Es war schwer, das Haus wieder
zu verlassen, noch schwerer als das Zimmer. Nomi wußte,
daß alle ihn anstarrten, nach seinem Schatten spähten
und, wenn sie ihn nicht sahen, aufatmeten. So war es oft. An diese
Blicke hatte Nomi sich gewöhnt. Aber was Nomi nicht
wußte war, wie er die Leute jetzt sehen sollte. Bei jedem
Menschen mußte er sich fragen: Kannte der die Wahrheit? Und
warum hat er mich angelogen? Selbst wenn jeder damit nur das
allerbeste bezweckte – sogar das allerbeste für Nomi! -
war es doch entsetzlich, wie sie alle lügen konnten, ohne mit
der Wimper zu zucken. Und jeder mußte es wissen, jeder, der
so alt war wie Nomi oder älter. Es konnte nicht geschehen,
daß die Schwarzen Jäger in Tolai einfielen, eine ganze
Familie niedermetzelten, und niemand erfuhr davon. Aber Tolai log,
und Tolai schwieg, und jetzt sollte Nomi wieder zur Schule gehen,
als ob nichts dabei war?
Nomi schüttelte den Kopf. Niemand sollte wissen, daß an
diesem Tag etwas anders war als an jedem anderen. Auch Nomi konnte
schweigen, oder lügen. Niemand konnte ihn davon abhalten, sich
seine Gedanken zu machen. Aber niemand mußte wissen, was er
dachte. Erst recht nicht seine Freunde. Aber Nomi mußte sich
zwingen, weiter von ihnen als Freunde zu denken.
Aber die Stadt war nicht mehr die gleiche, oder Nomi war nicht
mehr der gleiche. Er hatte sie von ganz oben gesehen, winzig klein,
so wie ein Vogel sie sehen durfte. Nun ging Nomi wieder durch die
Straßen, zu Fuß, wie er es gewohnt war, aber dauernd
blieb er stehen und sah sich um, als ob er ein Fremder war, oder
diese Stadt eine Fremde. Diese muschelweißen Mauern, die
zweigeschossigen Häuser mit ihren weißgefliesten
Dächern, die freundlichen sandbestreuten Straßen, sauber
gefegt - auch wenn die Schweine dort frei herumlaufen durften,
fraßen sie mehr von dem Dreck, als sie selbst
hinterließen. Und um den Schweinedreck kümmerten sich
die freundlichen Straßenfeger.
Weiße Häuser, weiße Dächer, weiße
Schweine, weiße Roben - heller als Tolai konnte keine Stadt
sein. Sie forderte das Dunkel geradezu heraus. War das Trotz,
Rache, oder Wiedergutmachung? Es war kein Wunder, daß Nomi
seine Stadt immer viel zu hell fand. Sie übertrieb,
maßlos. Aber jetzt hatte sie ja auch einen Grund dazu.
Nomi schüttelte den Kopf. Es war falsch. Es war alles
irgendwie falsch, die Stadt, das Licht, alles. Eine Frage kreiste
durch Nomis Kopf, seit er die Geschichte gehört hatte, eine
Frage, die er gerne verbannen wollte, weil er sich selbst kaum eine
Antwort verweigern durfte: Was, wenn die Sha-ura ihn damals
mitgenommen hätten? Wenn er nicht in Tolai aufgewachsen
wäre, allzeit vom Licht beschienen, sondern in einem Dunklen
Land - wo wäre er jetzt? Und was wäre er? Es war nichts,
worüber er nachdenken wollte. Nicht jetzt, zumindest.
Würde er das Licht jetzt lieben, statt…
Nomi nahm die Beine in die Hand und rannte. Er hatte schon vier
Tage vertrödelt. Da sollte er nicht auch noch jetzt zu
spät zur Schule kommen. Sie hatte ihm gefehlt. Und er hoffte,
daß auch er der Schule gefehlt hatte.
