Sechstes Kapitel

The Dark will end the Dark, if anything
Edwin Arlington Robinson

Es gab verschiedene Arten von Dunkelheit. Normalerweise fühlte sich Felder im Dunklen ganz wohl. Gegenüber dem Licht hatte es den entscheidenden Vorteil, daß es niemals blendete. Außerdem verbarg es Dinge, die man lieber nicht sah - und Leute, die lieber nicht gesehen werden wollten. Natürlich erschwerte es die Orientierung. Aber wer im Stockdunklen gegen eine Wand rannte, konnte die Schuld den Lichtverhältnissen zuschieben. Bei Tag mußte man sich da schon originellere Ausreden ausdenken. Wenn also jemand Felder vor die Wahl gestellt hätte zwischen Licht und Dunkelheit, so hätte er zumindest eine Bedenkzeit erbitten müssen. Vorausgesetzt, daß es sich um die richtige Art von Dunkelheit handelte.
Diese hier war anders. Dies war nicht die gewöhnliche Abwesenheit von Licht, sondern die Anwesenheit von Dunkel. Jedes Licht hätte hier auf verlorenem Posten gestanden. Fast glaubte Felder, die Schwärze spüren zu können. Sie drang ihm in Ohren und Nase ein, und er schluckte unwillkürlich, als habe sie auch seine Zunge belegt. Er schüttelte sich. Was war dies für ein Ort? War dies überhaupt ein Ort? An Orten spürte man den Boden unter den Füßen, es sei denn, man lag - dann spürte man den Boden am Rest des Körpers. Hier spürte er nichts. Weder Boden, noch Luft. Einfach nur Dunkelheit. Und wo waren die anderen?
»Hallo?« fragte er. »Lonnìl, Morren, Elfen? Irgend jemand zu Hause?« Er streckte tastend die Arme aus. Dies war nicht so unglaublich und ungewöhnlich, wie es vielleicht auf den ersten Blick aussah. Er war schon an den merkwürdigsten Orten aufgewacht. Für alles gab es eine logische Erklärung. Seine Erinnerung endete damit, daß sie alle im Wald standen. Vielleicht war ihm ein abgebrochener Ast auf den Kopf gefallen und hatte ihn außer Gefecht gesetzt? Aber genaugenommen hatte er nicht das Gefühl, daß ihm irgend etwas fehlte. Eben noch war er im Wald, jetzt stand er im Dunklen. So einfach war das. Und da war auch schon die logische Erklärung. Er mußte sich keinerlei Sorgen machen. Sie waren immer noch im Wald. Es war nur plötzlich stockfinster geworden. Mit Magie war vieles -
Falsch
, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Du hast vollkommen unrecht. Es war nicht direkt eine Stimme. Felder war sich vollkommen sicher, daß er sie nicht mit seinen Ohren gehört hatte. Und es war auch nicht direkt eine Stimme. Es klang wie unzählige Stimmen, die gleichzeitig sprachen. Nicht durcheinander. Auch nicht wie ein Chor. Man konnte keine einzelnen Stimmen ausmachen. Es klang einfach wie Viele.
»Wer ist da?« fragte Felder. Etwas Dümmeres fiel ihm in diesem Moment nicht ein. Vermutlich bekam er auch deswegen keine Antwort. Zumindest nicht von denen, die zuletzt gesprochen hatten.
»Felder?« fragte Lonnìl. Felder konnte ihn nicht ausmachen. Es gab kein Rechts und Links mehr. Alles war ein einziges Irgendwo. Aber immerhin war Lonnìl da. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Lonnìls Stimme klang ängstlich, was man ihm in Anbetracht der Lage nicht weiter übel nehmen konnte. Und was war mit Felder selbst? Er war angespannt bis in die Zehenspitzen. Jeder Sinn in seinem Körper schrie ‘Gefahr!’. Diese seltsame Situation war so neu und so unerwartet, daß er keine Ahnung hatte, wie er sie einschätzen sollte. Mit anderen Worten: Er fühlte sich großartig. Dies versprach ein wirkliches Abenteuer zu werden. Wahrer Nervenkitzel von oben bis unten. Felder liebte neue Gefahren.
»Lonnìl, schön, daß du da bist!« rief er fröhlich. »Stell dir vor: Ich sehe nichts, habe die Orientierung verloren und höre viele kleine Stimmen in meinem Kopf. Und was machst du so?«
Es scheint dir hier ja ausgezeichnet zu gefallen.

»Mit euch habe ich nicht geredet! Aber wo wir schon einmal dabei sind - wer seid ihr?«
Wir sind die Dunklen. Und wir sind erfreut, daß ihr euch, unserer Einladung folgend, so zahlreich versammelt habt.
Irgendwo tauchte ein heller Fleck auf - sicherlich steckte wieder Morren dahinter. Aber das Licht machte die Finsternis nicht einen Deut heller. Es schien die Schwärze der Umgebung nur noch stärker zu betonen.
»Einladung? Was für eine Einladung?« fragte Morren. Seine Stimme klang fordernd. Noch einer, der sich nicht einschüchtern ließ. »Und wo sind wir hier?«
Dies ist das Dunkel.

»Na wunderbar«, sagte Felder. So, wie es aussah, blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten, was nun passieren würde. Da konnte er sich auch gleich auf den Boden setzen. Nur, daß es keinen Boden gab. Aber wenn er schon einmal im Nichts festsaß, konnte er es sich zumindest bequem machen. Es war ein wenig wie Schwimmen, oder noch mehr wie Tauchen, wo man auch nichts als Raum rund um sich herum hatte. Nur weniger naß. Und das Atmen fiel Felder bedeutend leichter als unter Wasser. Zumindest Luft schien es zu geben.
So ist es recht. Macht es euch gemütlich.

Ein dunkles Lachen folgte, das durch Mark und Bein ging. Felder empfand sich selbst nicht als besonders zimperlich, und so schreckte er normalerweise davor zurück, andere Leute als grausam zu bezeichnen (abgesehen von Morren, gelegentlich), aber dieses Lachen war so ziemlich das Grausamste, was er je gehört hatte.
Wir haben euch nicht ohne bestimmten Grund herbestellt
, sagten die Stimmen in seinem Kopf. Eure faszinierende Suche ist nicht unbemerkt geblieben. Wir haben immer einen interessierten Blick auf die Vorgänge in eurer Welt, und euer bedauernswertes Scheitern in der Trommel hat uns gerührt, so daß wir beschlossen haben, euch zu helfen. Wir halten die Idee, die sagenhaften Instrumente der Hohen zusammenzutragen, für ausgesprochen löblich, insbesondere, da wir selbst eines dieser Instrumente besitzen. Wie ist es - seid ihr interessiert?
»Was habt ihr denn so zu bieten?« fragte Felder. Sollten die anderen ruhig ihm das Feilschen überlassen! Dafür hatte er eine gewisse Begabung, und außerdem schien er von allen diese Situation am gelassensten zu nehmen.
Ratet doch einfach.

»Die Harfe aus Laub?« schlug Felder vor, obwohl er wußte, daß sie es nicht sein konnte. ‘Auf der Harfe spielt das Licht’, das hatte er sich gemerkt, und das war hier schwer möglich. Aber man mußte sich in einem wichtigen Handel immer dumm stellen, bevor man seinen Gegner über den Tisch zog. Wie erwartet begannen die Dunklen zu lachen.
Falsch. Wir lassen den Feen ihr Vergnügen. Selbstverständlich besitzen wir die Laute.

»Wie kommt ihr an Instrumente der Hohen?« fragte Morren.
Es wurde uns gewissermaßen zugespielt. Aber offen gesagt, können wir nicht viel damit anfangen. Daher wäre es uns ein Vergnügen, sie euch zur Verfügung zu stellen. Die Hohen Völker müssen schließlich zusammenhalten.

»Wer seid ihr?« fragte Morren noch einmal, vorsichtiger. »Ich weiß alles über die Hohen Völker, aber von euch habe ich noch niemals gehört.«
Auch Zauberer können nicht alles wissen. Wir Dunklen leben ein wenig zurückgezogen, außerhalb von dem, was ihr Raum und Zeit nennt. Gefällt es euch nicht bei uns?

»Nicht entsetzlich gut«, gab Felder offen zu. ‘Gefallen’ war nicht das richtige Wort. »Aber ich kann natürlich nur für mich sprechen, solange ich meine Freunde nicht sehen kann.« Wie als Antwort hörte er ein ganz schwaches Wimmern von irgendwoher. »Was ist mit den Elfen?«
»Den Alifwin geht es ziemlich schlecht«, sagte Morren. »Sie vertragen die Dunkelheit nicht, und ich weiß nicht, wie lange sie hier noch durchhalten.«
Das ist nicht weiter verwunderlich. Leben ist für sie gleich Licht, folglich sind auch Dunkelheit und Tod eins. Aber sorgt euch nicht. Wir werden nicht zulassen, daß ihnen wirklich etwas passiert. Wir töten niemanden. Es ist euer Leben, an dem wir uns erfreuen.

