Mit ausdrucksloser Miene sah
Nomi zu, wie sie den Flötenspieler davontrugen. Würdelos
und steif wie ein Brett hing der Gebannte zwischen Kavi und dem
Mann, der auch vor ein paar Tagen schon Meister Hemon zur Seite
gestanden hatte und ließ sich zur Halle der Wirker schleppen
- er konnte sich nicht wehren. Gebannt war gebannt. Für Nomi
war es ein ungewohnter Anblick. Dafür wußte er aber
genau, wie sich der Fremde jetzt fühlen mußte, und wie,
wenn er wieder zu sich kam. Er tat ihm leid. Nomi wünschte
niemandem, auf diese Weise gebannt zu werden. Aber es war soviel
einfacher, einen Zauber einzusetzen als Worte - niemand konnte von
einem Wirker erwarten, daß er sagte ‘Entschuldige, aber
du mußt jetzt mit uns kommen’ - es sei denn, er hatte
niemanden zum Tragen dabei. Noch ein Grund, warum Wirker niemals
allein auftraten…
Nomi ging hinter ihnen her, ungefragt, aber sie schickten ihn
nicht fort. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn er
jetzt versucht hätte wegzurennen? So folgte Nomi ihnen lieber,
wortlos, mit langsamen Schritten. Zumindest war es tröstlich,
daß er einmal nicht selbst der Schuldige war. Da sollten sie
doch lieber den Flötenspieler bannen.
Meister Hemon blieb kurz stehen und wartete auf Nomi, um ihm dann
eine Hand auf die Schulter zu legen. »Du mußt keine
Angst haben, Nomi. Er kann dir nichts mehr tun.«
Nomi hätte ihn gerne abgeschüttelt, aber er wagte es
nicht. Zu viele Wirker, und zu viele Leute, die neugierig in ihren
Fensten hingen und sich das Schauspiel nicht entgehen ließen.
Manche ließen die Prozession vorüberziehen, um dann in
sicherem Abstand hinterherzuschleichen - das war ein Schauspiel,
das sich niemand entgehenlassen wollte. Da hätten sie den
ganzen Tag lang Zeit gehabt, sich den geheimnisvollen Fremden
anzusehen, als er noch auf den Schulstufen saß - aber da
wollte ihn ja niemand bemerken, und jetzt galt es das nachzuholen.
Nomi seufzte.
»Er hat mir nichts getan«, sagte er ruhig. »Er
hat es nicht einmal versucht. Er hat sich nur mit mir unterhalten.
Und ich habe damit angefangen.«
»Es ist in Ordnung«, erwiderte Meister Hemon mit
väterlicher, beruhigender Stimme, als spräche er mit
einem verschüchterten kleinen Jungen, der Nomi schon lange
nicht mehr wahr. »Du mußt dich nicht rechtfertigen.
Niemand macht dir irgendwelche Vorwürfe. Du warst sehr
tapfer.«
Nomi wandte den Kopf zur Seite und blickte dem alten Mann direkt
in die Augen. Sie waren blau, aber nicht funken sprühend wie
die des Flötenspielers - ein sanft glitzerndes helles blau,
wie müdes Wasser. Seine Pupillen schwammen irgendwo in der
Mitte, farblich kaum noch vom Rest zu unterscheiden. »Meint
Ihr - jetzt?« fragte er leise. »Oder meint Ihr -
damals?«
Hemon zwinkerte und brach Nomis Blick. »Ich weiß
nicht, was du meinst«, antwortete er.
»Doch, das wißt ihr.« Nomi zwang ihm wieder
seinen Blick auf, und diesmal sollte er nicht ausweichen
können. »Meine Mutter hat mir alles erzählt. Ihr
könnt aufhören zu lügen.«
Meister Hemon lächelte, verlegen oder unsicher. »Was
hat sie dir denn erzählt?«
»Meine Eltern«, antwortete Nomi knapp. »Der
Schatten. Die Sha-ura. Ihr habt mich gerettet. Schon
vergessen?« Er lächelte böse. »So wie Ihr
dafür gesorgt habt, daß ich alles vergessen
habe.«
»Bitte, Nomi, nicht jetzt.« Der alte Mann ließ
Nomis Schulter los und entwand sich auch des Blickes. »Wir
können ein andermal darüber sprechen, nicht
jetzt.«
Mit dem Kinn wies Nomi auf den reglosen Flötenspieler.
»Nein? Meint Ihr nicht, daß dieser Mann etwas damit zu
tun haben kann, oder mit mir?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Meister Hemon.
»Das können wir unmöglich sagen. Mach dir keine
Sorgen, Nomi. Es wird alles gut.«
»Ich habe mir keine Sorgen gemacht«, sagte Nomi.
»Ich habe mich einfach nur mit einem interessanten Mann
unterhalten, der ein wandernder Flötenspieler ist, bis Kavi
einen Papierbann auf ihn schleudern mußte, ohne jeden Grund.
Der Mann hat nichts getan, wirklich nichts. Wenn Ihr nicht alle
viel mehr wißt als ich und er etwas damit zu tun hat - warum
habt Ihr ihn dann gebannt? Und was werdet Ihr jetzt mit ihm
tun?«
Meister Hemon seufte und lächelte dann. »Das ist alles
nur zu deinem Schutz, Nomi. Wir können nicht vorsichtig genug
sein. Und solange wir nicht wissen, was dieser Mann ist
-«
»Ihr hättet fragen können!« fiel ihm Nomi
ins Wort.
»Ja, aber sagt er die Wahrheit? Das können nicht
wissen. Noch nicht. Bald… bald können wir sicher
sein.«
»Was werdet Ihr mit ihm machen?« fragte Nomi.
»Wenn er sich entscheidet, Eure Fragen nicht zu beantworten -
werdet Ihr ihn dann foltern?«
Hemon hob eine Hand, und einen Moment lang sah es so aus, als
wolle er Nomi den Kopf tätscheln, doch er war noch genug bei
Verstand, um das nicht zu tun. »Keine Angst, Nomi, es wird
alles mit rechten Dingen zugehen. Niemand wird gefoltert im Namen
des Lichts.«
»Aber vielleicht in einem anderen Namen?« fragte Nomi.
