drängten sich nun wieder in Lonnìls Sinn: Daß er alles nur so sah, wie er es sehen wollte. Obwohl Lonnìl vorgegeben hatte, nichts um diese Behauptung zu geben, konnte er doch nicht verhindern, daß sie nun an ihm nagte. Und genau deswegen war es gut, daß ihm nun weitere Konfrontationen mit Felder erspart bleiben würden. Nachdem dieser Streit einmal angefangen hatte, war er nicht mehr so leicht beiseitezulegen. Früher oder später hätte Lonnìl, statt zuzuschlagen, Stellung zu dem beziehen müssen, was Felder gesagt hatte - und genau das konnte er nicht. Natürlich liebte er Schwinge - oder liebte er nur das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte? Hatte sie ihm jemals Anlaß gegeben, sie zu lieben? Was waren seine Gefühle? Etwas in seinem Innern krampfte sich schmerzhaft zusammen, als Lonnìl merkte, daß er die ganze Zeit über nur versucht hatte, Felders Wesen zu ergründen - und dabei völlig versäumt hatte, sich über sich selbst klar zu werden.
Bedrückt folgte er Schwinge in einigen Schritten Entfernung, als Keil an ihn herantrat. »Er wird es doch überleben, oder? Ich meine - ich habe etwas Derartiges noch nie gesehen.«
Weder Lonnìl noch Morren hatten gegenüber den Elfen auch nur ein Wort über Felders Zustand verloren, und die hatten auch nicht danach gefragt. Lediglich ein leichtes Kopfnicken Morrens hatte angedeutet, daß jetzt alles wieder in Ordnung war. Aber Lonnìl hatte erwartet, daß Keil irgendwann fragen würde.
»Du kannst sicher sein - ich auch nicht. Ich habe sicher schon etliche Betrunkene erlebt, aber das …« Er schüttelte sich. »Wenn wir uns nicht um ihn gekümmert hätten, wäre er gestorben. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Morren hat etwas mit ihm gemacht, daß ihn gerettet hat. Etwas … Magisches, meine ich.«
»Oh«, sagte Keil betroffen. »Hat Felder das gewußt - daß es ihn umbringen konnte?«
»Mit Sicherheit. Er hat es darauf ankommen lassen. Du kennst ihn - es ist ihm egal, ob er eine Sache überlebt oder nicht.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Keil. »Ich bin kein Mensch, und vermutlich irre ich mich, aber ich hatte immer den Eindruck, daß Felder so sehr an seinem Leben hängt, daß er gar nicht mehr daran glaubt, daß er es wirklich verlieren könnte. Er sagte zwar immer, er wünsche sich einen schönen schnellen Tod, aber was er in Wirklichkeit wollte, war Unsterblichkeit. Irgendwann hatte er so viele Gefahren überlebt, daß er angefangen hat zu glauben, er sei wirklich unsterblich. Und darum muß er jetzt sein Leben immer wieder herausfordern, um zu sehen, ob er Recht hat.« Keil schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr: »Schwinge ist natürlich froh, daß er weg ist, aber ich glaube, er wird mir fehlen. Ich mochte ihn. Irgendwie habe ich ihn bewundert, glaube ich.«
»Aber er hat es überlebt, Keil! Du redest von Felder, als ob er schon tot wäre!«
»Wenn er nicht wirklich unsterblich ist, wird er es beim nächsten Mal nicht überleben.«
»Ich denke nicht, daß er es noch einmal tun wird«, sagte Lonnìl und mußte gegen seinen Willen plötzlich lachen. »Weniger aus Angst davor, daß es ihn umbringt, sondern daß er es noch einmal überlebt.« Und er erzählte dem zugleich faszinierten und entsetzten Elfen davon, wie sehr der Thorianer beim Erwachen gelitten hatte.
Aber seine Gedanken waren dabei nicht bei Felder, sondern bei Schwinge und ihm selbst. Wäre die Elfe in der Lage, seine Liebe zu erwidern? Hatte sie jemals Liebe zu irgend etwas gezeigt? Sie mochte keine Menschen, und er konnte es ihr nicht verdenken. Aber warum nicht? Die Menschen waren doch nicht böse! Es gab gute und schlechte Menschen, und sicher waren diejenigen, die Schwinges Eltern getötet hatten, von der sehr bösen Sorte gewesen, aber das bedeutete doch nicht, daß es überhaupt keine guten Menschen gab! So zu denken war falsch, es war wie … wie …
wie zu denken, daß alle Adligen schlecht waren, nur weil einer von ihnen seine Familie getötet hatte.
Erst, als er Keil besorgt fragen hörte und die schlanke Hand des Elfen auf seinem Arm fühlte, merkte Lonnìl, daß er, zum ersten Mal seit vielen Jahren, zu weinen begonnen hatte.

Diese Gegend wurde ziemlich stark von den Menschen besiedelt. Seit Felder sie verlassen hatte, waren sie schon an zwei umfriedeten Ortschaften vorbeigekommen, und die Getreidefelder der Bauernhöfe umsäumten ihren Weg. Zum Glück waren genug Bäume geblieben, um ihnen Schatten und Schutz zu spenden, denn der Sommer war in seinen wärmsten Abschnitt eingetreten. In den Wäldern waren die Sommer niemals so heiß gewesen - auch die wärmsten Tage dort waren im Vergleich zu diesen immer noch angenehm kühl. Vielleicht lag es aber auch daran, daß sie nun immer weiter nach Süden wanderten und noch vielleicht einen halben Monat von den Glühenden Höhen entfernt waren. Schwinge hielt ihre Augen auf den Horizont gerichtet, in der Hoffnung, dort endlich die ersten Ausläufer der Berge zu entdecken. Aber nur im fernen Westen gab es die Schatten einer Bergkette.