»Laßt uns von hier fort«, rief Morren. »Schnell! Quält sie nicht länger!«
Ihr wollt die Laute nicht mitnehmen? Da seid ihr durch die halbe Welt gereist, und nun, wo ihr am Ziel seid, wollt ihr unverrichteter Dinge wieder gehen?

»Dann gebt uns endlich diese verdammte Laute!« Es fehlte nicht mehr viel, bis Felder seine Geduld verlieren würde. Warum stellten sie nicht endlich ihre Forderungen? Denn Forderungen würde es geben. Diese Dunklen waren nicht von der Art, die Geschenke machte.
Euch ist doch hoffentlich klar, daß wir das nicht einfach so können. Dafür ist uns unsere Laute viel zu lieb geworden, als daß wir sie einfach so an die Erstbesten verschenken können, egal, wie löblich ihr Ansinnen auch sein mag.

Er hatte es gewußt! »Was wollt ihr von uns?«
Diese Laute ist unbezahlbar. Verkaufen können wir sie daher nicht, und auch nicht eintauschen. Aber wenn sich auch nur einer von euch bereit erklären würde zu einem kleinen Spielchen …

»Was muß ich tun?« fragte Felder. Dies war eine Herausforderung, die keiner von den anderen angenommen hätte. Aber er war in seinem Element. Es war lange her, daß er zuletzt ein richtiges Spiel gehabt hatte. In letzter Zeit war er viel zu selten gefordert worden.
Die Regeln sind einfach. Einer von euch setzt alles, was ihm gehört. Wenn er - oder sie - gewinnt, erhält er - oder sie - die Laute. Habt ihr das verstanden? Akzeptiert ihr?

»Ich akzeptiere!« sagte Felder schnell, bevor die anderen auf die Idee kommen könnten, ihn daran zu hindern. Spiele mit hohem Risiko machten den meisten Spaß, auch wenn es bedeuten konnte, daß man plötzlich kein Pferd mehr hatte, so wie im letzten Herbst.
»Tu das nicht!« warnte Morren auch schon. »Es ist zu gefährlich!«
»Ich denke, wenn es um die Laute geht, ist nichts zu gefährlich. Ihr wollt sie haben, oder etwa nicht? Und es muß sich schließlich für euch auch lohnen, mich die ganze Zeit ertragen zu haben. Wir dürfen keine Zeit mit Skrupeln verlieren, sonst sind nachher die Elfen hin. Es muß also schnell gehen. Ich möchte, wenn dies hier vorbei ist, Schwinge gegenübertreten können und sagen: ‘Da hast du es, Menschen sind doch zu etwas gut.’ Und ich habe bereits zugesagt. Es gibt kein Zurück mehr.«
Du kannst es dir noch einmal überlegen.

»Da gibt es nichts zu überlegen. Ich spiele jetzt, und wenn ich verliere, dann habe ich eben verloren. Viel habe ich ohnehin nicht zu bieten. Ich bin ein weitgehend mittelloser Herumstreuner, was das betrifft. Natürlich weiß ich nicht, was ihr unter ‘alles’ versteht. Schlimmstenfalls verliere ich mein Leben. Für den Fall möchte ich ein paar Vorsorgen treffen. Das darf ich doch noch, oder?«
Tu, was du nicht lassen kannst.

Es wäre ein Jammer, wenn das Schwert den Dunklen in die Hände fiel. Von allen seinen Besitztümern war es sicher das wertvollste, und das, woran sein Herz am meisten hing. Felder hatte noch nie irgendwo sein Schwert gesetzt. Und er würde es auch jetzt nicht tun.
»Lonnìl«, sagte er mit ernster Stimme. »Es ist relativ gut möglich, daß ich das hier nicht überstehe. Falls dem so sein sollte, möchte ich dir jetzt sagen, was für ein guter Freund du mir geworden bist, trotz deiner Versuche, mich zu Mus zu verarbeiten. Deine Geduld mit mir und deine Treue möchte ich gerne belohnen, indem ich dir etwas schenke. Komm her!« Felder tastete um sich. Irgendwo mußte Lonnìl schließlich sein. Im Nichts konnte es keine unendliche Weite geben. Das widersprach sich. Folglich war Lonnìl in direkter Nähe. Schließlich bekam Felder tatsächlich eine Hand zu fassen, die zu seinem Freund gehören mußte. Er hatte lange genug mit dem Bauern trainiert, um zu wissen, wie sich dessen schwieligen Pranken anfühlten. »Lonnìl von Dunistan, ich schenke dir hiermit mein Schwert. Hüte es gut.«
»Das kann ich nicht annehmen«, entgegnete Lonnìl wie erwartet. »Und ich will es auch überhaupt nicht.«
»Du wirst mir doch nicht den letzten Gefallen abschlagen wollen, um den ich dich bitte? Du mußt es nicht einmal auf Dauer behalten. Wenn ich das hier nicht überlebe, dann bringe das Schwert nach Thoria, damit man dort weiß, was aus mir geworden ist. Man wird dich fürstlich belohnen, und auf dem Weg kannst du noch ein paar Grafen plätten. Wenn ich es doch überlebe oder sogar gewinnen sollte, behalte das Schwert trotzdem, als mein Freund. Wirst du das für mich tun?«
Lonnìl war ein extrem edler Mann. An seinen Edelmut zu appellieren funktionierte immer. Jetzt konnte er nicht mehr nein sagen. »Das werde ich.« Es war schön, wenn man sich auf seine Freunde verlassen konnte.
Felder überlegte fieberhaft, was für wertvolle Sachen er sonst noch hatte, die er schnell verschenken konnte. Aber das Einzige, was ihm einfiel, war sein silberner Stirnreif. Er lag wieder ganz oben im Beutel. Auf die Dauer neigte er dazu, Kopfschmerzen zu verursachen, weil er etwas drückte. Wie schwer würde dann erst diese verdammte Krone sein? Aber Keil hatte den Reif immer gemocht. Er sollte ihn haben.
Hast du jetzt alles erledigt, Mensch?
fragten die Dunklen.
»Ich denke schon.«
Dann kann das Spiel beginnen.

Felder wartete gespannt, was nun geschehen würde. Die Dunklen hatten nicht gesagt, was für ein Spiel es sein würde, aber das war ihm auch egal. Jedes Spiel war gut, auch wenn in diesem Fall die Dunklen alles daran setzen würden, zu betrügen. Jetzt wußte er auch, woher der Ausdruck ‘jemanden hinters Licht führen’ stammte. Es war gut, daß er nüchtern war. Hierfür würde er jeden einzelnen Sinn brauchen, über den er verfügte, und extrem scharfe Gedanken. Seltsam, daß er sich eines Tages wünschen würde, klar zu denken!
Was ist? Warum spielst du nicht? Du hast den ersten Zug.

Sie hatten also schon angefangen? »Sehr witzig! Ich kann überhaupt nichts erkennen! Es ist mir zu dunkel, wie ihr durchaus wißt! Zu einem fairen Spiel gehört, daß beide Parteien sehen können, was los ist.«
Es sei denn, man spielt ‘Blinde Kuh’. Aber du hast natürlich recht. Wie nachlässig von uns.

Aus dem Nichts tauchte ein Spielbrett vor Felder auf. Es schien in sich schwach zu leuchten, ohne dabei Licht an seine Umgebung abzugeben. Die flachen, unregelmäßigen Spielsteine schimmerten ebenfalls fahl, und sie schienen aus Knochen gemacht zu sein. Von woher sie plötzlich aufgetaucht waren, wollte Felder lieber gar nicht erst wissen, aber sie fühlten sich immerhin ziemlich wirklich an. Aber das war nicht einmal das Wichtigste. Das Wichtigste war, daß Felder nun erkannt hatte, um was es sich überhaupt handelte.
»Dieses Spiel kenne ich«, murmelte er zufrieden. »Und ich bin wirklich gut darin.«

Lange Zeit war nichts zu hören als ein gelegentliches leises Klappern und Rascheln. Die Spannung stieg immer weiter und war schon fast so erdrückend wie die Dunkelheit selbst, als plötzlich, nach einer Ewigkeit, wie es Lonnìl vorkam, Felder das Schweigen mit einem frohen Aufschrei unterbrach.
»Hey, ich glaube, ich habe gewonnen!«
Falsch
, sagte die unheimliche Stimme. Du hast verloren, Dhelin von Thoria.
»Aber das geht nicht! Ich kenne dieses Spiel! Nach den Regeln habe ich gewonnen.«
Du hast einen entscheidenden Fehler gemacht, Dhelin. Vielleicht hättest du dich vorher nach den Regeln erkundigen sollen? Dies war gar nicht das Spiel, welches du zu kennen glaubtest. Es war unser Spiel.
»Also hatte ich von Anfang an keine Chance«, sagte Felder. Seine Stimme zittere vor unterdrückter Wut. Aber dann lachte der Prinz, auch wenn es etwas erzwungen klang. »Nun gut, ich gebe es zu, ihr wart besser als ich. Ihr habt mehr oder weniger redlich gewonnen, und niemand soll sagen, daß ich nicht verlieren kann. Nehmt von mir aus mein Gepäck und meine Kleider. Sonst besitze ich nichts, was ich euch geben könnte. Bis auf mein Leben.« Versonnen wiederholte er es noch einmal, als versuche er vergeblich, sich über die volle Bedeutung der Worte klarzuwerden: »Bis auf mein Leben … bis auf mein Leben …«
Und dein Land
.
Jetzt lachte Felder wirklich. »Ich besitze kein Land«, sagte er vergnügt.
Jetzt nicht mehr.