Sie waren jetzt bald an der Halle angekommen. Es war an der Zeit,
diese Unterhaltung zu einem Ende zu bringen, denn sonst würde
Hemon sie gleich abbrechen, sich entschuldigen und Nomi stehen
lassen. »Was immer Ihr tut, ich will dabei sein.«
»Das geht nicht!« antwortete Meister Hemon, ein wenig
zu schnell und ein wenig zu heftig. Und er merkte es selbst, denn
er setzte bedächtig und väterlich hinterher:
»Schau, Nomi, es kann gefährlich werden. Wir werden
vielleicht gezwungen sein, mächtige Magie einzusetzen, und
weder wollen wir auf dich Rücksicht nehmen müssen, noch
riskieren, daß dir etwas zustößt.«
»Ich glaube, Ihr versteht mich nicht«, sagte Nomi.
»Das war keine Frage und keine Bitte. Es war eine
Feststellung. Ich werde nichts tun. Ich werde Euch nicht
unterbrechen und Euch gewähren lassen, was auch immer Ihr mit
diesem Mann tut. Aber ich will alles mitansehen und alles
mitanhören. Ich werde für die Wahrheit kämpfen. Aber
ich bin mein Leben lang angelogen worden - von allen, auch von
Euch. Ich weiß nicht, ob das Licht wahr ist oder das Dunkel.
Ich werde es herausfinden. Aber nur mit meinen eigenen Augen und
Ohren. Sonst traue ich niemandem mehr.« Er lächelte.
»Und ich traue auch dem Flötenspieler nicht, falls es
das ist, was Ihr befürchtet. Aber ich will hören, was er
sagt, und mir meinen eigenen Reim darauf machen. Ihr könnt es
mir nicht verbieten. Ihr könnt es versuchen, aber dann…
riskiert Ihr mehr, als Ihr gewinnen könnt.«
Meister Hemon zögerte. Das hieß, er nahm die Drohung
zumindest ernst genug. Dann sagte er:
»Nomi…«
»Was ist mit Euch, Hemon?« fragte der Wirker, dessen
Name Nomi immer noch nicht kannte. »Was steht Ihr hier mit
dem Jungen herum?« Er klang ungeduldig, und daß er das
gegenüber seinem Großmeister zeigte, war
interessant.
Nomi blickte Hemon mit schiefgelegtem Kopf an, abwartend,
lächelnd, böse. Er tippte leicht seine Fingerspitzen
gegeneinander. Nun kam es ganz drauf an…
»Nomi wird dem Verhör beiwohnen«, sagte Meister
Hemon mit seiner ganzen väterlichen Autorität. »Er
ist ein wichtiger Zeuge, falls dieser… Fremde nicht sprechen
will.«
Der andere Mann schüttelte den Kopf. »Falls er nicht
sprechen will, gibt es andere Möglichkeiten.«
»Das habt nicht Ihr zu entscheiden!« schnappte Hemon.
»Achtet auf Eure Worte, Andor, und stellt nicht die meinen in
Frage.«
Andor. Ein Name, den Nomi sich vielleicht merken sollte. Er nickte
dem Mann zu, als er den Wirkern in die Halle folgte.
Es gab zwei wirklich
bemerkenswerte Gebäude in Tolai: Das eine war der Turm,
zweifelsohne. Die Stadt war in Ringen um ihn herum gebaut, die
Strahlstraßen gingen von ihm aus, und wenn man ihn nicht
einfach nur ‘Turm’ nannte, weil man es nicht mehr
anders kannte oder einfach nur an ihn gewöhnt war, hieß
er Shil-ethey, die Lichtsäule. Man konnte keinen
Fuß nach Tolai setzen, ohne seiner ehrfurchtsgebietenden
Präsenz anheimzufallen, und er war so wichtig wie das Licht
selbst, das es ohne ihn in dieser Stadt, sogar im ganzen Land nicht
gegeben hätte. Wäre Nomi nicht auf seine Plattform
gestiegen, sondern ins die allerheiligste Kuppel eingedrungen, man
hätte ihn schwerlich leben gelassen, Auserwählter oder
nicht. Das also war das eine bedeutende Gebäude.
Das andere war die Halle der Wirker. Und das wußte kaum
jemand. Nur wer einmal darin gewesen war, wer die Wunder kannte,
die dort warteten, nannte sie vielleicht sogar noch vor dem Turm,
wenn es um die bedeutsamsten Bauwerke der Stadt ging.
Nomi holte tief Luft, bevor er eintrat, und legte eine Hand um
seinen Talisman. Er wußte, was ihn erwartete. Und es war das
erste Mal seit langer Zeit, daß der diesen Ort freiwillig
betrat. Oder daß er ihn überhaupt betrat. Denn
für gewöhnlich wurde er die Stufen hoch getragen, im
gleichen reglosen Zustand wie der Flötenspieler. Und einen
Moment lang hatte er Angst. Schon der Torbogen, aus weißem
Sandstein wie die Halle, wie jedes Haus der Stadt, war von oben bis
unten verziert mit eingemeißelten Bannzeichen. Und zur Zierde
dienten die sicher nicht. Nomi wartete, bis alle anderen im
Gebäude waren, den gebannten Mann eingeschlossen, und als der
dabei nicht in Flammen aufging, nahm Nomi seinen Mut zusammen und
folgte ihnen. Er dachte vielleicht dunkel. Aber der Rest von ihm
war Licht.
»Warte hier«, sagte Meister Hemon. »Dir wird
nichts entgehen, das verspreche ich dir. Aber wir müssen
zuerst einmal… Vorkehrungen treffen.« Nomi entging
nicht ohne bittere Befriedigung der säuerliche Tonfall des
Wirkers. Es gefiel ihm deutlich besser als die vertrauliche
Überheblichkeit, die der Mann sonst an den Tag legte.
»Das werde ich«, erwiderte Nomi. »Aber ich warne
Euch - wenn Ihr mich hintergehen solltet, werde ich das erfahren,
früher oder später. Und selbst später würde mir
noch genügen.«
Er setzte sich neben der Tür auf den Boden. Eine Eingangs-
oder Wartehalle gab es nicht. Ein Schritt über die Schwelle,
und er war in der Hochburg der Wirker angelangt. Die Decke war
hoch, von spitzbögigen Säulen getragen, und mit weiteren
Bannzeichen versehen. Der Boden war mit Salz bestreut - es sah aus
wie Sand, aber Nomi wußte es besser. Sie zeichneten Muster
hinein, und wehe dem, der sich in deren Mitte befand! Im Vergleich
dazu waren Papierzauber Gold. Nomi fegte unauffällig etwas von
dem weißen Pulver beiseite, ehe er sich setzte. Sicher war
sicher. Salz war kostbar - nicht weiter verwunderlich: Es konnte
nicht viel übrig bleiben, wenn die Wirker damit ihren Boden
ausstreuten, und das mußten sie immer wieder von neuem
machen, denn lange blieb es nicht so schön und weiß. Die
Halle sauberzufegen und dann mit neuem Salz in
gleichmäßiger Schicht auszustreuen, war die Sache der
Akoluten. Kavi jammerte jedesmal darüber, und das war der
einzige Moment, wo keiner der anderen Jungen mit ihm tauschen
wollte… Aber das geschah ihm recht, dachte Nomi.