Nomis Schule war nicht groß - tatsächlich mochte sie
die kleinste Schule von ganz Tolai sein, und auf den ersten Blick
wußte sie nicht, was sie wollte. Die anderen Schulen waren
spezialisiert, ihre Lehrer unterrichteten in Arithmetik, in
Schreibkunst oder im Kampf. Meister Adam dagegen lehrte seine
Schüler, was auch immer er gerade für sinnvoll hielt. Und
den Namen ‘Nomis Schule’ hatte sie nicht nur für
Nomi. Jeder nannte sie so - jeder, der überhaupt wußte,
daß es sie gab, hieß das, also letzlich doch nur
Meister Adam, die Schüler, und ihre Eltern. Es war Nomis
Schule, mit Unterricht für Nomi und seine Freunde. Wenn Nomi
nicht kam, sollte auch kein anderer etwas lernen. Und von diesem
Tag an sollte sie einen Schüler weniger haben…
Nomi rannte. Der Sand knirschte unter seinen Füßen und
geriet ihm in die Schuhe, aber es gab schlimmeres. Erst kurz vor
dem Schulgebäude verlangsamte Nomi seine Schritte, aber nicht,
weil er erschöpft war, sondern vor Erstaunen. Draußen
auf den Stufen vor dem Eingang, ganz links, halb an die Wand
gelehnt, hockte eine Gestalt.
Nomi stutzte, und schaute. Tolai hatte mehr Bürger, als er
kennen konnte, auch wenn er glauben mußte, daß jeder
ihn kannte. In den Straßen, auf dem Markt, überall
begegneten ihm Fremde. Aber die saßen nicht auf den Stufen
von Nomis Schule. Sie wohnten ihrenwo in der Stadt. Sie hatten ihre
eigenen Stufen. Diese Gestalt war ein Fremder. Ein fremder Fremder.
Von Auswärts. Und was so jemand ausgerechnet hier zu suchen
hatte… Ohne seinen neugierigen Blick abzuwenden, trat Nomi
näher. Der Fremde saß in sich versunken, mit gesenktem
Kopf - man konnte nicht viel erkennen als einen Hut mit breiter
Krempe, dunkelgrau, und dazu eine Art Mantel, irgendwie
bläulich. Aber solange diese Gestalt da einfach saß,
ohne sich zu verstecken, hatte Nomi auch alles Recht zu starren.
Zumindest, bis er sagen konnte, ob das jetzt ein Mann war oder eine
Frau, oder ein Kind. Oder doch nur einer von Nomis Freunden, der
sich einen großen Hut aufgesetzt hatte.
Als Nomi die erste Stufe erreichte, wußte er zumindest,
daß es wirklich niemand war, den er kannte. Er konnte immer
noch kein Gesicht erkennen, oder eine Regung, aber eine Hand, ruhig
auf dem rechten Oberschenkel abgelegt. Darunter waren auch Beine,
und Füße in Lederstiefeln, aber es war die Hand, die
Nomis Blick fing und bannte wie eines von Meister Hemons
Rauchzeichen. Diese Hand, oder auch nur eine ähnliche, hatte
Nomi noch nie gesehen. Die Finger waren lang und schlank, aber vor
allem waren sie fast farblos, so weiß wie die Mauern von
Tolai. Diese Hände waren umheimlich - konnte etwas lebendiges
so bleich sein? Nomi beugte sich vor, um vielleicht doch einen
Blick auf das Gesicht erhaschen zu können - und in dem Moment
wurde am oberen Ende der Treppe die Tür aufgerissen.
»Als ob ich es geahnt hätte!« Es war Kavi, der
erst seinen verwirbelten Schopf und dann sich selbst ins Freie
streckte. »Nomi, komm rein!«
Seine Fröhlichkeit überrumpelte Nomi. Warum die gute
Laune? Nomi hatte drei Tage den Unterricht ausfallen lassen und
Dhuan aus der Schule geschmissen - wie konnten ihn die anderen dann
so überschwänglich begrüßen? Er
schüttelte den Kopf. Kavi freute sich nicht wirklich. Er
wollte nur nicht der nächste sein.
