Erstes Kapitel

Als Nomi erwachte, roch er Rauch. Reglos blieb er liegen, ohne auch nur die Augen zu öffnen. Er wußte, was das bedeutete. Der Rauch war nicht draußen. Er war in Nomis Zimmer. Oder zumindest im gleichen Zimmer wie Nomi, wo immer das sein mochte. Nomi erinnerte sich nicht. Aber auch das kannte er inzwischen. Ein Geräusch hinter ihm, ein Schrei, er versuchte noch, herumzufahren - und dann wurde es um ihn herum dunkel, bis er sich am Ende irgendwo wiederfand. Meistens in seinem Bett, aber nicht immer.
Nomi atmete tief durch, der Geruch des Rauchs störte ihn weniger als die Tatsache, daß er da war, und genoß hinter geschlossenen Lidern das letzte Bißchen Dunkelheit, das ihm noch blieb. An manchen Tagen war das Licht einfach zu hell, und dieser gehörte dazu. Nomi wollte das Dunkel nicht bekämpfen. Umarmen wollte er es, tief darin eintauchen und nie wieder hervorkommen müssen - und dann mußte Nomi lächeln, und damit verriet er sich.
»Nomi kommt wieder zu sich.«
»Dann ist es Zeit.«
»Aber seid nicht zu hart mit ihm! Es ist nicht seine Schuld, was geschehen ist!«
»Sorgt Euch nicht. Wir wissen, wessen Schuld es war.«
Nomi seufzte bei sich. Sie waren mindestens zu viert - Vater, Mutter und zwei Wirker, und zumindest auf seine Mutter hätte er nun gut und gerne verzichten können. »Ich bin wach. Ihr könnt gerne mit mir reden statt nur über mich.« Seine Stimme klang zu langsam und zu müde, um ihm zu gefallen. Die Lähmung ließ nur langsam nach. Es tat nicht weh, hinterließ nur ein schläfriges, friedliches Gefühl, aber das war keine Entschuldigung.
Niemand ging auf ihn ein. »Eines Tages wird er sich selbst dafür verantworten müssen«, sagte der Mann, den Nomi für einen Zweiten Wirker hielt. Eigentlich kannte er längst alle Wirker von Tolai, aber Nomi machte sich nicht die Mühe, ihre Namen zu lernen. Wenn er sie traf, lag er ohnehin meist reglos auf dem Rücken - das war keine Grundlage, um Freundschaften zu schließen. Der Erste Wirker war Meister Hemon, und wer ihm assistierte, konnte Nomi letzten Endes egal sein.
»Aber wenn es doch nicht seine Schuld war?« Wenn jemand jetzt - sofort - Nomis Mutter vor die Tür setzte, mußte er das noch selbst übernehmen!
Der Zweite Wirker schnaubte. »Wenn er so weiter macht, gehen Euch bald die Schuldigen aus.«
Nomi hatte genug. Er öffnete die Augen, setzte sich auf, unter Einsatz seines ganzen Willen, und erhob sich. »Ihr findet mich draußen«, sagte er und wußte, daß ihm ohnehin niemand zuhörte. »Offenbar braucht ihr mich hier ja nicht.«
»Du bleibst!« Es war das erste ‘Du’ an diesem Tag, und es kam aus dem Mund von Meister Hemon. »Du rührst dich nicht, als bis wir es dir gestatten!«
Nomi lachte. Er hob den linken Arm und ließ ihn wieder sinken, dann sein rechtes Bein, er wackelte mit dem Kopf und freute sich an den Bewegungen, die sein Schatten auf die Wand warf. »Sonst?« fragte er grimmig. »Sonst was?« Er machte zwei Schritte zur Seite, zog den Schatten mit sich, daß er über die Wand glitt - noch ein Schritt, und eine Drehung zur Seite. Der Schatten fiel auf Nomis Mutter.
Sie schrie nicht, auch wenn Nomi damit fast gerechnet hatte, aber sie erbleichte, und erst ihre Augen - dieses Entsetzen, diese Furcht, diese Anklage! Eben noch flehte sie die Wirker an, ihren unschuldigen kleinen Nomi zu verschonen, im nächsten Moment sah sie ihn an, als ob er gerade versuchte, sie umzubringen - sie war so falsch, daß Nomi nicht einmal mehr lachen mochte. Er blickte zu Boden und trat wieder beiseite, gab sie wieder dem Licht preis, dem sie gehörte, in dem sie in Sicherheit war…
»Ich denke, du gehst jetzt besser«, sagte er tonlos. »Ihr könnt alle gehen, bis auf die Herren Wirker - niemand von euch wird hier benötigt.« Er nannte keine Namen, doch er blickte von seiner Mutter zu seinem Vater, und wieder zurück, so lange, bis die beiden ihm gehorchten. War das Hass in ihren Augen? Nomi hielt das Bild fest in seinem Gedächtnis. Wenn es wirklich Hass sein sollte, dann war es das erste Mal in seinem Leben, daß diese beiden wahrhaftig zu ihm waren.
Dann war er mit den beiden Wirkern allein. Die Zeit war vorbei, seit sie ihm Angst eingeflößt hatten mit ihren bestickten weißen Roben, nichts an ihnen war mehr geheimnisvoll; Nomi wußte, was sie konnten und wo ihre Grenzen lagen. Und sie wußten es auch.
Mit ausgestreckten Händen ließ Nomi sich langsam zu Boden sinken und setzte sich hin. »Worauf wartet ihr noch?« fragte er. »Tut, wofür ihr gekommen seid, bannt mich, ich kann es kaum abwarten.«
Meister Hemon schüttelte den Kopf. »Wir bannen dich nicht, Nomi, das weißt du. Wir reinigen dich.«
Nomi nickte. »Mit Bannrauch, ich weiß. Es heißt nicht Reinigungrauch, nicht wahr? Ich weiß auch, was dann kommt. Ihr legt mir ein neues Halsband an.«
»Einen Schutztalisman«, verbesserte ihn der Wirker.
Nomi legte den Kopf schief. »Was euch schützt, nicht mich… Aber tut es. Ich lasse euch gewähren.« Er lächelte. »Solange ich weiß, wie schnell ich ihn mir wieder herunterreißen kann, könnt ihr euch die Zähne an mir ausbeißen. Ihr kommt nicht einmal bis zur Tür, dann dürft ihr schon wieder von vorne anfangen.«
Die beiden Wirker blickten einander an. Dann sagte Hemon: »Du läßt uns wenig Wahl, Nomi, und das ist traurig.«
Nomi machte sein bedauernstes Gesicht. »Wie schade. Ihr laßt mir auch keine. Und habt mir nie eine gelassen.«
»Wenn du dich sprechen hören könntest, würdest du dich schämen«, sagte der Zweite.