Und dann wartete er.
Er sah den Wirkern zu, wie sie den reglosen Flötenspieler auf
dem Boden ablegten, in der Mitte der Halle. Noch immer hing ein
Papierbann vor der Brust des Mannes - der wievielte es war, konnte
Nomi sagen: Hemon und Andor schienen einen unerschöpflichen
Vorrat davon in ihren Taschen zu haben, und warum erst noch warten,
bis die Wirkung nachließ?
Nomi fragte sich, ob es bei ihm auch immer so aussah,
lächerlich verrenkt… Das einzig gute war, daß das
Opfer nichts davon mitbekam. Es war eine gnädige
Bewußtlosigkeit. Er mußte nicht sehen, wie sie einen
Kreis um seinen Körper zogen, und dann den Kreis mit ihren
Zeichen umgaben. Nomi konnte es nicht aus der Nähe sehen, und
wollte es auch nicht. Das war nur ein Teil der Vorbereitungen, von
denen Hemon gesprochen hatte. Der andere Teil geschah im
Verborgenen: Hemon war verschwunden. Mit wem er sich jetzt beredete
- Nomi wußte es nicht. Auf jeden Fall konnte der Bannkreis
nicht so wichtig sein, daß Hemon ihn nicht den niederen
Wirkern überlassen mochte.
»Gleich wird es richtig spannend.« Kavi war
plötzlich an Nomis Seite und ließ ihn erschrocken
zusammen zucken. War er allein vom Zusehen so gebannt, daß er
den Jungen nicht mehr kommen hörte? Kavi war nun wirklich
nicht der meisterlichste aller Schleicher!
Nomi atmete durch. »Ja«, sagte er dann. »Wenn
sie versuchen, ihn zu verhören - ich kann dir jetzt schon
sagen, daß sie sich die Zähne an ihm ausbeißen
werden.«
»Wieso verhören?« fragte Kavi und hob erstaunt
die Augenbrauen. »Ich will sehen, wie er gleich anfängt
zu brennen.«
»Brennen?« Nomi wollte aufspringen, doch er blieb
sitzen - er hatte versprochen, sich nicht einzumischen, und es war
unklug, jetzt einen Aufstand zu veranstalten, wo so viele Wirker
auf einem Fleck versammelt waren und schon Kavi bewiesen hatte, wie
locker ihm die Papierzauber saßen. »Aber - Hemon sagte
mir…«
Kavi lachte. »Wir können ihn immer noch verhören.
Keine Angst, den lassen wir doch nicht ganz verbrennen, erst
müssen wir wissen, wie viele von der Sorte hier noch unterwegs
sind.«
»Keine«, antwortete Nomi ohne nachzudenken. Er war
durch die ganze Stadt gelaufen. Es gab sonst keine Männer mit
Hüten. Aber das ging Kavi nichts an. »Und was meinst du
jetzt mit brennen? Ihr - ihr könnt doch keinen Menschen
anzünden! Ihr kämpft für das Licht!«
Kavi klopfte ihm auf die Schulter. »Keine Angst, wirklich
nicht. Wir zünden hier niemanden an. Wir sind die, die ihn
retten, bevor ihm zuviel zustößt. Nein, brennen wird er
gleich ganz von selbst.«
»Wegen des Bannkreises?« fragte Nomi vorsichtig. Wenn
er sich nun geirrt hatte - wenn es ein anderer Kreis wurde als der,
den sie sonst immer bei ihm verwendeten?
»Ach, nein.« Kavi schüttelte den Kopf und hockte
sich im Schneidersitz neben Nomi. »Die brauchen mich da
ohnehin gerade nicht, da kann ich es dir ruhig erzählen - aber
ich bin hier weg, wenn es da drüben losgeht. Es ist das Salz,
weißt du?«
Nomi zuckte die Schultern, bemüht achtlos, während er
sich unauffällig vom Boden abstützte. »Das ist
Salz, und?«
Kavi lächelte. »Du solltest es doch wissen. Du bist
hier doch schon ein paarmal gebannt worden, oder? Du hast auch in
einem Kreis im Salz liegen müssen.«
»Erinner mich nicht daran«, sagte Nomi.
»Es…« Nein, er wollte wirklich nicht dran
denken.
»Es brennt auf der Haut, ich weiß«, vollendete
Kavi den Satz für ihn. »Du hast es mal erzählt. Das
Salz ist gebundenes Licht. Darum ist es hier drin auch soviel
heller als anderswo. Der Sand ist schon hell, aber nichts
schlägt Salz, wenn es darauf ankommt. Das macht dir und mir
nichts, und wir müssen hier drin immer barfuß laufen,
damit wir zeigen können, daß das Licht mit uns ist. Aber
das Tien, das verträgt kein Licht. Bei dir brennt es
nur auf der Haut, aber ich sag mal, das was dein Schatten dir an
Tien macht, das ist nicht so viel.«
Nomi lachte kurz auf, das konnte er sich nicht verkneifen.
Für dieses ‘Nicht so viel’ mußte er schon
genug erdulden! »Du hast gut reden!« sagte er.
»Ich meine das ernst«, sagte Kavi. »Das ist das
Dunkel. Jemand, der sein ganzes Leben dort verbringt - ich will am
liebsten das gar nicht Leben nennen - den durchdringt es so tief,
durch und durch, daß er am Ende selbst nur noch wandelndes
Tien ist. Und wenn du so einen ins Salz legst - dann
fängt er an zu brennen. Ganz von selbst.«
»Und der Bannkreis?« Nomi mußte die Worte
hervorwürgen. Ihm war schlecht, und etwas schnürte ihm
die Kehle zu.