»Überhaupt nie. Ihr habt euch den falschen Thorianer geschnappt. Versucht euer Glück bei meinem Vater. Obwohl es schwer sein dürfte, ihn zu einem Spiel zu bewegen. Er ist ein ernster und gewissenhafter Monarch.«
Das war er. Oh! Wie unachtsam von uns. Wir müssen vergessen haben, es dir zu sagen. Du konntest es natürlich noch nicht wissen. Dein Vater ist tot, Dhelin. Er ist gestern gestorben.

»Das habt ihr gewußt!« schrie Felder. »Das war Absicht!«
Vielleicht … Aber wie auch immer. In diesem Moment befinden sich Thoria und seine Bewohner bereits in unserer Macht. Und in unserer Welt.

»Dazu habt ihr kein Recht! Ich kann Thoria gar nicht verlieren! Ich habe es nicht gesetzt!« Felders Stimme klang schrill vor Panik.
Erinnere dich, Dhelin. Was hast du gesetzt? Wie war der genaue Wortlaut? ‘Alles, was dir gehört’. Dies beinhaltet Thoria, egal, ob du davon wußtest oder nicht. Aber Kopf hoch, Dhelin! Gräme dich nicht. Deine Kleider kannst du behalten. Wir begnügen uns mit den Thorianern.

Das Lachen, welches nun folgte, ließ Lonnìl das Blut in den Adern gefrieren. Mit Entsetzen bemerkte er, wie sich seine Umgebung zu verändern begann. Zwar herrschte immer noch pechschwarze Dunkelheit, aber Lonnìl konnte spüren, daß sie nun nicht mehr vollkommen leer war. Unter seinen Füßen entstand so etwas wie Boden, und da waren auch Wände, die das Lachen schaurig widerhallen ließen. Morren mußte es auch bemerkt haben, denn er machte wieder ein wenig Licht und leuchtete um sich. Diesmal gelang es ihm, seine Umgebung zu erhellen. Es war zwar immer noch mehr als nur schummrig, aber zumindest konnte Lonnìl jetzt ausmachen, daß sie in einer großen Halle standen. Außer ihnen war niemand dort, zu dem die Stimme gehören konnte, aber da waren auch Schatten, die dem Licht nicht auswichen und bei denen nicht zu erkennen war, was sich dahinter verbarg. Die Halle schien völlig leer zu sein bis auf einen großen Stuhl, der an einem Ende stand. Und als er ihn sah, wußte Lonnìl auch schlagartig, wo sie waren: Dies mußte Thoria sein. Sie standen in der Halle der Könige.
Keil und Schwinge hockten zusammengekauert am Boden und rührten sich nicht. Morren stand bei ihnen und leuchtete sie mit einer Hand voll Licht an. Der Raum war jetzt deutlicher geworden, so als gewönne er nur langsam, nach und nach, an Substanz. Große schwere Teppiche hingen an der Wand hinter Morren, aber in diesem Licht war nur zu erkennen, daß sie da waren, nicht, was sie zeigten. Der Boden bestand aus abgenutzten Holzplanken.
Als Lonnìls Blick unwillkürlich einer dunklen Rille zwischen zwei Brettern folgte, fiel er endlich auch auf Felder. Da stand er, so gerade aufgerichtet, als hätte er einen Stock verschluckt, und starrte unverwandt auf den Thron, als könne er nicht fassen, was da um hin herum geschah. Lonnìl bemerkte, daß der Prinz leicht schwankte, und sprang auf ihn zu, um ihn stützen zu können. Felder sah ihn nicht einmal an, aber er klammerte sich wortlos an Lonnìls Arm fest und wies die Stütze nicht ab. Lonnìl legte ihm beruhigend einen Arm auf die Schulter und merkte, daß der Mann mehr als nur leicht bebte. Er zitterte am ganzen Körper, doch er ließ sich nichts von dem, was in ihm vorging, anmerken. Es konnte der Tod seiner Vaters sein, der ihn bewegte, oder das plötzliche Auftauchen der Burghalle, oder auch nur die Tatsache, daß er verloren hatte und nicht wußte, wieviel. Die einzigen Laute, die er von sich gab, waren sein ungleichmäßig schnaubender Atem und das Knirschen seiner Zähne. Plötzlich verstärkte sich Felders Griff, so als wollte er Lonnìl den Arm aus der Schulter reißen, er straffte sich und hörte auf zu zittern.
»Ha!« schrie er. »Ha! Das hättet ihr euch so gedacht!« Er ließ Lonnìl los und stürzte mit ausgestreckter Hand auf die Schatten im dunklen Teil den Halle zu. »Ihr habt mich reingelegt, aber ihr seid selber reingefallen! Ihr könnt die Thorianer nicht bekommen!«
Warum sollten wir nicht? Es ist dein Volk, und du hast es verloren.
Die Stimme kam nicht von dort, wo die Schatten waren. Sie füllte den ganzen Raum, ohne irgendeinen Ursprung - sichtbar oder hörbar - zu haben. Aber das hielt Felder nicht weiter auf.
»Weil sie mir nicht gehören!« schrie er triumphierend. »Ich weiß nicht, was ihr für ein merkwürdiges Volk seid oder wie es die Elfen halten, aber wir Thorianer sind Menschen, und ein jeder Mensch, egal ob reich oder arm, König oder Bettler, gehört sich selbst und keinem anderen Menschen. Das Volk gehört nicht dem König. Das Volk gehört dem Volk! Es hat Anrecht auf einen König, der es regiert und verwaltet, damit dort alles seinen geregelten Gang geht, aber der König hat kein Recht am Volk. Er hat das Recht, ihm zu befehlen, und das Volk muß machen, was der König will, aber all das geschieht zum Wohle aller, nicht zum Vergnügen des Königs. Mir hat vielleicht für den Bruchteil eines Tages lang Thoria gehört, und nicht einmal das, weil ich nicht ordentlich gekrönt worden bin und nicht offiziell König war, aber niemals, und das wird euch jeder bestätigen können, niemals hat irgendein Thorianer mir gehört. Und was mir nicht gehört, das kann ich nicht verlieren. Dies ist meine Burg. Behaltet sie von mir aus, wenn ihr wollt, aber laßt die Menschen aus dem Spiel. Eure Welt ist nicht geschaffen für die Thorianer. Schickt sie zurück in die Welt, aus der sie gekommen sind, und wagt es nicht, sie noch einmal wieder anzurühren! Denn es ist meine Pflicht als König, mein Volk zu schützen, auch vor solchen Unwesen, wie ihr es seid! Tut, was ich sage - oder ihr verstoßt gegen eure eigenen Regeln!«
Lonnìl beobachtete Felder erstaunt. So hatte er ihn noch nie erlebt. Nicht einmal in der Elbenfeste, als er den Prinzen herausgekehrt hatte, hatte Felder derart königlich gewirkt. Zum ersten Mal sah er wie der Mann aus, der zu sein er geboren worden war: ein wahrer, fähiger König. Lonnìl hatte sich niemals vorstellen können, daß ein Herrscher seinem Volk eine derartige Freiheit zusprach, und erst recht hatte er es nicht von Felder erwartet. Aber hier stand der Prinz, bereit, die volle Verantwortung zu übernehmen, solange seinem Volk kein Schaden zugefügt wurde.
Auch Felders Stimme hatte sich verändert. Sie hatte ihren schelmischen Beiklang völlig verloren - zum ersten Mal hörte er sich so an, als würde er das, was er sagte, wirklich ernst nehmen. Diese Stimme war tief und durchdringend und beinahe so eindrucksvoll wie die von Morren, und sie schien nicht Felder zu gehörten, sondern etwas weitaus Größerem, das seinen Platz eingenommen hatte. Lonnìl hatte schon von Leuten gehört, die über sich selbst hinaus wuchsen, aber bis dahin hatte er es immer nur für eine Redewendung gehalten. Nun konnte er es förmlich mit ansehen.
»Denn es gibt eines, das ihr über Menschen wissen solltet, wenn ihr das nächste Mal versucht, welche zu verschleppen«, fuhr Felder fort. Er zappelte nicht mehr herum, sondern stand völlig gerade und ruhig, und Morren, der überrascht an ihn herangetreten war, beleuchtete ihn von hinten mit einem geheimnisvollen Schein. »Ein Mensch ist nicht in erster Linie ein Bestandteil seines Volkes, sondern eine Einzelperson, weswegen auch so ziemlich jeder, wenn es darauf ankommt, nur an sich selbst denkt. Ein Mensch ist durchaus in der Lage, ohne sein Volk zu leben. Ich bin das beste Beispiel dafür, denn es ist beinahe zwei Jahre her, daß ich zuletzt auf Thorianer gestoßen bin, und es geht mir trotzdem hervorragend. Und so wie ich sind alle Menschen. Wir gehören uns selbst, wir sind die Meister unseres eigenen Schicksals, und niemand kann uns in unser Leben hineinreden. Habt ihr mich verstanden?«
Bevor Lonnìl ihm sein Lob und seine Zustimmung aussprechen konnte, fielen ihm wieder die Dunklen ins Wort. Sie schienen kein Bißchen gerührt zu sein.
Das war ein sehr eindrucksvoller Vortrag, Dhelin. Wir müssen zugeben, daß du uns verblüfft hast. Wir hätten dir am Allerwenigsten eine derartige Einsicht zugetraut. Wie es scheint, geht an dir doch kein so schlechter Herrscher verloren. Leider hat es erst eine Krisensituation gebraucht, damit es sich herausstellte. Um zu zeigen, daß wir dich in der Tat verstanden haben und wie sehr wir das individuelle Wesen des Menschen schätzen, erfüllen wir dir deinen Wunsch. Von diesem Moment an befinden sich alle Thorianer wieder in der Welt, aus der sie gekommen waren, und wir geben dir unser Ehrenwort, daß wir niemals wieder auch nur einen von ihnen in unser Reich holen werden. Bist du nun zufrieden, Dhelin?