»Oh, ich höre mich gut«, erwiderte Nomi. »Und bin weit davon entfernt, mich zu schämen. Meine Mutter lügt, wenn sie sagt, mich trifft keine Schuld.« Jeder log, das wußten sie alle drei. Und Nomi wußte, der nächste, der jetzt gleich den Mund auftat, würde ebenfalls lügen.
»Deine Mutter liebt dich«, sagte der Meister Hemon. Wie recht Nomi doch hatte! »Sie will dich beschützen. Jeder hier will nur das beste für dich, und wie dankst du es ihnen?«
»Ich danke ihnen, indem ich meinen Schatten behalten will«, sagte Nomi ernst. »Ich mag ihn. Er ist ein Teil von mir. Er gehört zu mir, und niemand hat mich je gefragt.«
»Und auch wir fragen dich nicht«, sagte der Zweite Wirker ruhig. »Wir tun unsere Pflicht, damit du deine tun kannst.«
Nomi mußte fast zugeben, daß ihm der Mann gefiel. Er war schroff und unfreundlich, und anders als Hemon verzichtete er darauf, mit jedem Sarz zu nicken und dabei weise zu lächeln. Aber er war noch jung. Früher oder später begannen alle Wirker zu lächeln. Es mußte am Rauch liegen, der verwirbelte ihnen mit den Jahren die Gehirne. Kavi, einer von Nomis Freunden oder zumindest einer von denen, die sich dafür hielten, sagte immer, der Zweite Wirker war nur dazu da, um zu verhindern, daß der Erste immer gegen Wände lief - und er war einer, der es wissen sollte.
»Fangt ruhig an«, sagte Nomi. »Bringen wir es hinter uns. Wenn ich hinterher vielleicht ein Wort mit euch wechseln könnte?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe kein Interesse daran. Du machst uns schon genug Arbeit.«
»Wenn das alles ist, was ich für euch bin - Arbeit?« Was erwartete Nomi? Wenn er so fragte, forderte er nur weitere Lügen heraus. Jede Frage rief nach einer Lüge… »Ich wollte euch ein Angebot machen, weiter nichts.«
Hemon senkte mitleidig den Blick. »Nomi, Verhandeln hilft dir nichts. Du bist nicht du selbst. In diesem Moment spricht nur dein Schatten aus dir, und du weißt selbst nicht, was du redest. Sei ruhig und schau mich an, dann hast du es bald überstanden und darfst wieder mit deinen kleinen Freunden spielen gehen.«
Der Mann wurde alt und merkte nicht, daß dies auch für Nomi gelten mußte - für was hielt er ihn, für ein Kind? Nomi widersprach nicht mehr. Es hatte alles keinen Sinn. Seinen Handel konnte er auch vergessen, zumindest für den Moment, bis die Wirker ihren Bann gewoben hatten - eine Phase in Freiheit, war das zuviel verlangt? Eine Phase nur, und Nomi wollte dafür brav und folgsam sein und tun, was man von ihm verlangte? Aber wenn sie nicht wollten - dann wollte auch Nomi nicht. War ja nur ein Angebot.
Widerstandslos ergab sich Nomi seinem Schicksal, als Meister Hemon die langstielige Pfeife hervorholte und entzündete.

Mit tiefen, gleichmäßigen Zügen atmete Nomi den Rauch ein, während er gebannt und reglos auf das Symbol vor ihm starrte. Der Bannrauch zog durch seinen Kopf und machte ihn gleichgültig für das, was um ihn herum geschah, alles war dumpf und wattig - früher gefiel ihm das sogar ganz gut. Als kleiner Junge legte er es noch darauf an, gebannt zu werden, nicht aus Trotz, nicht um die Erwachsenen zu ärgern - er holte seinen Schatten hervor, weil er den Bannrauch mochte. Damals war alles noch so einfach, und sein Schatten war böse, und wenn er gebannt wurde, konnte Nomi sich freuen, weil das Licht über das Dunkel triumphiert hatte. Vielleicht hätte der gute Meister Hemon damals mehr Rauch benutzen sollen, damit der seinen Dienst an Nomis Hirn tat und ihm dieses kindliche Vergnügen für alle Zeit erhalten blieb… Aber es half nichts, auch nicht, daß die Jungen von Kavis Meister Rauch und Peife stahlen und sich nichts schöneres vorstellen konnten, als hinterher über ihre eigenen Füße zu stolpern: Nomi wurde älter, er wurde klüger, und er haßte es, gebannt zu werden. Er haßte es vorher, und er haßte es hinterher, und er haßte es, daß er es nicht hassen konnte, während es geschah.
Er konnte nichts tun außer zusehen. Und nichts einmal das konnte er wirklich - nur geradeaus starren, auf das Rauchzeichen, sonst nichts. Nicht die Augen abwenden, nicht den Blick schweifen lassen, weder zur Seite, noch in die Ferne - nur sitzen und starren. Um ihn herum malte Meister Hemon seine Bannzeichen, und der andere Mann sprach die Formeln dazu: Wer auch nur ein paarmal an dieser Pfeife zog, konnte nur noch lallen, und das eigentliche Wunder war, daß Hemon die Symbole mit steter Genauigkeit in die Luft malen konnte. Aber es war nun einmal Zauberei, und wo sollte die anfangen wenn nicht bei ihrem eigenen Wirker?
Im Kopf versuchte Nomi zu Summen. Zählen konnte er nicht mehr, dafür hatte er zuviel von dem Rauch eingeatmet, und irgendwie mußte er die Zeit doch rumbringen. Daß er wach sein mußte, wenn er gebannt wurde, und bei Bewußtsein, nur um es wieder so halb zu verlieren, gehörte zu den Dingen, die ihm noch nie jemand hatte erklären mögen. Aber solche Dinge gab es ohnehin zu viele.
Im Halbtraum stand Nomi wieder oben auf der Plattform des Turmes, aber weil es nur ein Traum war, konnte er nun den einen Schritt tun, an dem es ihm im Wachen gefehlt hatte, den einen Schritt in die Luft, die ihn nicht trug. Nomi genoß das Gefühl des Fallens, es war ein wohliger Schwindel, der Rauch mochte daran schuld sein, aber es war trotzdem gut. Auf seinem eigenen Schatten ritt Nomi in die Tiefe -
und das war das letzte, was er von seinem Schatten noch spüren durfte. Dann war das Wirken vollendet.

Nomi kauerte still am Boden seines Zimmers, auch nachdem die beiden Männer lange wieder gegangen waren. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, und das vertraute Drücken in seinem Kopf war wieder da. Es begleitete ihn schon lange, länger als er sich erinnern konnte, daß es ihm nicht mehr wie etwas besonderes erschien, nicht einmal mehr wie Schmerz - aber die paar Momente in seinem Leben, wo es fehlte, waren kostbarste Erinnerungen. Nomi wußte, daß es nur durch den Talisman kam. Wenn er den Talisman abnahm, verschwand der Druck hinter seiner Stirn, er konnte frei und klar denken - und durfte es nicht.