»Der ist nur, damit er nicht wegläuft.«
Nomi mußte lachen, kein gutes Lachen: Krampfhaft, ein Lachen
wie Husten. »Das liebe ich so am Licht!« brachte er
dann heraus. »Wir sind lieb, wir sind gut, und wir legen es
drauf an, daß ein Mensch verbrennt.«
»Nomi, versteh doch! Das ist keine Folter, das trifft ja nur
die, die es verdient haben.«
»Und wenn er nicht aus einem Dunken Land stammt?«
fragte Nomi. Er konnte sehen, wie sie dort drüben den
Flötenspieler entkleideten - sie zogen ihn vielleicht nicht
nackt aus, aber sie nahmen ihm den Mantel ab und lösten seine
Roben - Nomi brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß der
Mann dabei einen halben Schritt über dem Boden schwebte.
Sicher nicht, um ihn vor dem Salz zu schützen, aber damit sie
besser dran kamen. Nomi sah auch die vier, die am Rand standen und
ihre Finger in Richtung des Flötenspielers ausstreckten - das
Schweben war also ihre Magie. Ob sie das auch selbst nutzen
konnten, wenn sie barfuß übers Salz laufen mußten,
obwohl Tien an ihnen war, von dem niemand wissen durfte?
»Wenn er nur durch ein Dunkles Land hindurchgereist ist? Er
ist ein Wanderer, du kannst in kein Helles Land kommen, ohne ein
Dunkles zu durchqueren!«
»Ach, dann verbrennt er auch nicht.« Kavi winkte ab.
»Dann brennt es nur, so wie bei dir. Aber dann muß er
ja auch gereinigt werden, es ist also auch in Ordnung.« Er
zog die Nase hoch. Auch wenn er kluge Töne spucken konnte und
sich am liebsten als der Anführer ihrer Gruppe aufspielte -
was er natürlich nicht sein durfte; die Ehre gebührte
Nomi allein - war er doch immer noch ein Junge, der nicht nur
kleiner war als die anderen, sondern auch noch bestimmt ein oder
zwei Jahre jünger. So genau wußte Nomi es nicht. Im
Moment konnte er nicht einmal sagen, wie alt er in Wirklichkeit
war. Dafür wußte er zu wenig über sich selbst. Alle
anderen Jungen kamen ihm manchmal so kindisch vor, verglichen mit
ihm selbst…
»Aber sie ziehen ihn aus, damit er besser brennt? Oder doch
nur aus Freundlichkeit, damit er hinterher noch etwas zum Anziehen
hat?«
Aber jetzt hatte es wohl ein Ende mit Kavis Geduld. »Ach,
such’s dir selbst aus, du drehst dir ja sowieso alles, wie es
dir paßt. Ich geh und schau mir das jetzt aus der Nähe
an. Du kannst von mir aus hier sitzen bleiben, wenn es dir so
paßt.«
Es paßte Nomi ganz und gar nicht. Ihm war übel, dabei
hatte es ja noch gar nicht richtig angefangen. Er suchte Meister
Hemon mit den Augen und stellte fest, daß der inzwischen
wieder aufgetaucht war. Er stand bei den Wirkern am Bannkreis. Aber
außer ihm - und Kavi - war sonst niemand hinzugekommen. Was
auch immer der Großmeister getan hatte, oder mit wem
gesprochen, war nicht hier. Und auch wenn es auf den ersten Blick
nur die große Halle gab, hatte sie doch auch Nischen und
Winkel und Orte, an denen man sich unbeobachtete fühlen konnte
- aber Nomi kannte sich hier nicht gut genug aus um zu wissen, wo.
Die Wirker gefielen ihm immer weniger. In diesem Moment versuchte
er gar nicht erst, nicht auf der Seite des Flötenspielers zu
sein, und wenn er zehnmal aus dem Dunklen kam, und selbst wenn er
Nomi verschleppen wollte, selbst umbringen sollte er ihn wollen
dürfen - noch hatte er nichts getan. Noch konnte es ebensogut
Nomi sein, der dort lag.
Nomi stand auf und folgte Kavi zum Bannkreis, auch wenn er in ein
paar Schritten Entfernung stehenblieb, statt sich direkt zu den
Wirkern zu stellen. Die Luft roch nach Rauch, und er bemühte
sich, nicht zuviel davon einzuatmen. In der Nähe des Ausgangs
war die Luft deutlich besser, und Nomi wollte einen klaren Kopf
behalten, aber er war auch neugierig und wollte sehen
können.
Inzwischen hatten sie also den Flötenspieler bis auf sein
Untergewand entkleidet, daß man seine bleichen Arme und Beine
sehen konnte, so erschreckend dünn wie seine Finger. Seine
Augen waren geschlossen, und der schulterlange Zopf hatte sich halb
gelöst, die Haare hingen unordentlich nach unten, während
der Mann immer noch in der Luft hing wie ein Toter. Er sah
kläglich aus und würdelos, aber das Schlimmste war nicht
sein halboffen stehender Mund, als ob man ihn mitten im Wort aus
dem Leben gerissen hätte, sondern die linke Hand, die immer
noch eine Flöte hielt, die längst nicht mehr da war.
Langsam ließen die vier Wirker, die wie ein Quadrat um den
Kreis standen, ihr Opfer sinken, bis es auf dem Salz lag, mit
bloßen Armen und Beinen, daß er auch wirklich gut
brennen sollte, doch er brannte nicht. Noch schien auch niemand
damit zu rechnen. Erst mußte jemand das Bannpapier von seiner
Brust abziehen. Und dann…
Dann traten alle einen Schritt zurück und warteten ab. Es
wollte ja niemand riskieren, daß die eigenen Roben Feuer
fingen, wenn sich der brennende Mann im Salzkreis hin und her warf.
Auch Nomi wartete.
Vom Bannzauber befreit, kam langsam wieder Leben in den Mann. Das
erste, was sich bewegte, waren seine Hände - sie lösten
sich und schlossen sich wieder, und da es nichts für sie zum
Halten gab, ließen sie wieder locker. Dann schloß er
den Mund. Einen Moment lang sah es aus wie ein Lächeln. Und
dann setzte sich der Flötenspieler auf und öffnete die
Augen. Er sah sich um, nach links, nach rechts, er blickte wach und
aufmerksam an den Männern, die ihn umringten, hinauf und
wieder hinunter. Dann trafen seine Augen Nomis, und sie nickten
einander zu, ganz knapp nur und wortlos, aber wissend. Nur eines
tat er nicht: Brennen.