Nomi hob eine Hand. »Ich komme gleich…« Er wies
Kavi nicht auf den Fremden hin. Wer nicht von selbst darauf kam,
daß diese Gestalt einen zweiten, oder näheren, Blick
wert war, der verdiente auch keinen. Dann ging er zur Tür,
nickte dem Hut nur im Vorübergehen zu, und flüsterte:
»Geh nicht weg. Ich komme wieder.«
Er wußte nicht einmal, warum er das sagte - er wollte sich
nicht mit dem Fremden unterhalten, aber vielleicht hoffte er auf
einen Blick, auf das Gesicht, auf eine Antwort… Doch es kam
keine Antwort, keine Regung, nichts. Nomi sollte sich da besser
nicht hineinsteigern. Angenommen, es war ein Fremder, der einen
weiten Weg zurückgelegt hatte - dann sollte er sein Nickerchen
machen können, wo immer er wollte. Weite Wege kamen
schließlich auch auf Nomi zu. Und blasser als die anderen war
er selbst. Es ware eben doch nicht alle Leute gleich…
»Worauf wartest du denn noch?« rief Kavi. »Alle
anderen sind schon da.«
Nomi beeilte sich, und konnte sich doch die Frage nicht
verkneifen. »Alle? Wer?«
Kavi verdrehte die Augen. Er konnte sie weiter verdrehen als jeder
andere, den Nomi kannte, was vielleicht der Grund war, daß
ausgerechnet er ausgewählt worden war, ein Wirker zu werden.
»Meister Adam, ich, Ganon, Yun, Vali, Loya und Devi. Alle
außer dir.«
Nomi hob eine Augenbraue. »Und was ist mit Dhuan?«
»Dhuan?« Kavi schnaubte. »Das müßtest
du doch am Besten wissen.« Er schob die Tür zu, bevor
Nomi noch einen letzten Blick auf seinen Fremden erhaschen konnte,
und lief dann vor zur Treppe ins Obergeschoß, wo der
Unterricht stattfand. Das Thema Dhuan war für ihn damit
offenbar schon erledigt. Aber für Nomi nicht.
»Und das ist alles? Mehr hast du nicht dazu zu
sagen?«
»Was sollte ich sagen?« fragte Kavi über die
Schulter. »Er hat sich das selbst zuzuschreiben.«
Nomi blieb an der Tür stehen wie festgewachsen. »Kavi,
er war dein Freund, ich bin dein Freund, du weißt, daß
Dhuan nichts, wirklich nichts gemacht hat, daß ich ihn allein
da reingeritten habe - also tu mir jetzt den Gefallen und sei
wenigstens wütend auf mich!«
Kavi, notgedrungen, wartete an der Treppe. »Nomi, bitte, sei
nicht albern. Du mußt dir nicht die Schuld geben, nur weil
Dhuan uns allen Ärger gemacht hat. Was mich betrifft, ich bin
ganz froh, wie es jetzt gekommen ist.«
»Froh?« Nomi hatte oft Probleme, seine Freunde zu
verstehen, und jetzt hatte er wenig Lust dazu.
Kavi lachte. »Ja, du hast gut reden, du bist der
Auserwählte. Aber wir anderen? Wir dürfen immer nur
hoffen, daß wir am Ende dabei sind. Sie werden nicht sieben
von uns losschicken, sondern nur dich und die besten. Da freue ich
mich für jeden, der es nicht schafft, weil ich es selbst
unbedingt machen will - also guck jetzt nicht so!« Kavi
schüttelte den Kopf und schwang sich die Treppe hoch.
»Du machst mich krank«, murmelte Nomi. Und auch wenn
er sich auf der einen Seite freute, daß seine Freunde jetzt
endlich anfingen, ihre wahren Gesichter zu zeigen, ihm das ins
Gesicht sagten, was Nomi ihnen schon lange unterstellte, hätte
er sich jeden anderen Ausgang dieser Begrüßung
gewünscht. Aber Kavi hörte ihn schon nicht mehr, und Nomi
folgte ihm ohne weiteren Worte nach oben.