»Danke«, sagte Felder, und seine Stimme war wieder so wie früher. »Mehr wollte ich von euch nicht. Und ich bevorzuge es, wenn ihr mich Felder nennt.«

Langsam merkte Keil, daß er wieder Luft bekam. Der Druck auf seinem Brustkorb und das Rauschen in seinen Ohren ließen nach, und er hatte nicht mehr das Gefühl, als tränke die Dunkelheit sein Leben. Er lag auf einem harten Holzboden, und das vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Jetzt hatte er eine Vorstellung davon, wie es war, wenn man starb. Irgendwie war er immer weniger geworden, ohne daß er wußte, was er dagegen hätte tun können. Jetzt ging es wieder etwas besser, obwohl er die Anwesenheit der Dunklen noch immer spürte. Über ihn beugte sich Morren und leuchtete mit seiner Hand.
»Geht es wieder?« fragte er. »Ich hätte nicht gedacht, daß ihr euer Leben im Licht derart wörtlich nehmt.«
Keil nickte. Zum Reden fehlte ihm noch die Kraft, wie auch dazu, sich über die Veränderungen um ihn herum zu wundern. Es war jetzt vielleicht etwas heller, aber viel angenehmer war diese Welt immer noch nicht. Da war immer noch dieses schreckliche Gefühl, daß es kein Leben außer ihrem gab. Wer waren die Dunklen?
Und was war mit Felder? Keil hatte alles, was geschehen war, gehört, aber erst jetzt begann er langsam, es auch zu begreifen. Sie hatten die Laute nicht bekommen, aber dafür möglicherweise Felder verloren.
Morren half ihm vorsichtig, sich aufzusetzen, und versuchte, ihm Felders Reif aus den Händen zu nehmen. Aber Keils Finger waren so verkrampft, daß es lange dauerte, bis er sie lösen konnte. Morren hielt ihm etwas Glattes, Längliches hin. »Hier, vielleicht hilft es dir.«
»Was ist das?« fragte Keil. Er hatte das Gefühl, diesen Gegenstand kennen zu müssen, aber dieses Ding sagte ihm nichts. Er umklammerte es, um wieder etwas zum Festhalten zu haben, und spürte, wie sich Löcher in seine Haut prägten. Es war seine Beinflöte! Man konnte darauf spielen! Vorsichtig setzte er die Flöte an die Lippen und blies ein paar Töne. Aber die Musik erklang nur in seinem Kopf. Sie schien das Instrument nicht verlassen zu können.
Hier gibt es keine Musik. Schade eigentlich. Aber spiele nur ruhig weiter. Es ist eine gute Vorbereitung für das, was auf dich zu kommt.

»Ihr müßt keine Angst haben«, sagte Lonnìl, der bei Schwinge kniete und ihr etwas Wasser gab. Sie wehrte ihn nicht ab »Es wird alles wieder gut. Geht es so?«
Keil sah auch, wie Morren bei Felder stand und mit ihm redete. Er spitzte die Ohren, um zu hören, was sie sagten.
»Was hast du getan?« fragte der Zauberer.
»Frag lieber, was sie getan haben. Ich bin hereingelegt worden«, murmelte Felder und starrte ins Leere, durch Keil hindurch.
»Das meine ich nicht. Ich habe gesehen, wie du gegen die Dunklen verloren hast, und das wundert mich auch nicht im Geringsten. Aber hinterher - was du dann gesagt hast, über die Freiheit des Volkes. Solche Reden kommen allenfalls von Lonnìl, aber doch nicht von dir! Warum hast du immer so sehr damit kokettiert, ein vollkommen unfähiger Herrscher zu werden?«
»Weil es stimmt!« erwiderte Felder ärgerlich. »Und ich wäre dankbar, wenn ihr es mir nicht immer wieder unter die Nase riebet. Was ich gerade gesagt habe, hat nichts mit königlicher Fähigkeit zu tun. Das war nur Gerede, und reden kann ich gut. Aber man wird kein guter König davon, daß man gute Reden hält. Das war nur ein Mittel, um mein Volk frei zu bekommen. Darum habe ich auch alles etwas vereinfacht. Das Volk ist überhaupt nicht frei, jedenfalls nicht alle. Aber es hätte mir meine eigenen Argumente kaputtgemacht, wenn ich denen etwas von Gefangenen, Leibeigenen und Ehefrauen erzählt hätte, nicht wahr? Wie auch immer, es hat funktioniert, und meine Leute sind auf freiem Fuß. Mehr wollte ich nicht.«
»Es hat mich trotzdem beeindruckt«, sagte Morren.
Uns ebenfalls.
Die Dunklen lachten. Sie hatten das Gespräch natürlich mitverfolgt. Du hast deine Sache dennoch gut gemacht, Dhelin. Dein Volk ist frei für alle Zeit. Freier, als du es jemals wieder sein wirst.
Felder antwortete nicht. Immer noch ins Leere blickend, hockte er sich langsam auf den Boden, nahm ein paar Würfel aus der Tasche und ließ sie gedankenverloren über die Boden rollen. Sicherlich brauchte er mehr Zeit als die anderen, um zu begreifen, was passiert war. Morren merkte, daß der Mensch allein sein wollte, und kam wieder zu Keil hinüber, um ihm aufzuhelfen.

»Kann ich einen Moment lang allein sein?« fragte Felder. »Ich würde gerne etwas durch die Gänge hier laufen, um in Ruhe ein paar Gedanken zu fassen und mir klar zu werden, was hier überhaupt los ist. Oder habt ihr etwas dagegen?«
Ganz im Gegenteil
, sagten die Dunklen. Wir finden, es ist eine gute Idee, wenn du dich mit der Situation hier anfreundest.
»Ich bräuchte aber etwas Licht dazu.« Felder ging zur nächsten an der Wand befestigten Fackel und nahm sie. »Darf Morren sie mir anzünden?«
Selbstverständlich. Es soll dir an nichts mangeln.