Manchmal wand er das Lederband über seinen Kopf, bevor er sich schlafen legte: Wenn das Zimmer abgedunkelt wurde und er unter seine Decke kroch, konnte niemand sehen, ob er einen Schatten hatte oder nicht. Aber trotzdem fanden es die Wirker immer irgendwie heraus, und kaum ein Schlaf konnte es wert sein, dafür den halben anderen Tag gebannt am Boden zu verbringen, während er vom Tien gereinigt wurde.
Der neue Talisman fühlte sich noch fremder an als der alte; es war weniger der schmale Anhänger als mehr der geflochtene Lederriemen, der noch hart war und ihm in die Haut seitlich des Halses drückte; es konnte helfen, ein paar Tage lang darauf herumzukauen und ihn in den Fingern zu kneten, aber Nomi hatte wenig Lust, sich das verhaßte Halsband vertraut zu machen. Er wollte es am liebsten gleich wieder herunterreißen, doch Meister Hemon und sein junger Kollege hatten Recht: Es war sinnlos. Es raubte Nomi ebensoviel Zeit wie den Wirkern, und ihre Geduld war größer als seine.
Nomi blieb in seinem Zimmer sitzen, weil es der einzige Ort war, wo er allein sein durfte und niemand ihn bewachte. Das Fenster war vergittert und hielt das Licht doch nicht davon ab, hereinzuquellen, ihn ganz einzuhüllen und ihm das bißchen Frieden zu nehmen, das eben noch die Schatten verhießen. Nomi zog sich seine Nachtkutte über und barg den Kopf zwischen den Knien, suchte Ruhe und endete doch nur damit, sein Schicksal zu verfluchen. In diesem Leben gab es keine Ruhe für Nomi. Zumindest nicht in dieser Stadt.
Dann seufzte Nomi, stand auf, und beschloß, lieber seine Eltern heimzusuchen. Er hatte bei weitem noch nicht genug Ärger an diesem Tag bekommen, und noch viel zu wenig Bewegung. Mit unschuldiger Miene und so leise er konnte, trat er an seine Mutter heran, die am an ihrem kleinen Tisch saß, das Gesicht auf die Fingerspitzen gestützt, und mit kleinen Bewegungen Öl in ihre Schläfen einmassierte.
»Mui, hast du einen Augenblick?« fragte er leise.
Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte. Und wieder dieser Schrecken in ihrem Gesicht - was auch immer Meister Hemon sagen mochte, eine Mutter, die ihr Kind liebte, sah anders aus. »Nomi - du darfst mich nicht so erschrecken!«
Nomi nickte knapp und setzte sich auf den Boden. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen.«
Sie winkte ab. »Das ist lieb von dir, Nomi, aber es ist schon in Ordnung.«
»Du fragst noch nicht einmal, wofür entschuldigen.«
»Es ist schon in Ordnung«, wiederholte sie, und Nomi wußte, daß sie log. »Du kannst nichts dafür. Du bist doch nicht schuld.«
»Dann ist ja alles gut«, sagte Nomi und lächelte. »Dann darf ich wieder hinaus, ja?«
»Nomi, das geht nicht.« Sie drehte sich wieder zum Tisch und fuhr damit fort, ihre Schläfen zu massieren. »Es ist zu gefährlich. Was heute alles hätte passieren können…«
Nomi rutschte noch etwas näher an den Tisch heran, lehnte sich seitlich gegen eines der gedrehten Beine. »Ich wäre fast gesprungen«, sagte er sanft. »Niemand fragt mich, warum, oder was ich dort oben zu suchen hatte. Wollt ihr mich einsperren, ohne jemals die Wahrheit zu erfahren?«
»Wir wissen, warum du dort oben warst«, sagte seine Mutter. »Es war ein dummer Streich, und es wird nicht wieder vorkommen. Der Schuldige ist bestraft, und auch du hast deine Lektion gelernt.«
Nomi wußte nicht, ob sie ihm nicht zuhörte oder nur so tat, als ab. »Dann darf ich also wieder hinaus, zu meinen Freunden?« fragte er wieder, noch unschuldiger als vorher. Es ging ihm weder um die Freunde noch um die frische Luft. Er wollte nur, daß sie ihm die Wahrheit sagte: Warum er das Haus, am besten sogar sein Zimmer, nicht verlassen durfte. Ins Gesicht sollte sie es ihm sagen.
»Nein«, sagte sie. »Es hätte so viel geschehen können, Nomi - du kannst vor Glück sagen, daß du keinen Menschen versehrt hast, als du dort oben standest, nur ein paar Schweine. Dein Vater ist unterwegs, um ihre Besitzer zu beschwichtigen. Er muß ihnen versprechen, daß wir dich im Haus halten, zumindest für die nächsten Phasen.«
Das war doch schon viel klarer - nicht besser, aber etwas, womit Nomi etwas anfangen konnte. »Und wenn ich mich nicht daran halte, was tun sie dann? Sollen sie doch ihre Schweine wegsperren, wenn es ihnen darum geht.« Sperrten lieber Nomi weg… »Was ist mehr wert, so ein Schwein oder ich?«
»Wie kannst du so etwas sagen?« Aber der Gefühlsausbruch klang nicht echt genug. »Glaubst du, wir hätten uns keine Sorgen um dich gemacht?«
»Ja«, erwiderte Nomi ruhig. »Ja, das glaube ich. Darum wäre ich auch um ein Haar gesprungen.« Nur sein Schatten war ihm zuvorgekommen, das war seine Rettung. »Ich wollte wissen, ob ich sterben kann.«
Seine Mutter antwortete nicht, und das war das schlimmste daran. Jede Mutter hätte in dieser Situation herumfahren müssen, ihn für seinen Leichtsinn ohrfeigen oder ihn aus der ganzen Furcht ihres zu groß geratenen Mutterherzes an sich pressen - aber sie antwortete nicht, nicht ein bißchen. Nomi schluckte.
»Du bist nicht meine Mutter«, sagte er und stand auf.
Sie antwortete nicht, aber er wandte seinen Blick nicht ab, blickte sie nur herausfordernd an - nicht anklagend: Es war eine Feststellung, kein Vorwurf - bis sie das beklemmende Schweigen durchbrach und sagte: »Doch.« Und dann redete sie weiter. »Es tut mir leid, was heute geschehen ist. Ich weiß, daß es kein Vergnügen für dich ist, gebannt zu werden. Oder gebannt zu sein. Ich weiß das. Aber ich kann nichts tun, versteh das doch! Die Leute haben Angst vor dir. Glaubst du, ich möchte tatenlos dabei zusehen, oder zuhören, wenn sie schlecht von dir reden? Nein. Ich muß etwas dagegen tun - keine Mutter kann das mitansehen, keine, und erst recht ich nicht.«
Nomi wollte ihr gerne glauben, aber er konnte es nicht mehr. Sie konnten ihn nicht so behandeln und dann noch tun, als wäre es nur aus Liebe. »Warum sagt ihr dann den Leuten nicht, daß niemand Angst vor mir haben muß?« fragte er, und jetzt fing seine Stimme an zu zittern.