»Ich hab ihn gefunden!« rief Kavi, noch bevor er die
Tür des Lehrraums aufriß. Zumindest ersparte das Nomi
die Frage, wo sie heute ihren Unterricht bekommen sollten. Meister
Adam tat alles, damit aus seinen Schülern rechte Helden werden
konnten. Er lehrte sie Kämpfen, ihre Kräfte und Ausdauer
stärken, und an ganz besonderen Tagen lehrte er sie
überleben. Aber wenn sie sich im Schreibraum versammelten,
dann gab es keine Bewegung. Dann mußten sie nur still sitzen
und mitschreiben, was Adam ihnen erzählte. Sonst mochte Nomi
diese Art von Unterricht. Er wollte alles wissen, was es über
diese Welt zu wissen gab. Aber jetzt fragte er sich, ob nicht auch
alles, was sein Lehrer im erzählte, nichts als gelogen
war.
»Er ist tatsächlich wieder da«, sagte Kavi und
schob Nomi ins Zimmer. Dann versetzte er ihm noch einen Schlag ins
Kreuz. »Und wir hatten schon Angst, du wärst längst
ohne uns aufgebrochen!«
Da saßen sie alle auf ihren Schreibmatten, die Tafeln auf
dem Schoß, und blickten Nomi an mit großen Augen und
aufgesetzter Erwartungsfreude: Der große stille Vali, der
keine Waffen mochte, weil er lieber die Hände freihatte und
seine Fäuste gebrauchte, und sein Freund Yun, der dafür
sein Schwert am liebsten gar nicht erst aus den Fingern legte. Da
waren Ganon und Loya, die beiden besten Kundschafter der Klasse,
und Devi, der eigentlich auch ein guter Schwertkämpfer war,
aber nicht an Yun vorbeikam und das auch wußte, und an
Gehässigkeiten mangelte es nie zwischen diesen beiden Jungen,
die in der Klasse so weit auseinander saßen wie das irgend
möglich war.
Früher lachte Nomi immer darüber und hielt es für
mehr für Neckerei denn für Feindschaft, aber nach Kavis
Worten machte alles einen anderen Sinn. Und auch wenn Ganon und
Loya immer Seite an Seite arbeiteten und wie unzertrennlich
schienen, taten sie das doch in Wirklichkeit bestimmt nur, um den
anderen besser im Auge zu halten. Bis auf Kavi, der als einziger
ein Wirker wurde und darum sicher längst fest damit rechnete,
an Nomis Seite auf die Suche nach dem Schwert zu gehen, gab es in
dieser Schule von allem zwei: Zwei Kämpfer, zwei Kundschafter,
zwei Hüter - jetzt nur noch einen, denn Dhuan war der andere,
und dabei hatte sich Nomi mit ihm doch immer viel besser verstanden
als mit Valis grober Art. Und Nomi, den gab es natürlich auch
nur einmal. Und Meister Adam auch.
Nomi nickte und verneigte sich vor seinem Lehrer und trat an
seinen Platz in der Mitte des Raumes. Es sollte seinen besonderen
Status verdeutlichen: Nomi, der Auserwählte, als Herz und
Seele der tapferen Gefährten. Jetzt verdeutlichte es ihm etwas
anderes: Er war eingekesselt. Eine falsche Bewegung, ein Griff nach
seinem Talisman, und sechs andere Jungen würden sich auf ihn
stürzen und niederringen.
Erst nachdem Nomi Platz genommen hatte, setzte sich auch Kavi, und
Nomi merkte, daß sie die Sitzordnung geändert hatten.
Dhuans Platz, früher zu Nomis linker, war nicht leer. Seine
Matte war fortgeräumt, und statt dessen saß jetzt Yun
dort. Dafür waren in der ersten Reihe jetzt nur noch zwei
Plätze, alles schön im Kreis um Nomi gruppiert. Keine
Fluchtgelegenheit, wenn es drauf ankam. Im Zweifelsfall war immer
jemand schneller als Nomi.