»Danke«, sagte Felder und nahm die brennende Fackel in Empfang. Dann trat er langsam wieder in die Mitte der Halle. Es gab etwas, das er sein ganzes Leben lang hatte tun wollen, und jetzt war der Moment dafür gekommen. Er lachte leise in sich hinein. Niemand ahnte, was er vorhatte.
Mit der freien Hand löste er die Feldflasche von seinem Gürtel und zeigte sie grinsend den anderen. Als er den Korken mit den Zähnen entfernte, sah er, wie Morren entnervt das Gesicht verzog. Auch das freute ihn. Nicht einmal der Zauberer, der sonst immer vorgab, Gedanken lesen zu können, kannte seine Absichten. Den Rest machte Felder so schnell, daß niemand mehr hätte eingreifen können. Er schüttete den Inhalt der Flasche auf den Fußboden und ließ die Fackel fallen. Wenn das trockene Holz noch nicht von selbst gebrannt hätte, so trug der Schnaps seinen Teil dazu bei. Der Boden brannte wie Zunder. Von der Burg würde nur noch die Grundmauern übrigbleiben. Es hatte Felder schon seit Jahren in den Fingern gejuckt, sie abzufackeln, aber irgendwie hatte er zu große Skrupel gehabt wegen all den Leuten, die sich immer darin aufhielten. Nun war die Burg leer, und niemandem würde etwas passieren. Felder trat einen Schritt zurück, um das Schauspiel zu genießen, solange er noch Boden unter den Füßen hatte und durch den Rauch atmen konnte.
Die anderen schrien entsetzt auf, als sich die leuchtendroten Flammen auf sie zu bewegten. An sie hatte Felder überhaupt nicht mehr gedacht. Aber Morren würde schon dafür sorgen, daß niemand verbrannte. Er konnte gut mit Feuer umgehen. Felder sah zu, wie das Feuer nun auch auf die Wandbehänge übergriff, und lachte. Aber er lachte nicht allein.
Welch entzückendes Schauspiel
, sagten die Dunklen. Aber nun ist es genug.
Die Flammen erstarben lautlos. Zurück blieb ein Fußboden, der nicht einmal versengte Stellen hatte, und die Fackel, die sich wieder in Felders Hand befand, ohne daß er sagen konnte, wie sie dort hingekommen war.
Wie unachtsam von dir, sie einfach fallenzulassen. Paß besser auf sie auf bei dem kleinen Spaziergang, den du doch machen wolltest.

In den Gesichtern seiner Freunde stand keine Erinnerung daran, daß sie gerade um ein Haar verbrannt wären, weder Ärger noch Erleichterung. Es war, als hätte es nie ein Feuer gegeben. Felder seufzte und wollte einen Schluck aus seiner Flasche nehmen, aber die war leer.
Er zuckte die Achseln, hielt die Fackel so, daß sie ihm gut leuchten konnte, und verließ die Halle. Es war wahrscheinlich wirklich das Beste, ein wenig für sich zu sein. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er sich gerade beinahe selbst umgebracht hätte. Aber der Gedanke machte ihm keine Angst. Er war schon oft genug beinahe gestorben und hatte doch immer überlebt.
Eigentlich brauchte er nicht einmal die Fackel. In der Burg hätte er sich sogar blind, im Schlaf oder volltrunken zurechtgefunden. Zumindest mit letzterem hatte er ausreichend Erfahrung. Es gab kaum einen langweiligeren Ort als diese Burg. Felder hatte nichts gegen Thoria. Das Land war ihm einfach nur gleichgültig. Aber die Burg hatte er schon immer gehaßt. Sie war wie ein Gefängnis. Wenn er dort war, versuchten alle, ihm Vorschriften zu machen, wie er sein Leben zu gestalten habe, welche Frauen er traf und so weiter. Der einzige Weg, dem zu entgehen war sich zu betrinken. Dann wußten die Leute, daß es zwecklos war, ihm Befehle zu geben. Als ob er sie sonst befolgt hätte …
Erst jetzt merkte Felder, daß er dabei war, die Treppe zum Weinkeller hinunter zu steigen. Hier war er oft gewesen. Natürlich gab es eigentlich genug Diener, um ihm Getränke zu bringen, ganz abgesehen vom königlichen Mundschenk, dessen Lebensaufgabe aus nichts anderem bestand, aber Felder war einfach gerne dort unten. Der Kellermeister gehörte zu den Leuten, mit denen er sich ganz gut verstand. Er hatte immer gute Laune, wenn ihn jemand besuchen kam, und Lust auf ein kleines Würfelspielchen. Außerdem mochte Felder den Gedanken, daß niemand eine Ahnung hatte, wo er war und die Leute vielleicht stundenlang vergeblich nach ihm suchten. Niemand erwartete, daß der Prinz selbst in den Keller ging.
Morren hätte vermutlich überhaupt nichts mehr gesagt, wenn er gewußt hätte, welche Mengen Felder in der Burg in sich hinein schüttete. Hier wäre tatsächlich noch ein Säufer aus ihm geworden. So aber war er nur in Morrens Augen einer. Aber was passierte? Kaum er war wieder hier, führte ihn sein erster Weg in den Weinkeller.
Einen Moment lang vergaß Felder, wieso er überhaupt wieder in Thoria war. Erst, als er sich wunderte, warum der Kellermeister nicht da war und warum er auch sonst niemanden auf seinem Weg getroffen hatte, wurde ihm wieder seine Situation bewußt. Er fragte sich, woran sein Vater wohl gestorben war. Vielleicht hatte ihn endlich der Schlag getroffen. Oder er war krank geworden. Innerhalb von zwei Jahren konnte vieles passieren. Und er war auch schon alt gewesen.
»Hättest du dir nicht noch etwas Zeit lassen können?« murmelte Felder. »Zumindest bis ich, sagen wir mal, dreißig gewesen wäre? Oder fünfunddreißig?«
Jetzt ist es zu spät, um noch etwas zu ändern.

Hatte er etwa geglaubt, allein zu sein? Die Dunklen waren überall. Die ganz Burg war voll von ihnen. Es war kalt. Einzig die Fackel verbreitete ein wenig Wärme. Aber innerlich fühlte sich Felder wie eingefroren.
»Ich bin nicht wirklich in Thoria, oder?« fragte er.
Du bist in Thoria. Aber Thoria ist jetzt hier.

»Ich verstehe. Laßt mich in Ruhe.« Er wollte keine weiteren Gedanken daran verschwenden, was dann an der Stelle war, an der Thoria vorher gelegen hatte. Es war besser, wenn er das nicht wußte.
Felder fühlte sich merkwürdig. Nicht schwermütig - das war er schon lange nicht mehr gewesen - aber irgendwie leer, ausgebrannt. Hier konnte er nicht bleiben. Er würde gleich zurückgehen zu den anderen, und dann mußten sie irgendwie zusehen, daß sie wegkamen, auch ohne die Laute. Es störte Felder noch immer, daß er sie nicht gewonnen hatte. Vielleicht hätte er nicht versuchen sollen, zum so ziemlich ersten Mal in seinem Leben ehrlich zu spielen. Aber die Dunklen hätten es sofort gemerkt, wenn er betrogen hätte. Sie hatten sicher nur darauf gelauert.
Nie wieder Thoria. Nie wieder die Burg. Aber Felder würde sich ein paar Andenken mitnehmen. Vielleicht ein paar frische Kleider. Er konnte ein neues Hemd brauchen, und natürlich etwas Geld - nicht zuviel, schließlich mußte er es selbst tragen. Vor allem aber brauchte er etwas zu trinken. Schließlich befand er sich genau am richtigen Ort. Felder sah sich suchend um und überlegte, in welchen Fässern sich der königliche Wein befand. Er wollte nicht aus Versehen das Gesöff erwischen, von dem die Diener und Höflinge tranken. Außerdem mußten doch irgendwelche leeren Weinschläuche herumliegen. Krüge waren unmöglich zu transportieren, und in seine Feldflasche ging nicht genug hinein. Endlich hatte er gefunden, was er suchte. An dieser Stelle hatte immer das Faß gestanden, aus dem sich der Kellermeister immer selbst bediente. Folglich mußte es den Wein enthalten, der für Angehörige der königlichen Familie und ihre Gäste reserviert war. Aber bevor Felder seinen Schlauch füllte, war es vielleicht besser, wenn er zuerst ein Becher voll probierte. Innerhalb von zwei Jahren konnte der ganze Keller umgeräumt werden.
Im Schein der Fackel, die er an der Wand befestigt hatte, sah der Wein ganz normal aus, rot und dunkel. Aber er roch nicht so, wie er sollte. Felder nahm einen Schluck.
Im nächsten Moment spuckte er aus. Sein ganzes Leben lang hatte er noch nie einen derart widerwärtigen Geschmack erlebt. Was immer das war - Wein war es keiner. Es war nicht sauer oder schal, sondern unbeschreiblich bitter und noch etwas anders, das er nicht beschreiben konnte oder wollte. ‘So schmeckt der Tod’, schoß es ihm durch den Kopf, bevor er es verhindern konnte. Und egal, wie sehr er auch schluckte und hustete, er wurde den Geschmack des klebrigen Gebräus nicht mehr los. Ein Hauch von ihm blieb zurück.

Und so kehrt der verlorene Sohn heim zu den Hallen seiner Väter, höhnten die Dunklen, als Felder mit bitterer Miene zu ihnen zurückkam. In seiner Hand hielt er ein undefinierbares Bündel, und er taumelte leicht. Lonnìl vermutete, daß er getrunken hatte.
Welch ein erhebender Anblick. Nimm Platz auf dem verwaisten Stuhl, Dhelin, und walte deines neuen Amtes. Deine Krone liegt bereit.