Er dankte seiner Mutter, daß sie es ignorierte, statt ihn in den Arm zu nehmen. Sie sagte nur: »Glaubst du, das haben wir nicht versucht? Aber solange dein Schatten nicht gebannt ist, wird niemand das glauben wollen. Und du spielst auch noch mit dieser Angst - also beklag dich jetzt nicht!«
Vielleicht sollte er sich jetzt doch noch dafür entschuldigen, daß er auch ihr mit purer Absicht Angst eingejagt hatte - aber er ließ es bleiben. Wirklich, wenn sie ihn nicht besser kannte, als sich vor ihm zu erschrecken, hatte sie nichts besseres verdient! Nomi schüttelte den Kopf und blieb bockig. »Ich will doch nur zeigen, daß nichts passiert! Die Leute erschrecken vor meinem Schatten, aber selbst wenn sie ihn sehen, oder wenn er sie berührt, keiner ist je davon krank geworden oder irgend etwas schlimmeres. Und ich wette, auch den Schweinen von vorhin geht es jetzt blendend.«
»Sie werden getötet«, sagte seine Mutter mit kalter Stimme. »Was bringt es ihren Besitzern, ein Tier durchzufüttern, von dem später niemand essen will?«
»Dann könnten sie die ebensogut mir geben«, erwiderte Nomi trotzig. »Mir macht das nichts aus.«
»Und was dann?« Es war nicht Nomis Mutter, die antwortete. Es war sein Vater, der eben hinter ihm in den Türrahmen trat, das Gesicht grimmig. »Willst du die Schlacht entscheiden mit einer Gruppe von Schweinen an deiner Seite? Du solltest lieber an deiner Verteidigung arbeiten als deine und unsere Zeit mit solchen Dummheiten zu verschwenden.«
»Manchmal glaube ich, das würde keinen Unterschied machen«, murmelte Nomi so leise in sich hinein, daß es niemand hören sollte. Lauter sagte er: »Tan, es tut mir leid, daß ihr heute meinetwegen solchen Ärger hattet. Ich gehe auch gerne selbst und entschuldige mich. Bei den Schweinen.«
Aber ebensowenig wie seine Mutter ihn vorhin umarmte, wollte ihn sein Vater jetzt ohrfeigen. »Geh auf dein Zimmer, Nomi«, sagte er kalt. »Ich habe mit deiner Mutter zu sprechen.«
»Ich möchte aber lieber hinaus«, entgegnete Nomi. Wenn er lange genug drängelte, bekam er meist seinen Willen. Zumindest in solchen Dingen.
»Nein«, sagte sein Vater. »Du gehst auf dein Zimmer.«
Nomi biß die Lippen zusammen. »Eines Tages wird euch das noch leid tun«, flüsterte er. »Ich habe eine Prophezeiung zu erfüllen - aber wie ich das anstelle, das ist meine Sache. Und eines Tages…« Er ließ die Worte im Raum stehen. Drohungen sollte er sich besser für andere Momente aufsparen, statt sie zu vergeuden. Er wollte das bißchen Macht, das er besaß, nicht abnutzen. »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Ich komme auch bis auf weiteres nicht mehr wieder raus. Stellt mir das Essen vor die Tür. Und wenn ihr Dhuan seht, sagt ihm, das es mir leid tut.«
Seine Eltern blickten einander kurz an. Die Mutter senkte fragend den Blick. Der Vater schüttelte leicht den Kopf.
»Was?« fragte Nomi, obwohl er es längst ahnte.
»Du wirst Dhuan nicht mehr sehen«, antwortete sein Vater. »Wir können es nicht zulassen. Er hat einen schlechten Einfluß auf dich.«
An dieser Stelle hätte ihm Nomi einiges erzählen können über das, was seine anderen Freunde alles so trieben, aber er ließ es sein. »Warum?« fragte er nur.
»Wir wissen, was heute geschehen ist«, sagte seine Mutter, und plötzlich war ihre Stimme wieder so warm, wie eine Mutterstimme es sein sollte. »Dhuan hat dich zu dieser Dummheit angestiftet. Er mag es für einen lustigen Streich gehalten haben und du für eine große Wette, aber -«
»Das geht so nicht«, vollendete Nomis Vater den Satz für sie. »Und auch wenn ihr betrunken wart - das ist keine Entschuldigung.«
Nomi nickte nur. Sie hatten kein Interesse an dem, was wirklich passiert war - wenn sie es nicht schon längst wußten. Es war Dhuan, der noch versuchte, Nomi aufzuhalten, ihn vom Turm fernzuhalten, hinter ihm herzurennen, während Nomi schon die Treppen hochstürmte. Dhuan, der zu spät merkte, daß Nomi ihm eine Falle gestellt hatte… Wenn er es denn überhaupt jemals merkte. »Wir waren nicht betrunken«, sagte Nomi nur. »Zumindest ich nicht.« Aber das wollte niemand mehr wissen. Es paßte nicht in die Geschichte, die sein Vater den Leuten erzählt hatte, den Schweinehaltern und den Wirkern. »Das heißt, Dhuan ist draußen?«
Nomis Eltern nickten. »Und jetzt - geh auf dein Zimmer.«
Nomi gehorchte. Das war doch alles, was er wissen wollte. Einen Moment lang tat ihm Dhuan leid. Aber nur kurz. Danach war es zumindest einer weniger, um den er sich kümmern mußte. Ein Freund. Ein Gefährte. Ein Speichellecker.
Nomi nickte und ging auf sein Zimmer. Es gab Momente, da war er doch lieber allein. Und seine Eltern brauchten Zeit, um sich neue Lügen auszudenken, Lügen für ganz Tolai. Und erst Recht Lügen für Nomi. Sie waren nicht seine Eltern. Und jetzt wußten sie, daß er es wußte.

Nomi hielt Wort und verließ sein Zimmer nicht mehr, weniger, um Gehorsam zu beweisen, als mehr, weil er keine Lust hatte, irgend jemanden zu sehen. Er tat sein Bestes, um die Fenster zu verdunkeln, aber das Licht folgte dennoch jedem seiner Schritte. Solange er sich nicht seine Schlafmaske überzog, war es unmöglich, auch nur einen Moment lang zur Ruhe zu kommen. Und niemand konnte ewig mit einer Schlafmaske vor dem Gesicht herumlaufen - sie war fast noch lästiger als der Schutztalisman, drückte an der Nase und ließ ihm Schweiß in die Augen laufen, und das einzig tröstliche war, daß nicht nur Nomi auf sie angewiesen war, sondern auch alle anderen. Aber niemand würde so dumm sein, sie tagelang zu tragen.