Die Reise verlief angenehmer ohne Felder, weniger hektisch. Endlich konnten sie wieder in ihrer Zeit leben und bekamen nicht mehr den sehr viel schnelleren, hastigen Rhythmus der Menschen aufgedrängt. Alles wäre gut gewesen ohne Lonnìl. Aber nun, da der andere Mensch ihn nicht mehr ablenken konnte, entwickelte er sich zu einem echten Problem. Immer wieder kam er zu ihr.
»Schwinge, ich muß mit dir reden … bitte! Es ist wichtig!«
Warum begriff er nicht, daß sie nicht mit ihm reden wollte? Alles, was sie ihm zu sagen hatte, war gesagt worden. Was sollte sie tun? Mehr als zu wiederholen, daß sie nichts weiter von ihm wollte als ihren Frieden, konnte sie nicht. Schließlich suchte sie Rat bei Morren.
»Vielleicht solltest du tatsächlich mit ihm reden?« schlug der Zauberer vor. »Die Sache ist die - er weiß nicht mehr, was er von dir denken soll. Und er möchte von dir einen Rat, was er tun soll.«
»Er soll gehen«, erwiderte Schwinge. »Meine Einstellung ihm gegenüber hat sich nicht geändert. Natürlich glaube ich jetzt, daß er uns wirklich helfen will, aber ich kann auf seine Hilfe verzichten, und ich mag die Art nicht, wie er mich immer ansieht.«
»Dann sage ihm das«, sagte Morren. »Am Besten noch heute. Vielleicht wird er ja diesmal auf dich hören.«
Schwinge zögerte lange. Sie konnte nicht einfach zu Lonnìl hingehen und es ihm sagen. Aber dann nahm Lonnìl ihr dieses Problem ab. Als sie am Abend um das Feuer saßen, stand der Mensch plötzlich auf.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er laut. »Das geht so nicht mehr weiter. Und ich habe einen Entschluß gefaßt, den du vermutlich begrüßen wirst, Schwinge. Bevor ich weiß, ob ich dich wirklich immer noch liebe, muß ich erst einmal Abstand zu dir gewinnen. Morren meinte auch, es wäre vielleicht das Beste, wenn ihr das letzte Stück eurer Suche ohne menschliche Begleitung zurücklegt. Immerhin geht es um die Zukunft der Elfen, nicht um die der Menschen. Wäret ihr damit einverstanden, mich hier zurückzulassen? Ich habe euch nie in dem Maße helfen können, wie ich es gerne getan hätte.«
»Du willst auch gehen, wie Felder?« fragte Keil, und es klang bedauernd. Aber der Barde schien ja selbst Felder zu vermissen.
»Ich war sehr gerne mit euch zusammen«, antwortete Lonnìl. »Und ich wäre es gerne noch immer. Wenn ihr die Flöte gefunden habt, und ihr glaubt, mich auf dem Rückweg noch ein Stück lang ertragen zu können, dann kommt wieder hier vorbei. Wir könnten einen Treffpunkt ausmachen. Wenn ich dann dort bin, dann hat mein Herz seine Entscheidung gefällt, und ich weiß, daß ich Schwinge wirklich liebe. Sollte ich nicht dort sein, dann bin ich die ganze Zeit hinter einem Traum hergelaufen, den es niemals gab, und ich werde euch nie wieder belästigen.«
Schwinge hätte ihm niemals derartige Vernunft und Selbstbeherrschung zugetraut. Sie wußte nichts, was gegen diesen Vorschlag gesprochen hätte. Immerhin ließ Lonnìl ihr die freie Wahl, auch wenn sie jetzt schon wußte, daß sie nicht zu ihm zurückkehren würde. Ihr entging nicht, wie schwer dem Menschen diese Eröffnung gefallen war. Sein Vorschlag war für alle das Beste, auch für ihn. Sicher würde er schnell merken, daß er sie nicht wirklich geliebt hatte, und selbst wenn sie diese Gegend auf dem Rückweg noch einmal durchquerten, würde er sicher nicht mehr dort sein.
Zum ersten Mal lächelte sie Lonnìl aus freiem Herzen an. »Ich möchte dein Angebot annehmen.«
Als Lonnìl jetzt zuerst schluckte und dann zu schluchzen anfing, wußte sie nicht, ob er dies nun vor Erleichterung tat oder vor Kummer, weil er sie verlassen mußte. Aber eigentlich war es ihr auch relativ egal.
Am nächsten Morgen, als ihr Weg sie an einem Gasthaus vorbeiführte, sagte der Mensch: »Wartet! Ich glaube, das hier ist der beste Ort, um uns später wieder zu treffen - wenn ihr kommen wollt und ich noch hier bin. Seid ihr einverstanden?«
Schwinge und die anderen nickten. Lonnìl blickte zu Boden, dann umklammerte er seinen Stab mit beiden Händen, drehte sich langsam um und betrat das Haus. Sie waren ihn los, aber seltsamerweise fühlte sich Schwinge nicht so erleichtert, wie sie vorher angenommen hatte. Auf eine gewisse Weise hatte sie sich an ihn gewöhnt, wie auch an Felders verquere Abhandlungen über die Zeit.
Es war merkwürdig. So plötzlich, wie diese Menschen in ihr Leben getreten waren, waren sie nun wieder verschwunden. Aber es war das Beste, so wie es war. Jetzt endlich konnten sie sich auf das konzentrieren, weswegen sie überhaupt aufgebrochen waren: Die Flöte aus Eis zu finden.

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