Und daß Nomi keine Waffen führen durfte, hatte sicher
nicht nur rituelle Gründe. Natürlich, er durfte sich
nicht entweihen, kein anderes Schwert führen, bis er das
Gläserne in Händen hielt - aber davon stand nichts in der
Prophezeiung, und es steckte bestimmt mehr die Angst dahinter, am
Ende seinem Schatten eine todbringende Waffe in die Hände zu
geben. Nicht mal einen Dolch…
»Ich bitte den Meister, mein Fehlen zu entschuldigen.«
Nomi senkte das Haupt. »Ich habe dieser Schule Schande
gemacht und verdiene es nicht, Euer Schüler zu
sein.«
Meister Adam grollte. Von seinen Schülern erwartete er
Gehorsam, Fleiß, und vor allem Maulhalten. »Schweig,
Nomi! Entschuldigungen nützen dir nichts. Ich werde dir eine
Strafarbeit geben, weil du heute zu spät gekommen
bist.«
Mit leichtem Lächeln blickte Nomi auf. »Dafür habe
ich mich aber nicht entschuldigt.«
Aber wenn ein Mensch gegen Nomis trotzige Herausforderungen gefeit
war, dann Adam. »Darum bekommst du die Strafe auch
dafür«, sagte er kühl. Es hatte seine Gründe,
warum er, von allen Lehrern der Stadt, den Auftrag bekommen hatte,
aus Nomi und seinen Freunden eine Gruppe tapferer Helden zu formen.
Er war nicht einzuschüchtern. Nomi auch nicht. Meistens endete
es unentschieden zwischen ihnen. Adam konnte seinen Rohrstock
hervorholen. Und Nomi konnte ankündigen, sich im Zweifelsfall
für das Dunkel zu entscheiden. Dann ließen sie ihre
Drohungen im Raum stehen, und der Unterricht konnte weitergehen.
»Wir werden uns heute«, sagte Meister Adam, »mit
den Lehren von Shri befassen.«
Nomi hob die Hand. »Bitte, Meister, ich habe noch eine
Frage.«
»Was ist denn?« fragte der Lehrer unwirsch.
»Für jede Frage, mit der du meinen Unterricht
störst, wirst du mir gleich um Rede und Antwort stehen, was
die Lehren von Shri angeht.«
Damit konnte Nomi leben. Der weise Shri war ihm egal, aber sie
wurden schon so lange mit seinen Lehren traktiert, daß Nomi
sie längst auswendig wußte. Manchmal wollte er doch in
der Lage sein, seinem Meister eine Freude zu machen. Und es war
kein Geheimnis, daß Adam ein glühender Anhänger
dieser Lehren war - er predigte sie, wann immer ihm sonst nichts
einfiel. »Shri lehrt uns: Laß den Körper das Haus
deiner Seele sein, doch halte seine Tür stets verschlossen und
seine Fenster geöffnet.« Es war der Spruch, den Nomi am
besten kannte und am wenigsten mochte.
»Und jetzt meine Frage«, setzte er hinterher.
»Warum habt ihr zugelassen, daß Dhuan aus der Schule
ausgeschlossen wurde?« Bis dahin waren die anderen Jungen
still gewesen, aber nun ging ein Raunen durch die Klasse. Nomi
wandte sich zu seinen Mitschülern um. »Was habt
ihr?« fragte er in den Raum. »Es ist nicht verboten,
seinen Namen zu erwähnen, oder habe ich ein neues Gesetz
verpaßt?«
»Wenn du es genau wissen willst«, antwortete Meister
Adam mit lauter Stimme, die das Tuscheln verstummen ließ und
die Blicke der Jungen zurück auf ihre Tafeln lenkte. »Es
war meine Entscheidung.«
Nomi stand auf. »Shri lehrt uns«, sagte er,
»Kehre niemandem den Rücken zu: Nicht dem Feind, und
nicht dem, der dein Freund bleiben soll. Und jetzt meine Frage:
Warum?«
Adam trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich kann keinen
unzuverlässigen Jungen in meiner Schule brauchen.« Er
war noch mehr als einen Kopf größer als Nomi und blickte
auf ihn hinunter, und in seinen Augen war nur Kälte.