Nomi trug sie, weil es eine gute Methode war, sich selbst zu bestrafen, für seine Dummheit, seinen Trotz, dafür, daß er mit den Menschen einfach nicht mehr zurecht kam. Er trug sie, weil sie ihm ein bißchen Dunkelheit bot. Und weil er mit ihr sein eigenes Gesicht nicht mehr sehen mußte. Wenn er sie abnahm, würde er heulen. Und das wollte er nicht.
Aber er konnte nicht auf der einen Seite so tun, als wäre er der letzte Aufrechte von ganz Tolai, dessen einziges Streben die Jagd nach der Wahrheit war, die andere ihm tückisch vorenthielten - wenn er doch selbst in Wirklichkeit seine Augen vor dem verschließen wollte, was ihm nicht gefiel. Die Wahrheit war, Nomi war einsam. Er konnte garstig sein und andere dazu bringen, ihn ebenfalls garstig zu behandeln - es änderte nichts daran, daß Nomi einsam war und es eigentlich nicht sein wollte. Aber er wußte nicht mehr, was er dagegen tun konnte. Es war längst zu spät, mit dem Garstigsein aufzuhören, und selbst wenn - es änderte nichts mehr an dem, was Nomi herausgefunden hatte. Er konnte so tun, als bildete er sich das alles nur ein - aber damit war er dann keinen Deut besser als die Leute, die am liebsten so taten, als hätte Nomi keinen Schatten. Es war zu spät. Es ging nicht mehr. Und Nomi wollte nicht mehr.
Ein Satz war noch harmlos - »Ich habe Lumi und Dai ja früher immer beneidet, weil sie den Jungen bekommen haben und nicht wir«, sagte Kavis Mutter zu der eines anderen Jungen, »aber wenn ich ihn mir heute so ansehe, bin ich doch froh darum. Nicht, daß ich es den beiden gönnen würde, beileibe nicht!« Sie wußte nicht, daß Nomi sie hören konnte. Und selbst wenn, es gab viele Möglichkeiten, diesen Ausspruch zu verstehen.
Und auch das, was irgend ein anderer Erwachsener an einem anderen Tag meinte: »Da fragt man sich, ist es die schwere Last, die auf ihm liegt, oder steigt ihm die Verantwortung zu Kopf, oder hat er das nicht vielleicht doch von seinen Eltern? Das werden wir wohl nie mehr erfahren…«
Aber solche Sätze, aus Neid gesprochen oder aus Furcht oder warum auch immer, fügten ihre kleinen Steinchen in Nomis Kopf zusammen. Sie machten Nomi hellhörig und argwöhnisch. Die Welt war nicht mehr die alte ab diesem Moment. Blicke bekamen eine andere Bedeutung; jedes Wort hat plötzlich anderes Gewicht, wurde geprüft und gewogen und als Lüge enttarnt. Nomi lernte, seinen Eltern aufzulauern, versteckte sich, um herauszufinden, wer sie wirklich waren, oder wer er wirklich war. Er erfuhr es niemals, aber er hörte genug, um zu wissen, daß er Recht hatte. Keine großen Offenbarungen, nur mehr kleine Steinchen für das bunte Mosaik, das irgendwo den Kern der Wahrheit beinhalten mußte.
Einmal seufzte die Frau, die er mit Mutter anredete, seinem Vater gegenüber: »Früher habe ich mir ja auch immer Kinder gewünscht, eigene Kinder, verstehst du? Aber dann ist es Nomi geworden, und jetzt…« Sie mußte nicht weitersprechen. Nomi hatte auch so schon zuviel gehört.
Ebenso an dem Tag, als er seinen sogenannten Vater sagen hörte: »Ich kann ihn nicht verstehen. Wenn er mehr wie ich wäre, dann wäre das etwas anderes, aber so… Ich verstehe diesen Jungen einfach nicht mehr.«
Nomi wußte, daß alle Jungen Probleme mit ihren Eltern hatten. Auch seine Freunde stritten mit ihren Vätern, fühlten sich von ihren Müttern erdrückt oder wurden von ihren großen Brüdern drangsaliert. Aber das war nicht das gleiche. Sie waren immer noch eine Familie, und das wußten sie. Alles was Nomi wußte, war, daß er nichts wußte. Und, daß man ihn sein ganzes Leben lang belogen hatte. Er war weder blind noch dumm. Er sah seinen Eltern nicht ähnlich, nicht einmal von weitem. Er hätte dumm sein müssen oder stumm, um nicht eines Tages nachzufragen.
»Mui, warum habe ich weiße Haare, wo du und Tan doch schwarze Haare habt?«
Und seiner Mutter fiel nichts besseres ein, als ihn zu küssen und ihm zu sagen: »Weil du etwas ganz besonderes bist, Nomi, darum.« Was ihn, als kleines Kind, vielleicht auch wirklich noch tröstete. Aber als er älter wurde, lernte er zu unterscheiden. Sein Schatten machte ihn zu etwas Besonderem - seine Haare nur zu etwas fremden. Es hatte keine Bewandnis mit ihnen. Sie waren einfach, wie sie waren, silberweiß, wo andererleuts Haar dunkel war, braun oder schwarz. Dinge sollten immer einen Sinn haben. Und dieses hatte keinen. Aber niemand machte sich je die Mühe, Nomis Haaren einen Sinn zu geben. Also ließ Nomi sie sein. Sie machten ohnehin, was sie wollten - hatten ihre eigene Farbe, sträubten sich in jede beliebige Richtung, und wenn man sie kämmte, hatte man nie lange etwas davon. Mit einem Schulternzucken akzeptierte Nomi, daß seine Haare anders waren. Auch, wenn er gerne gewußt hätte, warum - sie störten ihn nicht. Zumindest nicht halb soviel wie die ganzen Lügen.
Nomi wußte nicht, wie lange er sich in seinem Zimmer einschloß. Er zählte die Stunden nicht, und es war ihm egal, wann und für wie lange er schlief. Manchmal öffnete er die Tür ein Stückweit und sah nach, ob man ihm etwas zu Essen hingestellt hatte, dann stand auch meistens etwas da, und das war meistens kalt. Manchmal schlich er sich zum Abort, aber nur, nachdem er eine Weile gelauscht hatte, ob auch wirklich niemand in der Nähe war. Er wollte niemanden sehen, und er wollte erst recht mit niemandem sprechen. Natürlich langweilte er sich. Soviel konnte niemand für sich allein sein, ohne sich zu langweilen. Nomi spielte das Hölzerspiel gegen sich selbst und übte langsam seine Bewegungen im Schwertkampf, ohne Schwert und ohne die dunkle Maske abzunehmen. Es war wichtig, daß er lernte, sich auch im Dunklen zu bewegen. Eines Tages sollte sein Leben davon abhängen, und nicht nur seines - aber das hatte alles wenig Sinn ohne einen Meister, der ihm sagte, was er richtig machte und was falsch. Ihm fehlte die Schule - Nomi hätte nie gedacht, daß ihm die Schule einmal so fehlen würde, oder die anderen Jungen - aber er blieb hart, gegen sich selbst und gegen alle anderen. Das einzige, womit er sich jetzt noch aus dem Zimmer locken ließ, war die Wahrheit, bedingungslos und ohne Falsch. Und wenn er die nicht bekam, oder nicht bald genug, dann wollte Nomi sich ein zweites Mal aus dem Haus schleichen und auf dem Turm und die Prophezeiung endgültig herausfordern. Wenn Nomi sterben konnte, ohne sein Schicksal zu erfüllen, dann hatte er zumindest die Prophezeiung der Lüge überführt. Und dann würden sich auch all die anderen Lügen in Luft auflösen.