In die Wirker kam leichte Unruhe. Das war nicht, was sie erwartet
hatten. Nomi unterdrückte ein Lächeln. Und Kavi hatte
sich so sehr auf den brennenden Mann gefreut!
Die Wirker waren zu alt, und hatten sich zu gut unter Kontrolle,
um zu tuscheln, aber ihre Blicke sprachen Bände. Der
Flötenspieler stand in ihre Mitte, im Hemd, aufrecht,
barfuß im Salz, und es gab keinen Zweifel daran, daß es
ihm nicht ausmachte. Oder zumindest machte ihm das Salz weniger aus
als die Blicke.
»Wenn Ihr gesehen habt, was Ihr sehen wolltet«, sagte
er, »hätte ich gerne meine Kleider wieder. Und meine
Flöte, und meinen Hut.« Sein Blick sagte ‘und
meine Würde’, aber zumindest seiner Stimme war davon
nichts anzumerken; er sprach genauso bedächtig wie vor der
Schule mit Nomi. Er machte einen Schritt vorwärts in Richtung
des säuberlich gefalteten Stapels, als der seine Kleidung
neben dem Kreis abgelegt war.
»Halt!« rief Hemon. »Ihr rührt Euch nicht,
bevor wir es Euch gestatten.«
Der Flötenspieler nickte. »Richtig. Und den Bann habt
Ihr soeben entfernt. Darum bewege ich mich jetzt wieder.« Mit
einem angedeuteten Nicken und einem deutlichen Lächeln hob er
einen Fuß über die Begrenzung des Bannkreises.
Nomi riß vor Erstaunen Mund und Augen auf und mußte
sich zwingen, zumindest den Mund wieder zu schließen. Das war
ein Bannkreis! Wenn man drin saß, war es unmöglich, sich
der Linie und den Symbolen auch nur zu nähern! Nomi
fühlte das lähmende Gefühl allein bei dem Anblick am
eigenen Leib. Doch den Flötenspieler schien das nicht zu
interessieren. Er hob den Fuß, bis er fast über der
Linie war - Nomi sah Meister Hemon schon mit einer Hand an seiner
Tasche, bereit, den nächsten Bann zu werfen - aber statt
dessen machte der Gefangene einen Schritt rückwärts, und
lachte.
»Für was haltet Ihr mich?« fragte er.
Nomi atmete erleichtert auf. Jemand, der in der Lage war, einen
Bannkreis zu verlassen - der hätte ihm Angst gemacht. Jemand,
der mächtiger war als alle Wirker von Tolai zusammen…
Aber statt dessen wollte der Flötenspieler doch wohl nur
sehen, wie sie reagieren würden.
»Ich sagte, Ihr rührt Euch nicht!« wiederholte
Meister Hemon. Seine Stimme hallte laut und ehrfurchtserbietend
durch die Halle. Doch die Antwort, die er bekam, weniger als halb
so laut, flößte Nomi weit mehr Respekt ein. Denn laut
konnte jeder.
»Stellt Eure Fragen. Ob ich nicht antworte, weil ich nicht
antworten will, oder weil ich nicht kann, weil gebannt bin, macht
vielleicht für Euch keinen Unterschied, aber für
mich.« Mit der Spitze seines Zehs zog er eine Linie ins Salz,
während er redete. Nur eine Linie, kein Bannzeichen, aber
wieder hielten alle für einen Moment den Atem an.
Meister Hemon mochte keine Widerworte, und erst recht keine
Drohungen und Andeutungen. Und gegen diesen Fremden konnte er sich
auch das väterliche Gehabe sparen. »Ich stelle hier die
Fragen!« sagte er fest.
»Dann stellt sie. Aber ich werde sie nicht lieber
beantworten, wenn ich nicht nackt vor Euch stehe.« Der
Flötenspieler blickte kurz und mit sichtbarem Mißfallen
an seinem kläglich dargebotenen Körper hinunter.
»Oder muß ich mich erst noch einmal in diesem Salz
wälzen, damit Ihr zufrieden seid?«
»Ihr werdet im Salz bleiben, auch wenn es Eure
Füße verbrennt«, entgegnete Hemon, nicht ohne
zufriedenen Hohn. »Und freut Euch Eures Glücks,
daß nicht Euer ganzer Körper in Flammen aufgangen
ist!«
»Es brennt nicht«, antwortete der Flötenspieler.
»Warum sollte es? Das ist Salz, kein Kalk. Und Ihr seid
selbst barfuß.«
»Wir«, sagte Meister Hemon, »sind auch nicht vom
Tien durchzogen wie Ihr.«
»Bin ich das?« fragte der Flötenspieler ruhig
zurück.
»Unmöglich, daß Ihr es nicht seid.« Man
mußte schon Meister Hemon sein, um diesen Satz mit soviel
Selbstvertrauen auszusprechen angesichts Tatsachen, die etwas
anderes behaupteten.
»Dann schaut her.« Der Flötenspieler bückte
sich und nahm mit den Händen einen kleinen Haufen Salz vom
Boden auf. Er hielt es eine Weile ruhig, bot die Hände nach
links und rechts dar, damit alle, die um den Kreis standen, es
sehen konnten, und hob dann die Arme, um das Salz von oben
über seinen ganzen Körper rieseln zu lassen, langsam,
bedächtig. Danach zeigte er wiederum den Wirkern seine
Handflächen. Es klebten noch ein paar Salzkörner daran,
doch sie waren unversehrt, ohne Rötungen oder Blasen.
»Aber - das kann nicht sein!« entfuhr es einem der
Männer. »Er ist eine Kreatur des Dunkels! Wie kann er
ohne Tien sein?«
Der Flötenspieler senkte die Hände und den Blick.
»Wer sagt, daß ich eine Kreatur des Dunkels
bin?«
»Das behauptet niemand«, antwortete Hemon, jetzt mit
deutlich beschwichtigendem Tonfall. »Aber was hatten wir
für eine Wahl, als das anzunehmen? Ihr taucht auf wie aus dem
Nichts, Ihr schleicht Euch mit einer Tarnkappe in unsere Stadt ein,
und hätte dieser Akolut Euch nicht aufgehalten, wer weiß
was Ihr mit dem Jungen gemacht hättet? Was hättet Ihr
sein sollen als ein Agent des Dunkels?«
»Ihr hättet ihn fragen können«, sagte Nomi
laut. Vergessen das Versprechen, sich nicht einzumischen. Die
Wirker waren hier im Unrecht, das hob alle Versprechen auf.