»Das soll allen in dieser Klasse eine Lehre sein, und weitere
Fragen werde ich nicht beantworten. Und dir befehle ich, dich
wieder zu setzen.«
Nomi schüttelte den Kopf, aber er gehorchte. Er fühlte
einen Kloß in seinem Magen, vor Wut, auf seinen Lehrer, auf
seine Freunde… »Wenn ich gewußt
hätte«, murmelte er, »daß es heute wieder
nur um die Lehren von Shri geht, wäre ich noch einen Tag
länger in meinem Zimmer geblieben.« Er sagte es leise,
aber so, daß jeder ihn hören konnte, vor allem sein
Lehrer.
Und Adam hörte es. Nomi gab ihm in der letzten Zeit oft
Widerworte, aber Adam, als alter Streiter, erkannte eine
Kriegserklärung, wenn er sie vor sich hatte. »Was willst
du damit sagen, Nomi? Willst du den Unterricht an meiner Stelle
leiten, wenn du soviel besser weißt, was ihr lernen
müßt?«
An dieser Stelle hätte Nomi seinen Meister um Vergebung
bitten müssen, doch in ihm war ein wütendes Ziehen, und
wenn das jemals wieder fortgehen sollte, hatte Nomi jetzt keine
Wahl. »Ja«, sagte er. »Ihr lehrt Eure
Schüler im Schwertkampf und wählt die Besten aus, auf das
sie Klingenmeister werden dürfen. Ihr habt Kavi einen Wirker
werden lassen, Ihr lehrt die Kundschafter schleichen, Ihr lehrt die
Wächter, mich zu beschützen - und was lehrt Ihr mich? Die
Aussprüche des Weisen Shri. Was soll ich damit? Soll ich sie
dem Dunkel entgegen brüllen, bis es sich zurückzieht? Das
ist doch nichts!«
»Und was«, fragte der Lehrer grimmig, »soll ich
dich lehren, deiner Meinung nach?«
»Das Dunkel«, antwortete Nomi kühn.
»Das… Dunkel«, wiederholte sein Lehrer sehr,
sehr langsam. Sein schmalen Augen wurden noch schmaler. Es gab
Dinge, die sollte man nicht laut aussprechen. Und dazu gehörte
das, was Nomi da verlangte. Er hörte die anderen Jungen die
Luft anhalten.
»Ja«, sagte Nomi. »Ich will lernen, mich in
vollständiger Dunkelheit zu bewegen. Ich will lernen, mich
gegen die Schrecken zu wehren, die ich nicht sehen kann. Und ich
will lernen« - hier hätte er sich am liebsten den
Talisman wieder heruntergerissen - »meinen Schatten zu
kontrollieren.«
Das genügte. Adam packte ihn am Arm und zerrte ihn in den
Flur. »Ich werde solche Sprüche in meiner Schule nicht
länger dulden«, zischte er. »Du lernst, was du zu
lernen hast, wenn die Zeit dafür reif ist. Und alles was du
tust, jedes Wort das du sprichst, sagt mir, daß du nicht
bereit bist. Weder, das zu lernen, was du hier
großmäulig von mir verlangst, noch, deine Aufgabe
anzunehmen. Und wenn du mich fragst - daran wird sich auch in zehn
Jahren nichts ändern.«
Nomi sagte nichts. Er starrte auf seine Füße. Hatte er
noch Sand im Schuh? Es kribbelte so. Es kribbelte in seinem ganzen
Körper.
»Ich kann meinen Unterricht auch ohne dich machen«,
redete der Lehrer weiter, immer noch so leise, daß keiner der
Jungen im Klassenraum es hören sollte. Nomi zweifelte nicht
daran, daß im gleichen Moment Ganon und Loya ihre Ohren an
der Tür hatten. »Jeder von denen, und auch dein Freund
Dhuan, ist ein gehorsamer, fleißiger Schüler. Wenn ich
die Wahl hätte, einen Jungen aus meiner Schule zu entfernen,
wärst du es.«
»Ich weiß«, sagte Nomi. »Aber Ihr
dürft nicht.«
»Richtig.« Jetzt lächelte der Lehrer. »Aber
ich entscheide, ob und was du lernst.«
Nomi starrte zu Boden. Das war die letzte Gelegenheit, sich zu
entschuldigen. »Warum fragt Ihr nicht, was mit mir los
ist?« fragte er statt dessen.