Nicht, daß es dann noch irgend etwas bedeutete…

Nomi wußte nicht, wie lange er schon in seinem Zimmer saß, und auch nicht, wie lange er dort noch sitzen wollte, als seine Mutter an die Tür klopfte.
»Nomi, ich weiß, daß du allein sein willst, aber es sind jetzt schon vier Tage - darf ich hereinkommen?«
»Was willst du, Mui?« fragte Nomi heiser. Es waren seine ersten Worte in vier Tagen, und seine Stimme hatte offenbar schon ganz verlernt, was sie eigentlich zu tun hatte.
»Nur etwas reden«, sagte seine Mutter. »Bitte.«
Es war seltsam, ein Bitte von ihr zu hören. Nomi konnte sich nicht daran erinnern, daß sie es schon einmal so verwendet hatte. Das war ein anderes ‘Bitte’ als in ‘Nomi, beeil dich bitte, du kommst sonst zu spät’, oder in ‘Nomi, iß endlich deine Melone auf, bitte’ - es klang anders. Echter. Wahrhaftiger.
Nomi ließ sie herein. Nicht, daß sie die Tür nicht auch von außen hätte öffnen können, sie war verschlossen, nicht verriegelt, aber zumindest an dieser Stelle nahmen seine Eltern ihn ernst. »Reden ist gut«, sagte Nomi. »Ich glaube, es gibt da etwas, das ich wissen sollte, nicht?«
Seine Mutter nickte, aber sie schloß die Tür selbst wieder, bevor sie auf dem Boden platznahm und anfing zu erzählen. Und sie nahm die Blenden von den Fenstern ab und zog ihm die Schlafmaske. »Was machst du denn da, Nomi, es ist doch viel zu spät, um noch zu schlafen!«
Nomi zuckte die Schultern. »Es gibt nicht viel, was ich hier vier Tage lang allein tun kann, außer schlafen.«
Sie lächelte etwas. »Wenigstens trägst du noch deinen Talisman…«
Nomi winkte ab. »Darum geht es jetzt nicht. Es hat nichts mit mir zu tun oder mit meinem Talisman. Es geht um euch, nicht wahr? Um dich und Tan? Oder wie soll ich euch statt dessen nennen?«
»Weil du immer noch glaubst, wir sind nicht deine Eltern…« Sie seufzte leise. »Ich habe mit deinem Vater darüber gesprochen, wir sind beide sehr traurig deswegen, sehr bestürzt, und es tut uns leid. Wir hätten es dir schon viel früher sagen sollen, aber wir…« Sie brach ab.
»Aber wir was?« fragte Nomi schneidend. »Ihr ertrugt die Vorstellung nicht, daß ich die Wahrheit wissen könnte? Oder hattet ihr Angst, daß ich verschwinde und nicht mehr wieder komme, wenn ich Bescheid weiß?«
»Nein!« Jetzt war ihre Stimme hart, härter als seine, und sie fiel ihm schroff ins Wort. »Wir haben dir nicht die Wahrheit gesagt, aber nenn uns keine Lügner! Und glaub nicht, daß wir nicht deine Eltern sind, auch wenn ich dich vielleicht nicht geboren habe, ich fühle für dich doch das gleiche, als wäre es so!« Nomi glaubte ihr nicht, doch er unterbrach sie nicht mehr. »Und wir hätten es dir längst gesagt, all die Jahre über, aber das durften wir nicht! Es ging nur darum, dich zu beschützen, Nomi!«
»Beschützen.« Das Wort wirkte bei Nomi nicht mehr. Zu viel hatte er schon mit sich geschehen lassen, alles unter dem Vorwand, daß es ihn schützte - am Ende sollte es doch immer nur die anderen schützen, vor ihm. Nomi lächelte müde. »Fang mit dem Anfang an, bitte, nicht mit dem Ende. Meine richtigen Eltern. Wer waren sie? Was ist mit ihnen passiert?« Seine Stimme stockte, als er weitersprach. »Sie sind tot, nicht wahr?« Es war seltsam, das fragen zu müssen. Er sollte es wissen. Und wenn er sich nicht mehr erinnerte, wenn es auch zu lange her war, in einer Zeit geschehen, die für Nomi nichts war als grauer Nebel, dann sollte er es doch zumindest spüren können. Mit seinen falschen Eltern verband ihn nichts, aber mit seinen richtigen… auch nichts. Nomi fühlte nichts.
Und seine Mutter - seine jetzige Mutter - nickte. »Ja, sie sind tot, Nomi. Es war… es war schrecklich. In meinem ganzen Leben möchte ich so etwas furchtbares nicht noch einmal miterleben müssen.«
Nomi schloß die Augen, während er zuhörte. Irgendwo ihn ihm mußte doch, noch eine Erinnerung sein, irgend eine! »Wie alt war ich damals?« fragte er dumpf.
»Noch ganz klein, ein Jahr, vielleicht etwas drüber. Du erinnerst dich nicht mehr daran, das ist das einzig gute. Du hast das alles miterlebt - wir waren so froh, daß du es vergessen konntest! Damals hast du soviel geweint, Tag und Nacht, und deine Haare…«
»Was ist mit meinen Haaren?« fragte Nomi und fühlte sich seltsam dabei. Er wollte die Wahrheit über seine Eltern wissen, seine Haare waren ihm in diesem Moment völlig egal!
»Ich werde die ganze Geschichte erzählen«, sagte seine Mutter. »Vom Anfang an bis zu der Stelle, wo wir heute stehen. Dann wirst du verstehen. Dann mußt du keine Fragen mehr stellen. Und vielleicht wird es dann für uns alle etwas leichter. Du hast ein Anrecht darauf.«
Nomi nickte. Das zumindest war wahr. Dann schloß er wieder die Augen, barg das Gesicht in der warmen Dunkelheit seiner Hände, und hörte sich die Geschichte an, die seine eigene war.