Meister Hemon fuhr herum. »Du hältst dich hier raus,
Nomi!«
»Nein!« Nomi machte einen Schritt rückwärts
- er wußte ziemlich genau, wie weit Hemon seine Papierzauber
werfen konnte. »Ich will aussagen. Jetzt.«
»Jetzt nicht«, sagte Meister Hemon.
»Später, ja. Erst befragen wir diesen…
Mann.« Er nickte seinen Wirkern zu. »Und gebt ihm seine
Kleider wieder, um des Lichtes Willen.«
Der Flötenspieler durfte sich wieder ankleiden, langsam und
ohne Hast. Was er nicht durfte, war den Kreis verlassen, und alle
Augen waren immer noch auf ihn gerichtet. Da zumindest hatte Nomi
es besser, er durfte sich immer hinter einem Wandschirm anziehen,
wenn man ihn gebannt hatte. Es mußte schrecklich sein, so
angestarrt zu werden…
»Wir stellen Euch gleich ein paar Fragen«,
erklärte Meister Hemon seinem Opfer. »Aber Ihr werdet in
diesem Kreis bleiben, bis wir wissen, woran wir bei Euch sind -
oder bis der Zauber verflogen ist, der Euch vor den Auswirkungen
des Salzes schützt.« Er allein mochte wissen, woher ein
gebannter und so gut wie nackter Mann einen solchen Zauber nehmen
sollte. »Hatte er Talismane bei sich?« fragte Hemon die
Männer, die den Flötenspieler ausgezogen hatten.
»Oder sonst etwas ungewöhnliches?« Keine Frage,
der Fremde war noch nicht aus dem Schlimmsten heraus!
»Nur meine Flöte«, antwortete der Mann an Stelle
der Wirker. »Und ich hätte sie gerne wieder. Euch
nützt sie nichts.«
»So?« fragte Meister Hemon, unschuldig und zugleich
berechnend. »Und was wollt Ihr mit ihr?«
»Mich weniger nackt fühlen«, sagte der Mann.
»Ich bin ein Flötenspieler. Ohne meine Flöte bin
ich nichts.«
»Ihr werdet Sie zurückerhalten«, antwortete der
Erste Wirker. »Nachdem wir sie gereinigt haben. Wenn sie von
einem Geist besessen ist, werden wir das merken.«
Der Flötenspieler lächelte und schüttelte den Kopf.
»Es ist eine Flöte. Reinigt sie, soviel Ihr wollt. Es
wird immer eine Flöte bleiben. Und zwar meine
Flöte.«
Der Erste Wirker schüttelte den Kopf. »So kommen wir
hier nicht weiter. Wer seid Ihr? Und was seid Ihr
wirklich?«
»Warum stellt Ihr keine Fragen, die ich beantworten
kann?« fragte der Flötenspieler zurück.
»Ihr versteht Eure Lage nicht.« Hemon begann, mit
langsamen Schritten den Kreis zu umrunden. »Ihr sitzt in
einem Bannkreis. Ihr mögt Euch ein Vergnügen daraus
machen, uns zu verhöhnen und die Antwort zu verweigern - und
daß Ihr wißt, daß in diesem Lande niemand
gefoltert wird« - war das etwa ein Seitenblick zu Nomi? -
»läßt Euch glauben, Ihr wäret uns
überlegen. Aber eines sage ich Euch: Wenn ich meine Antworten
nicht bekomme, werdet Ihr in diesem Kreis alt werden.«
‘Und Ihr noch älter’, dachte Nomi und hielt den
Mund.
»Spätestens der Hunger und der Durst werden die
Antworten aus Euch hinaustreiben.« Jetzt war Hemon einmal
herum. »Und wir haben noch andere Möglichkeiten, Euch
auf Spuren des Dunkels zu untersuchen - aber diese wären
für Euch deutlich unangenehmer als ein paar
Antworten.«
Unangenehmer als bei lebendigem Leib zu verbrennen? Aber keine
Folter? Nomi schüttelte sich.
»Scht! Nomi!« Neben ihm stand Kavi. Zumindest hatte
Nomi ihn dieses Mal kommen gehört. »Was sagst
du?«
»Gar nichts«, flüsterte Nomi zurück. Er
wollte nicht mit Kavi plaudern - er wollte hören, was der
Flötenspieler diesmal zu Meister Hemon zu sagen hatte.
»Hast du gewußt, daß das passieren
würde?« fragte Kavi weiter.
Nomi zuckte die Schultern. »Ich weiß hier gar
nichts.«
»Es wäre einfacher, wenn Ihr andere Fragen stellen
würdet«, sagte der Flötenspieler.
»Wer ist dieser Mann?« zischte Kavi.
»Wie Ihr wollt«, erwiderte Hemon. »Dann fangen
wir mit den einfachen Dingen an. Sagt mir Euren Namen!«
»Ist das eine Frage?« fragte der
Flötenspieler.
Nomi wollte schon lachen, sogar laut - wie der Mann die Wirker
hier vorführte, das war etwas, das sich Nomi sein Leben lang
gewünscht hatte - aber was dann geschah, ließ ihm den
Atem stocken und erwürgte das Lachen in seiner Kehle.
»Ihr habt es so gewollt«, sagte Hemon. Er
selbst rührte keinen Finger, er nickte nur einem der anderen
Wirker zu - Nomi brauchte einen Moment, um darin Andor zu erkennen.
Der nickte. Dann sprach er ein paar knappe Silben, die Nomi nicht
hören konnte; er sah nur die Bewegung der Lippen - und malte
mit den ausgestreckten Fingern seiner linken Hand ein eckiges
Muster in die Luft.
Kavi packte Nomi beim Arm. »Das ist - das ist -«,
keuchte er atemlos. Aber Nomi wollte Kavi nicht hören, und er
wollte nicht wissen, was das war. Eigentlich wollte er sich nicht
einmal sehen.
Der Mann im Kreis zuckte zusammen, dann machte er eine Bewegung,
als räkle er sich, aber es war kein Räkeln.
Maßloses Entsetzen verzerrte sein Gesicht. Mit weit
aufgerissenen Augen ging er auf Hände und Knie, als hätte
ihm etwas den Boden unter den Füßen weggerissen.