»Ich denke überhaupt nicht dran!« brüllte Felder und ließ sein Bündel fallen. »Ihr werdet uns gehen lassen, und zwar sofort!«
Warum sollten wir das tun?

»Ihr meint, trotz allem, was ihr getan habt, bin ich hier immer noch König? Also gut. Als König befehle ich euch, uns gehen zu lassen.«
Gutes Argument. Aber es zieht nicht. Du bist zwar unser König, nicht aber unser Herrscher. Warum möchtet ihr schon fort?

»Ich habe gesehen, was ihr aus der Burg gemacht habt! Sie ist tot! Alles hier ist tot! Sogar der Wein ist tot! Aber wir leben, und wir gehören nicht hierher. Die Elfen haben eine Aufgabe zu erledigen. Ihr behauptet, wie sie zu den Hohen Völkern zu gehören. Warum hindert ihr sie dann? Und mein Freund Lonnìl ist verliebt. Wollt ihr, daß seine Liebe hier stirbt, wie alles?«
Aber es ist schön, auch ein wenig Liebe und Leben hier zu haben. Es gefällt uns ausgesprochen gut.

»So, es gefällt euch?« tobte Felder. Er stürzte auf Lonnìl zu und riß ihm das Schwert aus dem Gürtel, hinter den er es provisorisch gesteckt hatte. »Leben wollt ihr? Wenn ihr uns zwingt, hier zu bleiben, dann töte ich uns alle, selbst Morren, wenn es ein muß. Ihr werdet kein Vergnügen an unserem Leben haben!«
»Felder, sei still!« rief Morren durchdringend. »Mach keinen Unsinn!«
»Wenn wir hierbleiben, sterben wir so oder so! Besser schnell als langsam, sage ich immer! Falls ihr es noch nicht gemerkt habt, Dunkle, ich bin ein mindestens so guter Erpresser wie ihr!« Felder lachte schrill.
Morren war plötzlich bei ihm, ohne daß Lonnìl eine Bewegung bemerkt hätte, und hielt das Schwert fest, als ob die Klinge ihn nicht schneiden konnte - was sie auch wirklich nicht tat.
»Sei still!« warnte er noch einmal. »Du weißt nicht, was du sagst. Du bist betrunken.«
»Das bin ich nicht!« brüllte Felder. »Ich wünschte, ich wäre es, aber ich trinke keinen toten Wein. Gib mir das Schwert wieder!«
Aber Morren hatte ihn bereits die Waffe entwunden und es ließ sie mit einem gezielten Tritt über den Boden zu Lonnìl schlittern, der sie eilig aufhob. Felder war nicht mehr wiederzuerkennen.
Er hat recht
, sagten die Dunklen. Im Moment ist er wirklich nüchtern. Aber wir finden ihn trotzdem ganz amüsant. Es ist immer nett, jemanden zu haben, mit dem man spielen kann.
»Dann habt ihr das mit ihm gemacht!« sagte Morren.
Natürlich. Du weißt doch selbst, was für einen Spaß es macht, andere zu manipulieren. Hast du schon einmal einen Menschen Amok laufen lassen?

»Es tut mir leid, aber das muß sein.« Morren berührte Felder kurz mit zwei Fingern an der Schläfe, woraufhin dieser ohnmächtig zu Boden sank. »Das Spiel ist aus. Wenn er wach wird, kann er sich an nichts mehr erinnern, und das ist auch gut so. Sucht euch einen Gegner, der euch gewachsen ist!«
Den gibt es nicht. Es tut uns leid, dir deine Illusionen rauben zu müssen, Freund Morren, aber keiner von euch reicht an unsere Macht heran. Möchtest du uns herausfordern?

»Ja, das will ich,« sagte Morren ruhig. Er streckte seinen Arm hoch über den Kopf, und im nächsten Augenblick war er ganz in eine Wolke aus Licht gehüllt. »Meine Macht gegen eure.«
Wir lehnen ab. Was du uns bieten möchtest, ist der uralte Kampf der Kräfte des Lichts gegen die Kräfte der Finsternis. Wir sind die Finsternis, das ist richtig. Und wir kämpfen gegen das Licht. Aber du bist nicht das Licht. Du bist ein Zauberer. Und falls du vergessen haben solltest - Zauberer sind neutral. Ihr seid die Grauzone zwischen Licht und Dunkelheit. Und wir werden nicht gegen dich kämpfen. Geht jetzt. Eure Suche ist noch nicht beendet. Die Feen wissen von eurem Kommen. Sie warten auf euch. Und falls es dich interessiert: Die Feen sind die Kräfte des Lichts, wenn es überhaupt so etwas gibt. Viel Vergnügen mit ihnen.

»Soll das heißen, ihr laßt uns gehen?« fragte Morren erstaunt.
Das tun wir. Du hast gut daran getan, uns an unsere Aufgabe, den Kampf gegen das Licht, zu erinnern. Wir haben unsere Runde gewonnen. Es wird sich zeigen, wie das Rückspiel ausfällt. Steh auf, Dhelin.

Felder rührte sich und richtete sich wieder auf.
»Na prima«, sagte er, während er das aufgeplatzte Kleiderbündel wieder zusammenklaubte. »Jetzt bin ich auch noch hingefallen. Mir bleibt heute wirklich nichts erspart.«
Stell dich zu deinen Freunden. Versammelt euch in der Mitte dieser Halle.

Felder tat, wie ihm geheißen, und Lonnìl trat schnell zu ihn hinüber, um ihn bändigen zu können, sollte er ein zweites Mal durchdrehen. Vor ihnen erschien ein Lichtfleck. Es sah aus, als ob der Raum, in dem sie sich befanden, einen Riß bekommen hätte. Aus diesem Riß drang ein Leuchten, so hell, daß Lonnìl geblendet die Augen schloß. In seinem Kopf dröhnte das Lachen der Dunklen.
Dies ist euer Tor. Es führt euch direkt in eure geliebte Welt. Durchschreitet es, einer nach dem anderen … wenn ihr könnt. Die Alifwin zuerst. Du, Dhelin, gehst als letzter.