»Die Prophezeiung ist alt, wie du weißt - mehr als tausend Jahre. Jeder von uns kannte sie, zumindest in Bruchstücken - Und es wird kommen der, der an seiner eigenen Seite kämpft, und er wird ergreifen das Gläserne Schwert, zu entscheiden den immerwährenden Kampf… - es war ein bißchen Hoffnung, mehr nicht. Niemand von uns rechnete damit, daß sie ausgerechnet in unserer Lebenszeit in Erfüllung gehen sollte. Du hättest schon vor hundert Jahren geboren werden können oder erst in tausenden - warum sollten gerade wir diejenigen sein, die Erlösung fanden? Und so gab niemand von uns viel darauf, die Prophezeiung war nichts im Vergleich zu den alltäglichen Ängsten, die wir erleiden mußten, und der ständigen Bedrohung durch unsere dunklen Nachbarn - aber dann wurdest du geboren.«
Nomi nickte bei sich und blieb still. Normalerweise reichte eine Erwähnung der Prophezeiung, um ihn fluchtartig aus dem Raum zu treiben. Aber hier gehörte sie dazu, und er ertappte sich dabei, wie er stumm im Kopf den ganzen Spruch aufsagte. Was man einmal auswendig konnte, wurde man wohl nie wieder los. Zu spalten das Licht und das Dunkel… Nomi verstand immer noch nur die Hälfte des Textes, aber da war er nicht der einzige. Zu vieles an dieser Prophezeiung blieb unergründlich, und unergründet.
»Erst einmal warst du ein Kind wie alle anderen. Nicht deutete darauf hin, wer du sein würdest - deine Geburt verlief ohne große Vorzeichen oder Ahnungen, und niemand maß ihr mehr Bedeutung bei als allen anderen. Du lagst in deiner Wiege oder an der Brust deiner Mutter, geliebt und bewundert, so wie es jedem Neugeborenen ergeht, das seinen Eltern als erstes Kind geboren wird, und es dauerte ein paar Tage, bis auch nur deiner Mutter auffiel, daß du anders warst als alle anderen Kinder.«
An dieser Stelle mußte Nomi seine Mutter doch unterbrechen. »Das kann doch nicht sein!« sagte er. »Jeder bricht in blinde Panik aus, wenn auch nur einen Augenblick lang mein Schatten zu sehen ist - und jetzt willst du mir erklären, daß ihn tagelang niemand bemerkt haben will?«
Seine Mutter nickte ruhig. »Ja, so war es. Man sieht nur was man weiß - du lagst unter deiner Decke, und du warst auch so ein kleiner Wurm - niemand achtete darauf, das unter dir ein dunkler Fleck war. Hast du schon einmal ein Neugeborenes gesehen? Du schaust auf sein kleines Gesicht, auf seine Finger, seine Ohren, auf den weichen Flaum auf seinem Kopf« - hier wurde ihre Stimme so verträumt und schwärmerisch, daß Nomi sich doch sehr wunderte, warum sie nicht nach ihm noch ein Halbdutzend weiterer Kinder ins Haus genommen hatte, und wenn es ihre eigenen waren - Nomi fiel nichts besseres ein, als ihr nochmals ins Wort zu fallen, sonst hätte sie vielleicht für den Rest des Tages noch so weitergemacht.
»Ja, schon gut, ich verstehe«, sagte er. War er doch offenbar ein bezauberndes Kind gewesen, das jeder gern haben mußte - wie deutlich wollte sie ihm noch zu verstehen geben, daß sich die Zeiten geändert hatten? »Aber dann bemerktet ihr eines Tages meinen Schatten.« Zeit, die Geschichte doch etwas abzukürzen. Er wollte nicht hören, wie er geliebt und umsorgt worden war. Er fühlte sich nicht so.
»Als dein Schatten dann entdeckt wurde, war erst einmal das Entsetzen groß. Niemand brachte ihn mit der Prophezeiung in Verbindung - alle hielten es für Tien, für etwas Böses, dachten, du wärst von der Dunkelheit berührt.«
Nun, zumindest daran hatte sich seitdem nichts mehr geändert. Auserwählt und von der Dunkelheit berührt statt nur von der Dunkelheit berührt, das machte letztlich keinen großen Unterschied.
»Die Wirker wurden gerufen, doch so sehr sie sich auch bemühten, es gelang ihnen nicht, deinen Schatten zu bannen. In der Stadt kam Unruhe auf, und Angst, und immer mehr Stimmen wurden laut, die verlangten, dich aus Tolai zu verbannen - zusammen mit deinen Eltern. Aber niemand wollte dieses Urteil vollstrecken - du warst ein kleines Kind; dich der Dunkelheit auszuliefern hätte deinen sicheren Tod bedeutet, doch die Angst wuchs, und wir fürchteten, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis die Stimmung endgültig kippte und man euch alle drei aus der Stadt jagte.« Ihre Stimme klang brüchig, und traurig, und sie zwang Nomi, nachzufragen.
»Du sagst, wir, und du sagst, Stimmen - wer ist jetzt wer? Du und Tan, was habt ihr gemacht? Wolltet ihr auch, daß ich…« - die Worte fielen Nomi schwer - »daß ich verschwinde? Daß ich verbannt werde? Oder umgebracht?«
Sie schüttelte den Kopf, und dann schlang sie ihre Arme um Nomi und drückte ihn an sich. »Nein! Nein, Nomi, niemals! Wir hätten dir niemals etwas zuleide tun können! Deine Eltern waren unsere Freunde, wir konnten uns nicht vorstellen, daß du etwas Böses sein solltest…« So sprach die Frau, die beinahe vor Angst schrie, wenn Nomis Schatten sie auch nur streifte! »Hemon - der gute Meister Hemon - der hat dich gerettet. Du verdankst ihm so viel.« Sie schwieg für einen Augenblick, hielt Nomi im Arm und strich ihm über das Haar. »Er hat erkannt, was dein Schatten in Wirklichkeit zu bedeuten hatte - daß du derjenige bist, von dem die Prophezeiung spricht. Er, der an seiner eigenen Seite kämpft. Draußen vor dem Haus versammelten sich deine Gegner, und Hemon trat ihnen entgegen und sagte ihnen, daß du der Auserwählte ist. Und daß sie dir nichts tun dürfen, um keinen Preis, wenn sie jemals erlöst werden wollen.«
Es war eine schöne, tröstliche Geschichte, und so ein schönes, tröstliches Ende - aber Nomi wußte, daß sie jetzt erst anfing. All das, was seine Mutter erzählte, wäre nicht anders verlaufen, wenn sie wirklich seine Mutter war. Noch gab es keinen Grund, ihn anzulügen. Und daß man ihn in Tolai mehr fürchtete denn liebte, das wußte Nomi schon lange. »Aber meine Eltern sind tot«, sagte Nomi leise. »Haben - haben die Leute aus der Stadt sie umgebracht?« Er fragte ganz kalt, ohne Wut oder Trauer. Diese Eltern waren nicht nur tot: Sie waren ungeschehen. Es gab sie nicht in Nomis Herz, als hätte es sie nie gegeben. Vielleicht konnten sie ihm noch fehlen, aber er konnte sie nicht mehr lieben, auch nicht, wenn er die Wahrheit kannte.