Nomi wußte nicht, wo er hinsehen sollte - er wollte nicht
mitansehen müssen, was jetzt geschah; er ahnte, daß es
etwas Schreckliches, etwas ganz und gar Entsetzliches. Aber als er
beiseite schaute, blickte er als erstes in Kavis faszinierte
Aufregung, dann in die gelassene, kalte Ruhe in Andors
Gesicht… Nomi schüttelte sich.
»Was tut er da?« Er konnte die Frage nicht mehr
zurück halten. »Er soll damit aufhören! Der Mann
hat doch nichts getan! Und er hat bewiesen, daß kein
Tien an ihm ist! Aber Andor quält ihn -«
»Ach, sei still!« fauchte Kavi. »Guck doch hin!
Meister Andor tut ihm gar nichts.« Aber was immer dieses
‘gar nichts’ war, Kavi schien sich in dem Moment nichts
großartigeres vorstellen können.
»Du machst mich krank.« Nomi trat zur Seite. Am
liebsten wäre er einfach gegangen. Aber er konnte nicht. Er
mußte wissen, was hier vor sich ging.
Der Flötenspieler gab ein paar gurgelnde Laute von sich. Er
beugte sich tiefer, bis sein Gesicht fast über dem Boden war.
Seine Hand krampfte sich um das Salz zusammen, dann hob er den Arm
an und schob sich das Salz in den Mund. Von den Schultern
ausgehend, zitterte der ganze Körper des Mannes, als er den
Mund schloß, und die Augen traten ihm fast aus dem Kopf, als
er schluckte. Dann machte Andor eine abwinkende Geste. Der
Flötenspieler sank in sich zusammen.
»Und nun«, sagte Meister Hemon ungerührt,
»wo wir uns verstehen - nennt mir Euren Namen!«
Der Flötenspieler lag am Boden. Er zitterte noch immer. Sein
Atem ging rasselnd. Dann hob er den Kopf. Das Funkeln in seinen
Augen war verloschen. Sie waren immer noch blau, aber er hätte
ebenso gut blind sein können. Er blickte niemanden an, als er
anfing, Worte hervorzuwürgen. »Mein Name…
ist… Shen. Und ich… bin…« Langsam fing
der Mann an, sich wieder aufzurappeln. »Ein…
wandernder… Flötenspieler.« Er stand wieder auf
seinen Füßen. »Sonst nichts.«
Das schlimmste in diesem Moment
war nicht der Anblick des Mannes, dem rote Flecken im Gesicht
brannten, Salz am Kinn klebte und ein Faden Speichel aus dem
Mundwinkel rann. Es war Andors Lächeln. Und die Art, wie er
seine Hände hielt, erwartungsfroh, als freue er sich schon auf
seinen nächsten Zauber. Nomi war schlecht vor Wut. Er wagte es
nicht einmal mehr, zu Kavi hinzusehen, aus Angst, daß auch
der lachte - denn es gab sicher kaum etwas gefährlicheres, als
einem Akoluten in der Halle der Wirker die Faust ins Gesicht zu
rammen.
Wenigstens Meister Hemon lachte nicht. Er lächelte, so wie er
es immer tat, wie ein freundlicher zahnloser alter Mann.
»Endlich verstehen wir uns… Shen. Wenn Ihr uns jetzt
noch sagt, woher Ihr kommt, und warum Euch Eure Schritte
ausgerechnet nach Tolai geführt haben?«
Shen antworte nicht sofort. Er stand da, atmete sichtbar, wischte
sich mit dem Handrücken über den Mund, und starrte den
Wirker an. Seine schmalen Schultern hoben und senkten sich, als er
endlich sagte: »Ich…« Und dann schwieg er.
»Oh«, entgegnete Meister Hemon, nachdem er eine Weile
vergeblich auf weitere Worte gewartet hatte. »Habe ich Euch
doch überschätzt?«
Andor blickte ihn an, wartete auf ein Nicken: Und dann nickte
Hemon. Andor hob die Hand -
»Nein!« rief Nomi. »Laßt ihn in
Ruhe!« Und bevor irgendeiner der Wirker ihn aufhalten konnte,
stürmte Nomi vorwärts, riß mit dem Fuß den
Bannkreis auf, und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor vor
den Flötenspieler.
»Nomi!« Meister Hemon bellte seinen Namen mehr, als
daß er ihn aussprach. »Denk daran, was du versprochen
hast!«
»Nein!« schrie Nomi zurück. »Denkt Ihr
lieber an Euer Versprechen!« Er war so wütend, er
wußte nicht einmal mehr, wo er anfangen sollte. »Also
laßt den Mann jetzt zufrieden! Was hat er euch getan? Nichts.
Was hat er mir getan? Nichts. Er hat eine reine Seele, das hat er
bewiesen, was wollt Ihr mehr? Er kommt als Fremder in dieser Stadt,
er hat keine Lust, eure dummen Fragen zu beantworten, und er
besitzt eine Tarnkappe - ist das alles? So wie ihr ihn behadelt,
hätte er sie wohl besser nie abgenommen!«
»Nomi, es ist -«, hub Hemon an, aber Nomi fiel ihm ins
Wort.
»Ich will nichts mehr hören! Ich habe heute genug von
Euch gehört und gesehen, mehr als ich in meinem Leben wissen
wollte! Ihr wollt das Licht sein, und um das zu beweisen,
quält ihr einen Mann?«
»Nomi, schweig! Halte dich raus aus Dingen, die dich nichts
angehen!«
»Aber das geht mich an!« brüllte Nomi. »Und
jetzt laßt ihn gehen, sofort, oder ich bin die längste
Zeit euer Nomi gewesen! Denn wenn das hier das Licht ist, dann will
ich es nicht mehr!« Seine Hand zitterte, als er sie an seinen
Talisman legte. Er riß ihn nicht ab - aber er wollte zeigen,
daß er das konnte.
Die anderen Wirker standen unschlüssig herum. Sie blickten
von Nomi zu Hemon und zurück - was sollten sie tun? Den
Bannkreis reparieren? Nomi bannen? Shen bannen? Nichts tun? Solange
Hemon nichts sagte, durften sich nicht eigenmächtig handeln.
Darauf baute Nomi. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren.
»Kommt mit«, sagte er zu dem Flötenspieler.
»Die können Euch nichts tun. Ich werde es nicht
zulassen.«
Wieder sah Andor mit diesem bestimmten Blick zu Hemon hin. Wieder
wartete er auf ein Nicken. Aber diesmal hob der Großmeister
die Hand.