Keil und Schwinge blickten sich an. Dann nickte Schwinge, umfaßte ihr Jagdmesser und ging auf den Riß zu. Das Licht hüllte sie ein, und sie war verschwunden. Keil folgte ihr, etwas zögerlicher, aber dann war auch er hindurch.
»Jetzt du, Lonnìl«, sagte Morren.
»Ja, gut«, sagte Lonnìl. Er schloß die Augen, aber er spürte das Licht auch so. Auf der anderen Seite war Schwinge. Jetzt mußte er ihr nur folgen.
Als er die Augen öffnete und die Helligkeit ihn nicht mehr so stark blendete, erkannte er, daß sie in einem Wald standen. Keil und Schwinge schienen beide wohlauf zu sein. Aber von Morren und Felder war noch nichts zu sehen. Lonnìl schüttelte den Kopf, um die letzten Schatten der Dunkelheit zu vertreiben. Jetzt, wo sie entkommen waren, kam es ihm mehr wie ein böser Traum vor. Die Sonne schien warm, Vögel sangen, und der Geruch nach Erde und Blumen lag in der Luft. Noch nie zuvor hatte Lonnìl seine Umgebung derart intensiv wahrgenommen. Er konnte nicht anders, als vor Glück zu lachen und Schwinge in seine Arme zu schließen.
»Ich habe dir doch gesagt, daß alles gut werden wird!«
Sie entwand sich seinem Griff, aber auch sie schien zu glücklich, um ihn jetzt ihren Haß spüren zu lassen. Noch nie zuvor hatte Lonnìl sie derart befreit lächeln sehen. Es machte sie noch schöner, als sie ohnehin schon war. Keil hatte die Silberflöte an die Lippen gesetzt und spielte eine fröhliche Melodie, die im Sonnenlicht zu tanzen schien.
Dann kam Morren. Er tauchte einfach aus dem Nichts auf. Der Riß war von dieser Seite nicht zu sehen.
»Ich wußte, daß sie uns früher oder später gehen lassen würden«, sagte er lächelnd. »Das war eine üble Überraschung. Bis zum heutigen Tag hatte ich nicht gewußt, daß es die Dunklen gibt, auch wenn ich es hätte ahnen müssen. Sie sind das fehlende Glied.«
»Haben die Dunklen die Hohen vernichtet?« fragte Keil und ließ die Flöte sinken. Morren schüttelte den Kopf.
»Nein. Es wird für euch unglaublich klingen, und ich kann es euch auch jetzt noch nicht erklären, aber die Dunklen sind wir ihr ein Hohes Volk, Kinder der Hohen. Deswegen wußten sie auch von den Instrumenten, und deswegen hatten sie die Laute.«
»Aber was sind die Dunklen? Warum konnten wir sie hören, aber nicht sehen?« fragte Lonnìl.
»Sie haben keine Körper«, antwortete Morren. »Sie sind das Dunkel selbst, konzentrierte Macht. Darum gibt es auch keine Einzahl von ihnen. Sie sind eine Einheit, ein Volk, aber sie haben die Kraft von vielen. Darum konnte keiner von uns sie besiegen, nicht einmal ich. Es gibt keine mächtigeren Einzelwesen als die Zauberer. Aber die Dunklen haben den größten Teil der Macht der Hohen geerbt. Der Preis dafür war, daß sie nicht in unserer Welt existieren können. Darum haben sie ihr eigenes dunkles Reich gewissermaßen ein Stück außerhalb. Aber man kann diese Entfernung nicht messen. Beide Welten liegen direkt nebeneinander, und doch sind sie so weit auseinander, wie … wie Licht und Dunkel, eben.«
»Ich frage mich, wo Felder bleibt«, sagte Keil.
Morren blickte ihn ernst an und öffnete den Mund, als ob er etwas dazu sagen wollte, aber in diesem Moment war Felder bei ihnen.
»Freiheit!« rief er und ging mit dramatischer Geste in die Knie. »Licht! Luft! Wie sehr ich mich danach gesehnt habe! Laß dich umarmen, Welt! Habe ich schon erwähnt, daß ich dich liebe?«
»Zeitverzerrung«, sagte Morren zu Keil. »Dort drüben gibt es keine Zeit, während sie hier weiterläuft. Wollen wir hoffen, daß wir nicht mehr als einen Monat verloren haben.«
Felder ließ von dem Baum, den er umarmt hatte, ab und blickte Morren an. Das Lachen starb in seinem Gesicht. Aber dann kehrte sein Grinsen zurück. »Selbst wenn hier die Zeit vergangen ist - wir sind doch keinen Tag älter als früher, nicht wahr? Also haben wir nicht wirklich Zeit verloren.«
Lonnìl kannte die Geschichten von jungen Männern und Frauen, die einen Tag bei den Unterirdischen verbrachten, und wenn sie am nächsten Tag an die Oberfläche zurückkehrten, waren siebzig Jahre vergangen. Er hoffte, daß dies nicht mit ihnen passiert war, und seine Freude wurde etwas gedämpft. Aber egal, wieviel Zeit auch vergangen war - sie alle lebten, und er konnte weiterhin in Schwinges Nähe sein.
»Mehr noch als die Frage, wann wir sind, interessiert mich im Moment, wo wir sind«, sagte Morren. »Die Dunklen haben sehr direkt gesagt, daß wir zu den Feen gehen sollen, und ich hoffe inständig, daß sie uns in Nähe des Th’enlathíels abgesetzt haben. Dies ist nämlich nicht die Gegend von Dolua’d’llán.«
»Was bitte ist der Th’enlathíel?« fragte Felder.
»Man nennt ihn auch den Feenforst«, erklärte Keil. »Es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem die Feen leben können. Ein Wald, um den sich viele Legenden ranken. Ich bin noch niemals dagewesen.«
»Ich schon«, sagte Morren. »Ein hübscher Wald, dagegen kann man nichts sagen, aber trotzdem nicht nach meinem Geschmack. Zu viele Feen. Und eine Begegnung mit den Feen kann mindestens so unangenehm sein wie das, was wir gerade durchgestanden haben.«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Felder.
»Ich denke trotzdem, daß wir dem Wink folgen sollten«, fuhr Morren fort. »Alles deutet darauf hin, daß die Feen die Harfe besitzen. Ich habe mir sowieso schon fast etwas in der Art gedacht. Es ist nur immer etwas problematisch, den Th’enlathíel zu finden. Man gerät hinein, wenn man es eigentlich nicht will, aber ich habe noch nie von jemandem gehört, den ihn gesucht und gefunden hätte. Der Feenforst selbst ist von dichten Wäldern umgeben. Gewissermaßen ist er das Herz des Waldes. Aber wenn die Feen uns tatsächlich erwarten, müßten sie uns auch zu sich kommen lassen. Und ich habe das Gefühl, daß dieses Gebiet hier bereits zu den angrenzenden Wäldern gehört. Meine Kugel kann mir da weiterhelfen.«
Nach einiger Zeit, die er über seinem Kristall gebrütet hatte, blickte Morren auf und lächelte siegesgewiß.
»Ich weiß, wo wir sind«, sagte er. »Und ich weiß, wo der Th’enlathíel ist, zumindest vage. Leider sind wir doch noch nicht in der direkten Nähe - so einfach wollten es uns die Dunklen wohl doch nicht machen. Aber es könnte weiter sein. Ich kenne den Weg. Folgt mir! Genauer gesagt: Folgt mir morgen früh. Heute ist zuviel geschehen. Schlagen wir das Lager auf.«
In seinem Leben hatte Lonnìl schon viele Lagerfeuer gesehen, aber dieses war das schönste und wärmste von allen. Eigentlich hätte er jetzt vollkommen glücklich und zufrieden sein müssen. Aber da war immer noch etwas, das an ihm nagte, und je länger er darüber nachdachte, desto stärker spürte er, daß es mit Felder zu tun haben mußte. Er hatte eine furchtbare Wut auf den Thorianer. Und plötzlich wußte er auch, woran es lag. Felder waren Lonnìls Blicke nicht entgangen, und er stellte ihn zur Rede.
»Was ist denn jetzt schon wieder los?« fragte er. »Was machst du für ein grimmiges Gesicht? Man sollte meinen, du wärst froh, daß wir es hinter uns haben. Wir sind lebendig, unversehrt, und du bist außerdem um ein formschönes, prächtig gearbeitetes Schwert reicher.«
»Darum geht es nicht«, knurrte Lonnìl.
»Nicht? Was hast du dann gegen mich? Hat es dir nicht imponiert, wie ich mit ganz untyrannischen Argumenten den Dunklen mein Volk abgeschwatzt habe? Wo bleibt mein Lob? Warum so grimmig?«
»Du hast mich angelogen«, sagte Lonnìl.
»Wie bitte?« fragte Felder perplex. »Wann? Jetzt?«
»Du hast behauptet, dein Name sei Felder. Und du hast niemals auch nur mit einem Wort erwähnt, daß du in Wirklichkeit ganz anders heißt! Und dann verlangst du, daß wir dir noch vertrauen?«
»Ich sehe das Problem nicht ganz«, sagte Felder.
»Du hast uns von Anfang an belogen«, wiederholte Lonnìl. Er konnte nicht einmal sagen, weswegen ihn gerade das jetzt so ärgerlich machte. Aber es war genau diese Unehrlichkeit, die ihn dazu bewegte, Felder das Schwert noch nicht wieder zurückzugeben. Es war zuviel Berechnung dabei gewesen, daß Lonnìl es sofort zurück schenken würde. Jetzt sollte Felder erst einmal sehen, wie er zurecht kam. Natürlich wollte Lonnìl das Schwert nicht für immer behalten. Aber es war an der Zeit, dem Prinzen eine Lehre zu erteilen.
»Ich habe dich nicht angelogen!« rechtfertigte sich Felder vehement. Er wirkte ernsthaft entrüstet. »Meinen Freunden gegenüber bin ich so aufrichtig wie gegen mich selbst, auch wenn sie das weder glauben noch schätzen. Ich habe niemals behauptet, mein Name wäre Felder. Was ich gesagt habe war, daß ich Felder bin, und das entspricht der Wahrheit.«
»Aber warum trägst du einen falschen Namen?« fragte Lonnìl. »Du reist vielleicht unerkannt, aber uns hast du gesagt, daß du ein Prinz bist. Warum dann nicht auch deinen wirklichen Namen?«
