Wieviele Stufen noch vor ihm
lagen, wußte er nicht, und auch nicht, wieviele hinter ihm.
Zählen konnte er sie später immer noch, an einem anderen
Tag, wenn er nicht verfolgt wurde. Er sah immer nur das Stück
bis zur Biegung. Immer nur fünf Stufen. Das war gut. Was waren
schon fünf Stufen? Die konnte er schaffen.
Nach oben, nach oben, nach oben. Die Treppe nahm kein Ende. Aber
sein Herz hämmerte, und sein Kopf dröhnte. Es mochten nur
fünf Stufen sein, doch sie waren es zu oft. Er mußte
innehalten, einen Moment nur, sich an der Wand abstützen, und
verschnaufen. Alles drehte sich, auch als er still stand - die
Wendeltreppe wand sich durch seinen Kopf, ihm war schlecht,
schwindelig, die Knie zitterten, die Beine taten weh, und irgendwo
unter ihm war ein Dröhnen, waren Stimmen und Schritte. Zu weit
fern, um sie zu verstehen, doch er kannte sie, und er wußte,
was sie sagten. Sie wollten ihn aufhalten. Er durfte die Plattform
nicht erreichen. Aber wer waren sie schon? Was wußten sie
schon? Sie hatten ihm nicht entgegenzusetzen.
Er rannte weiter, nach oben, in endlosen Kreiseln, vielleicht
etwas langsamer als vorher: Der Turm verlangte Tribut, er
ließ sich nicht so leicht besiegen. Der Turm war sein
eigentlicher Gegner.
Je höher er kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Das
Schwindelgefühl ließ nach, aber die Kopfschmerzen
blieben. Wieder fünf Stufen, und wieder fünf, bis er
endlich hinaustrat auf die Plattform, als Sieger.
Unter ihm lag die Stadt, so klein, so friedlich, freundliche helle
Häuser, ihre Mauern im Licht fast weiß, arglos und
unschuldig. Unten in den Straßen bewegten sich Punkte, die
Menschen sein konnten oder Schweine - von hier oben war es gleich,
und es machte keinen Unterschied. Er blickte nicht lange hinunter,
er wollte sich aufrichten können, frei atmen. Ein Wind wehte
hier oben, den man unten nur erahnen konnte, kühl und frisch.
Er fuhr ihm durch durch das Haar und ins Gesicht. Es war fast
angenehm, und fast ein Grund zum Bleiben, aber es änderte
nichts daran, daß seine Verfolger auf der Treppe waren und
der einzige Weg, ihnen zu entkommen, der Schritt über die
Brüstung war. Ein Schritt nur, und alles hatte ein
Ende… Aber das war zu schnell, und zu früh, und zu
einfach - das wollte er nicht. Er war aus einem anderen Grund hier
oben.
Seine Hände wanderten zu dem Band um seinen Hals, und zu dem
Talisman, der daran hing. Plötzlich mußte er
lächeln. Er wußte, was er tat. Er war nicht aufgeregt,
nicht einmal mehr erschöpft. Seine Finger waren ganz ruhig,
langsam und selbstsicher, als sie sich um den schmalen Lederriemen
legten. Das Band spannte sich, es nahm ihm ein letztes Mal die Luft
- und dann, mit einem Ruck, auf den er sich vielleicht sein ganzes
Leben lang gefreut hatte, riß das Band. Er war frei.
Triumphierend reckte er den Arm hoch, hielt das Band mit seinem
Anhängsel in den Wind, und ließ los. Der Talisman tanzte
davon, wohin, niemand mußte es wissen. Einen Moment lang
folgten seine Augen dem Wind. So weit konnte man von hier oben
schauen, über das ganze Land und weiter, dorthin, wo die
Ränder dunkel wurden und nichts war als eine Ahnung von
Finsternis, weit, weit fort - doch er schaute nicht länger in
die Ferne. Er schaute nach unten, und dann begann er zu lachen,
laut und schallend, daß es in jedem Winkel der Stadt zu
hören sein mußte.
Ja, die Stadt. Eben noch so hell, so friedlich, so unschuldig im
Licht. Doch eben war vergangen. Quer über die
Straßen und Dächer, die Punkte, Menschen und Schweine,
lang und fremd und dunkel, fiel sein Schatten.
Er hatte gesiegt.
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