»Nein! Beim Licht, Nomi, wie kannst du so etwas nur denken?« Sie stieß ihn von sich vor Entrüstung, wieder ganz die Mutter, wie Nomi sie kannte. »Sie haben getan, was in ihrer Macht stand, um das geschehene Unrecht wieder gutzumachen, haben deine Eltern mit Geschenken überhäuft, sie haben um Vergebung gebeten - und deine Eltern haben ihnen vergeben.«
»Und wie - sind sie dann gestorben?« Nomi wurde das Gefühl nicht los, daß immer noch etwas faul war an dieser Geschichte. Warum nannte seine Mutter die Eltern nie beim Namen? Es war Nomi zwar lieber, wenn sie keine hatten; er wollte nicht, daß die Geschichte ihn berührte, aber wie sollte seine Mutter das wissen?
»Als Hemon uns an die Prophezeiung erinnerte und wir alle wußten, wer du warst, da wurden Boten geschickt in alle hellen Länder, damit unsere Freude mit unseren Brüdern und Schwestern in der Ferne geteilt werden konnte, damit sie wußten, daß die Zeit der Hoffnung angebrochen war und wir bald alle Erlösung finden sollte. Wir mußten nicht mehr nach dem Auserwählten suchen, wir hatten ihn gefunden! Es wurden Feste gefeiert in der ganzen Welt, alle zu deinen Ehren, um deine Ankunft zu feiern.«
Seine Mutter machte eine Pause. Nomi ahnte Schreckliches.
»Aber so gelangte die Kunde auch in die Dunklen Länder. Der Auserwählte, auf den sie ebenso begierig warteten wir wir, war geboren, aber in einem Hellen Land. Bis dahin hatten sie noch gehofft, du würdest ihnen geboren, nicht uns. Und jene, die in der Finsternis hausen, beschlossen, selbst die Herrschaft über das Schicksal zu ergreifen. Sie entsandten ihre Schergen, um dich zu entführen.«
Ein Hauch von Dunkelheit schwappte über Nomi, und er ließ es zu. Die Prophezeiung sprach in Rätseln, versprach viel und erklärte nichts - und vor allem schwieg sie sich darüber aus, für welche Seite der Auserwählte, der Schattenwerfer, Nomi, wie auch immer man ihn nenenn wollte - für welche Seite er am Ende kämpfen würde. Nomi wußte das. Es war die einzige Macht, die er in seinem Leben besitzen sollte. Und es war kein Wunder, daß sie es in den Dunklen Ländern auch wußten.
»Mit Schergen«, fragte Nomi vorsichtig, bemüht, seine Stimme nicht zu aufgeregt, und vor allem nicht zu begierig klingen zu lassen, »meinst du die Sha-ura?«
Seine Mutter zitterte, als er dieses Wort aussprach. Dieser Name ließ jeden erschaudern - die Jungen vor neugierigem Grusel, die Alten vor Entsetzen. Die Sha-ura. Sie wiederholte das Wort nicht. Aber sie nickte.
»Und die Sha-ura haben meine Eltern getötet?« fragte Nomi weiter. Wieder war die Antwort nur ein Nicken.
»Aber warum - warum haben sie mich dann nicht entführt?«
Nomi war noch nie den Sha-ura begegnet - jedenfalls nicht, daß er sich erinnerte. Aber wie alle anderen Kinder verschlang er jede Geschichte, die man sich über die Schwarzen Jäger erzählte. Sie waren unbesiegbar, wie die Dunkelheit, die sie mit sich brachten, schnell, lautlos, tödlich. Wenn sie kamen, um den kleinen Nomi zu holen - warum holten sie ihn dann nicht?
»Hemon«, flüsterte seine Mutter. »Hemon hat dich gerettet. Er hat die… die Sha-ura gebannt, er hat einen mächtigen Geist beschworen… Er hat dir das Leben gerettet. Aber es war so schrecklich…« Sie brach ab.
‘Und die Sha-ura?’ wollte Nomi fragen. ‘Was hat Hemon mit ihnen gemacht?’ Wie sollte dieser freundliche Mann mit dem verräucherten Hirn die Unbezwingbaren besiegen? Aber er schwieg. Das konnte ihm Hemon selbst sagen. Nomi würde sich nicht mehr belügen lassen, auch vom Ersten Wirker selbst nicht.
»Überall war Blut«, flüsterte seine Mutter. »Und mittendrin du. Deine armen Eltern - warum konnten wir sie nicht retten? Wir konnten nur dich retten… Du hast alles mitangesehen, wie deine Mutter starb… Die Wirker haben um dein Leben gekämpft, tagelang, sie haben mit dem Tien gerungen, daß es deine kleine Seele wieder freigeben sollte, und am Ende haben sie gesiegt - und du hast alles vergessen, was damals geschehen ist, du darfst dich nicht mehr erinnern, auch darum haben sie gekämpft - du hast keine Narben davongetragen, dem Licht sei Dank, du bist zu so einem schönen und prachtvollen Jungen herangewachsen, sie haben alle bösen Träume aus dir hinausgetrieben - nur deine Haare, die sind weiß geworden an jenem Tag…«
Es war egal, daß seine Mutter in losen Sätzen sprach. Sie weinte. Nomi ließ sie weinen. Er wußte nichts, um sie zu trösten. So fest er seine Augen auch zusammenkniff, so sehr er versuchte, sich zu erinnern, er blieb leer. Die Geschichte enthielt seinen Namen. Aber Nomi fühlte sie nicht. Was immer die Wirker mit ihm gemacht hatten seit jenem Tag, sie hatten ganze Arbeit geleistet. Alles, was Nomi tun konnte, war, mit den Fingerspitzen über seine Haare zu fahren. Er konnte seiner Mutter nicht sagen, wie froh er war. Nicht, solange sie weinte.
»Wenigstens macht jetzt alles Sinn«, sagte er irgendwann. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
»Wir hatten Angst«, sagte seine Mutter. »Darum haben wir dir nie etwas erzählt. Darum haben wir dich als unser Kind angenommen, und darum wirst du auch immer unser Kind sein und nichts und niemand anderes. Und darum mußt du auch immer deinen Talisman tragen, so schwer es dir auch fällt. Wir haben solche Angst… Wenn dein Schatten hervorkommt, dann werden sie wiederkommen. Die Schwarzen Jäger. Und dann werden sie dich finden.«
Die Worte ‘Ihr hättet es mir besser früher gesagt’ lagen schon auf Nomis Lippen, doch er sprach sie nicht aus. Früher - bevor er den Turm erstieg. Und bevor er seinen Schatten über die ganze Stadt warf, und über das halbe Land. Statt dessen sagte Nomi nur: »Danke.«
Und wenn die Sha-ura kamen - dann kamen sie.

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