»Dhelin ist kein wirklicher Name«, erwiderte Felder. »Alle Könige von Thoria hießen so, seit über dreihundert Jahren. Dhelin, Sohn des Dhelin, Sohn des Dhelin, Sohn des Dhelin, und so weiter, bis hin zu einem, der Dhylan hieß, weil man damals noch anders geschrieben hat. Es bedeutet einfach nur Hauptmann, Anführer. Niemand hat mich je so genannt. Mein Vater ist … war Dhelin der Vierzehnte. Es hätte zu viele Verwechslungen gegeben, wenn man mich mit seinem Namen angeredet hätte.«
»Also hat man dich Felder genannt?« fragte Lonnìl.
»Nein. Man hat mich Prinz genannt. Gelegentlich auch Hoheit oder junger Herr. Es gehört sich nicht für Untergebene, jemanden wie mich mit Namen anzureden.«
»Aber wie haben dich deine Eltern genannt?«
»Meine Mutter hat mich gar nichts genannt. Sie ist bei meiner Geburt gestorben. Vielleicht war sie mit vierzehn noch etwas jung, aber mein Vater hatte es eilig. Immerhin war er schon über dreißig, und seine erste Frau hatte keine Kinder bekommen. Zu seinem style="mso-spacerun: yes"> Glück war sie am Fieber gestorben, so daß er dann meine Mutter heiraten konnte.«
»Und dein Vater? Wie hat er dich genannt?« fragte Lonnìl, den es bei dieser Gefühlskälte schüttelte, um schnell das Thema zu wechseln. Um die Toten trauerte man. Er würde seine Familie niemals vergessen. Und vor allem würde er niemals derart abfällig von ihr denken oder sprechen.
»Der hat mich auch gar nichts genannt.« Felder schnaubte verächtlich. »Nachdem ich da war und der Erhalt der Blutlinie gesichert, war die Sache für ihn gelaufen. Er hatte keine Verpflichtungen mir gegenüber. Familie funktionierte an meinem Hof anders als auf deinem. Ich war ihm egal und er mir. Falls du dich gefragt hast, warum mir sein Tod nicht nahezugehen scheint … es liegt daran, daß er mir tatsächlich nicht nahe geht. Ich habe immer gehofft, daß mein Vater so lange wie möglich lebt, aber nur, damit ich kein König werden muß. Und wie es scheint, komme ich jetzt selbst darum herum.« Er rieb sich mit einer fahrigen Geste die Haare aus der Stirn. Sicher lag es nicht nur an der Hitze des Feuers, daß er jetzt schwitzte. Man konnte es ihm nicht verübeln.
»Aber wer hat dich dann Felder genannt? Das ist doch kein Name.« Lonnìl stellte unglücklich fest, daß er das Gespräch in noch beklemmendere Bahnen gelenkt hatte, und versuchte, irgendwie zum Ausgangspunkt zurückzugelangen.
»Dazu komme ich jetzt.« Felder lachte erleichtert auf - dieses Thema schien auch ihm selbst lieber zu sein. »Als ich ungefähr dreizehn oder vierzehn war, fiel mir zum ersten Mal störend auf, daß ich eigentlich nichts zu tun hatte. Da war natürlich mein Unterricht, aber das meiste davon - dieser ganze politische Kram - war extrem langweilig, und ich wollte nicht für die nächsten zwanzig Jahre damit weitermachen. Und so fragte ich meinen Schwertmeister, was für Beschäftigungen es für einen Kronprinzen auf der Warteliste gibt. Tarnil, also mein Schwertmeister, überlegte kurz und sagte dann das erste, was ihm in seinen alten Soldatenschädel gekommen war: ‘Du könntest Feldherr werden’. Das war das, was alle von mir erhofften. Mein Vater war nie entsetzlich scharf auf Schwerter gewesen, aber ich konnte schon damals extrem gut damit umgehen, und alle Grafen und so hofften, daß ich einen großen Eroberungsfeldzug anführen würde, damit Thoria endlich auch ein Stück Küste bekommen kann. Wie auch immer, Tarnil ist zwar ein phantastischer Lehrer und, in meiner Abwesenheit, der beste Schwertkämpfer des Landes, und er hat wirklich eine Menge für mich getan, aber leider hatte er schon damals keine besonders deutliche Aussprache mit den paar Zähnen, die er noch hat. Jedenfalls begriff ich erst Jahre später, daß er wohl Feldherr gemeint haben mußte. Damals verstand ich nur Felder, und das klang so unsinnig, daß ich sofort zustimmte. Die unbegrenzten Möglichkeiten faszinierten mich. Und so wurde ich Felder. Seitdem bin ich glücklich.«
Lonnìl schüttelte ungläubig den Kopf. Da, wo er herkam, war es üblich, sich mit seinem Namen anzureden. Es war für ihn schwer vorstellbar, wieso es anders sein sollte. Schließlich war es das, wofür Namen da waren. »Und niemand hat dich jemals Dhelin genannt?«
»Niemand. Nein - laß mich nicht lügen. Eine Person gab es da schon, die mich so genannt hat. Eine ganz besondere Person.«
»Und wer war das? Eine deiner … Frauen?«
»Ja, so kann man es nennen«, sagte Felder und kicherte. »Das kann man so sagen. In der Tat. Es war meine Frau.«
Erst sehr viel später begriff Lonnìl, daß er damit nicht bloß eine weitere seiner Geliebten gemeint haben mußte. Aber da war die Gelegenheit, nachzufragen, längst vergangen.
Wenn Felder erwartet hatte, sein Schwert zurück zu bekommen, so erwähnte er das mit keinem Wort, ebensowenig, wie er über sein Abenteuer bei den Dunklen oder den Verlust Thorias sprach. Sein Hauptinteresse schien in erster Linie darin zu bestehen, auf dem nächsten Bauernhof seine Feldflasche aufzufüllen und das an Trinken nachzuholen, was er in den letzten Tagen versäumt hatte.
Zum ersten Mal erlebten sie ihn wirklich betrunken. Zunächst stieß er noch wüste Flüche gegen die Dunklen aus, aber dann wurde er still und zog sich immer weiter in sich zurück. Die Elfen beobachteten ihn mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu, aber Lonnìl konnte ihn, in Maßen, verstehen. Einen Verlust wie der, den Felder erlitten hatte, konnte niemand leicht verkraften, und auch wenn er den Tod seines Vaters herunterspielte und die anderen Ereignisse ignorierte, so mußten sie ihn in Wirklichkeit schwer getroffen haben. Gerade diejenigen, die viel redeten, hatten oft die größten Probleme, über ihre wirklichen Sorgen und Nöte zu sprechen. Felders Methode, sie herunterzuspülen, war sicher eine der gängigsten. Lonnìl fragte sich, was aus ihm selbst geworden wäre, wenn er sich nicht aufgemacht hätte, um die Tyrannen zu bekämpfen. Vermutlich wäre er an seinem Leid zerbrochen. Aber im Unterschied zu Felder mußte er sich nicht die Schuld an dem, was passiert war, geben. Natürlich konnte Felder nichts für den Tod seines Vaters, aber was mit Thoria passiert war … Niemand konnte wissen, was jetzt noch dort war. Lonnìl hoffte, daß die Dunklen ihr Wort gehalten und das Volk zurückgeschickt hatten. Aber wie würde das Land aussehen?
Felder selbst schien sich diese Gedanken nicht zu machen. Am nächsten Tag war er wieder so lustig und lebensfroh wie eh und je, wenn nicht sogar noch mehr. Keine Schuldfrage schien ihn zu bedrücken. Selbst sein Trinken hielt sich wieder in Grenzen. Aber es war nicht zu übersehen, daß diese jetzt weiter gesteckt waren als zuvor.
Was sich ebenfalls änderte, war der Unterricht, den er Lonnìl gab. Da dieser jetzt sein Schwert trug, hielt Felder es wohl für angebracht, ihm die Handhabung dieser Waffe beizubringen. Lonnìl sträubte sich zuerst, aber da er das Geschenk angenommen hatte, fehlten ihm die Argumente. Außerdem hatte er das Gefühl, daß Felder diese Lektionen brauchte, nicht nur, um sich überlegen fühlen zu können, sondern um sein Schwert benützen zu dürfen, ohne darum bitten zu müssen und sich die Blöße zu geben, daß er es nur aus Eigennutz verschenkt hatte. So kam es, daß Lonnìl, während sie zum Wald der Feen reisten, die ersten Grundzüge des Schwertkampfes lernte. Sie trainierten weiterhin früh am Morgen, weil dies Felder dazu zwang, aufzustehen, und er am Nachmittag nicht mehr unbedingt nüchtern genug war, um sinnvolle Erklärungen zu geben. Das sagte er selbst, und er hatte sicher recht damit. Alle Bemerkungen, die Morren zu dem Thema abgab - und der Zauberer sparte weiterhin nicht an Mahnungen - kommentierte er nur mit einem ungerührten Nicken. Lonnìl gab die Hoffnung auf, daß der Prinz sich jemals zum Guten ändern würde. Man konnte sich nur wünschen, daß es nicht noch viel schlimmer werden würde.
»Hat es eigentlich einen Namen?« fragte Lonnìl eines Abends, während er auf Felders Anweisung hin das Schwert putzte. Aus Sagen und Legenden kannte er Waffen, die große, phantastisch klingende Namen, wie Drachenschlitzer oder Silberflamme, hatten. Felder hatte zwar niemals etwas derartiges erwähnt, aber wenn er sich schon selbst umbenannt hatte, lag es nahe, daß es auch für sein Schwert eine andere Bezeichnung geben mußte.
Ein fast verträumter Ausdruck trat in Felders Gesicht, und er lächelte. »Selbstverständlich hat es einen Namen«, sagte er. »Es hat den besten Namen, den man einem Schwert nur geben kann, und der alles ausdrückt, was es für mich bedeutet.«
»Wie heißt es denn?« fragte Lonnìl. »Oder ist es geheim?«
Felder sah ihn an, und seine Augen glänzten. »Es gibt nur einen einzigen Namen für ein Schwert«, flüsterte er. »Es heißt Schwert

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