»Nomi«, sagte er ruhig. »Du kennst uns. Du
weißt, daß wir nichts böses wollen, und daß
dies alles nur zu deinem Schutz ist. Wir werden niemals einen
Unschuldigen quälen, und deine Worte verletzen mich sehr. Also
sei vernünftig, nimm die Hand runter, mach keine Dummheiten,
die du später bereuen würdest, und verlaß unsere
Hallen.«
»Ich kenne Euch, seit ich denken kann. Und Eure Taten
verletzen mich.« Nomi ließ die Hand an seinem Talisman.
War das noch der Mann, von dem seine Mutter erzählt hatte? Der
sich gegen die ganze Stadt und alle Wirker gestellt hatte, um die
Unschuld eines Neugeborenen zu beweisen? Was war jetzt daraus
geworden? Nomi schluckte. »Was bietet Ihr mir? Was garantiert
ihr ihm?« Er deutete auf den Flötenspieler. Ihn bei
seinem Namen zu nennen widerstrebte Nomi, so froh er auch war, von
ihm nicht mehr nur als ‘der Fremde’ denken zu
müssen - aber er hatte seinen Namen nur unter Folter
preisgegeben, und darum wollte Nomi ihn nicht nutzen. »Ich
verlange von Euch, daß ihr keine Magie gegen ihn anwendet -
daß ihr ihn nicht bannt, nicht seinen Willen brecht,
daß ihr nichts mit ihm tut, was ich nicht ebenfalls mit ihm
tun würde. Er kann und wird euch nichts tun. Es soll ihm frei
stehen, ob er mit euch redet oder nicht.«
»Du verlangst viel«, antwortete Hemon. »Man
könnte meinen, zuviel. Aber du weißt, wofür das
Licht steht, und du bist bereit, dafür zu kämpfen - auch
wenn du deinen Feind im falschen Ziel siehst, ehrt es dich, und ich
will dich dafür nicht bestrafen.«
»Gut«, sagte Nomi ungerührt. »Ich sehe,
wir verstehen uns. Also, macht mir ein Angebot.«
Meister Hemon sah würdevoll und gelassen aus, doch Nomi
entging nicht, daß sich seine Hände verkrampften. Er
hatte alle Macht der Welt, er konnte Nomi bannen, ohne daß
der auch nur den kleinen Finger rühren konnte - aber er durfte
es nicht, und das, vor all seinen Wirkern und Akoluten, das
mußte das Schlimmste für ihn sein. Er blickte nicht Nomi
an, sondern den Flötenspieler - Nomi wußte nicht, was
der hinter seinem Rücken tat: Der Mann sprach kein Wort, aber
wer wußte, was sein Blick in diesem Moment sagte?
»Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Meister Hemon
schließlich. »Nur ich allein. Ich verspreche dir,
daß ihm dabei kein Haar gekrümmt wird. Genügt dir
das?« Seine Stimme war ruhig, aber anklagend.
Aber damit hatte er schon weiter eingelenkt, als Nomi
überhaupt erwartet hatte. Er war auf Widerstand vorbereitet,
auf lange Wortgefechte und Drohungen - das alles konnte Nomi, doch
jetzt war er an einem Punkt angekommen, wo er dem Ersten Wirker
vertrauen mußte, und nicht nur dem, auch dem
Flötenspieler selbst - denn der wußte, was der tun
würde, wenn er erst einmal mit dem Mann allein war, der ihm
das angetan hatte? Trauen war nichts, was Nomi konnte. Er
verfluchte sich selbst, daß er sich in diese Situation
gebracht hatte. Aber das gehörte zu seiner Aufgabe, nicht
wahr? Entscheidungen treffen. Er konnte nicht die Frage, ob er
für das Licht oder das Dunkel kämpfen sollte, auf die
leichte Schulter nehmen, wenn er nicht einmal aus so einer
Situation rauskam!
»Also gut«, sagte Nomi. »Ihr habt mein Wort. Ihr
werdet dem Flötenspieler nichts tun. Meister Andor wird mich
nach draußen begleiten, denn ich möchte mit eigenen
Augen sehen, daß er keinen weiteren Schaden anrichten kann.
Und im Gegenzug« - jetzt drehte er sich zu dem Mann hinter
ihm um und blickte ihm zum ersten Mal, seit er zu ihm in den
Bannkreis gesprungen war, ins Gesicht. »Wenn Ihr mein
Vertauen jetzt verratet und alles, wofür ich gekämpft
habe, und Meister Hemon etwas antut - dann werde ich euch
töten. Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde es
tun.« Die Worte fühlten sich schwer und fremd an. Nomi
hatte schon oft andere Leute bedroht - aber noch nicht mit dem Tod.
Er wußte nicht, ob er das überhaupt tun konnte - einen
Menschen töten. Doch auch der Tag kam auf ihn zu.
Shen erwiderte seinen Blick mit ruhigem Nicken. Er sah zumindest
nicht mehr ganz so schlimm aus, war wieder gleichmäßig
bleich, aber das Funkeln fehlte noch immer in seinen Augen. Er sah
müde aus. Aber er sagte nicht, daß Nomi ihm vertrauen
sollte, und das war gut. Es war Nomis Entscheidung, und nur seine.
Und wenn er das von einem Menschen gelernt hatte, dann von diesem
Flötenspieler.
Mit zögerlichen Schritten ging Nomi zum Ausgang, nicht, ohne
dabei seine Fußspitze noch einmal durch die Linien des
Bannkreises zu ziehen. Er hatte getan, was er konnte. Und das war
entweder schon zuviel, oder noch zu wenig. Nomi setzte sich
draußen neben den Eingang des Gebäudes, das der Halle
der Wirker gegenüber lag, und wartete. Nach ein paar
Augenblicken kam auf Andor aus der Halle, doch er ging nicht zu
Nomi hinüber, sondern blieb auf seiner Seite der Straße
stehen, ohne noch einmal zu ihm hinüberzublicken.
Die Luft war besser hier draußen, und das drückende
Gefühl fehlte auch. Langsam kam Nomi wieder zur Ruhe. Aber
sein Zorn blieb. Und egal, wie das jetzt ausgehen sollte - das, was
Nomi an diesem Tag erlebt hatte, würde er nicht vergessen. Und
erst recht würde er sie nicht verzeihen. Am Allerwenigsten den
Meistern Hemon, und Andor, und Kavi.
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