»Weil ich weiß, was mit dir los ist. Du bist ein
bockiger, störrischer Junge, und wenn du nicht der
Auserwählte wärst, wärst du gar nichts.«
Vielleicht hatte er recht. Nomi schüttelte den Kopf.
»Dann sag ich es Euch.« Niemand fragte ihn, seine
Eltern, die Wirker, sein Lehrer. Sie hatte Nomis Leben so fest
geplant, da brauchten sie nichts mehr fragen.
»Was ist denn?« fragte Meister Adam hörbar
genervt.
Nomi blickte auf, blickte ihm direkt in die Augen. »Ich kann
nicht mehr«, sagte er. Und das war die Wahrheit. Das, was ihn
da so drückte, war nicht sein Talisman. Das war etwas anderes,
und es mußte raus, noch heute, sofort. »Macht ohne mich
weiter, ich komme wieder.« Nur ganz kurz kam ihm in den Sinn,
daß er diese Worte an diesem Tag schon einmal gesprochen
hatte… Nomi lächelte.
»Und wohin willst du?« fragte Meister Adam.
»Ich muß… nur mit jemandem reden. Es wird nicht
lange dauern. Versprochen.«
Adam schüttelte den Kopf. »Nomi, das ist immer noch
meine Schule. Du kannst nicht kommen und gehen, wie es dir
gerade beliebt!« Aber er machte keine Anstalten, ihn
aufzuhalten. War wohl froh, ihn wieder los zu sein.
Nomi schnaubte. »Und wenn ich beschließe, niemals
wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen, was werdet ihr
tun? Ihr würdet eure Würde geben, um mich umzustimmen, so
sieht es doch aus.« Er fühlte sich lächeln, und er
fühlte sich böse. Es war kein Wunder, daß sein
Lehrer ihn haßte. Vielleicht wollte Nomi in Wirklichkeit
gehaßt werden. Wenn er die Leute zwang, ihn zu hassen,
konnten sie nicht mehr freundlich spielen. »Ich habe eine
Entscheidung zu treffen im Leben, eine einzige, und ihr wißt,
was davon abhängt.« Er verneigte sich kurz, bevor er
unter dem Torbogen der Treppe hindurchtrat. »Und diesmal
komme ich noch wieder, ihr habt mein Wort.«
Als er die Treppe hinunterlief,
an den Wohnräumen seines Lehrers vorbei, dachte Nomi noch,
daß er mit dem Fremden vor dem Gebäude sprechen wollte,
aber in dem Moment, als er die schwere Tür aufschob,
wußte er, daß mit wem er in Wirklichkeit reden
mußte. Er rannte raus, ohne sich noch einmal umzublicken,
ohne die Gestalt unter dem Hut auch nur eines Blickes zu
würdigen, ohne auch nur nachzuschauen, ob der noch da war.
Statt dessen lief er zu Dhuan.
Vielleicht war es das letzte Mal. Nomi kannte diesen Jungen, seit
er denken konnte, oder zumindest, solange er sich erinnerte. Er
wußte nicht einmal mehr, wie sie sich kennengelernt hatten -
sie waren einfach eine Gruppe von kleinen Jungen, die bei einander
ein und aus gingen. Dann kam die Schule, und sie blieben eine
Gruppe, und sie waren befreundet, weil sie es eben waren. Aber
sobald man anfing, das zu hinterfragen, brach es zusammen. In
Wirklichkeit waren sie sich nicht mehr viel wert.
Dhuan war nicht besser oder schlimmer als die anderen. Trotzdem
war er, bis vor wenigen Tagen, so etwas wie Nomis bester Freund,
bis Nomi beschloß, sich seiner zu entledigen. Die Wahrheit
war, er mochte Dhuan, mehr als jeden anderen seiner Freunde.
Irgendwie. Es war schwierig zu erklären. Immerhin hatte
Nomi diesen besten Freund kaltblütig in größte
Probleme gebracht. Aber wenn Nomi versuchen wollte, es zu
erklären, sollte er mit Dhuan damit anfangen. Vielleicht war
es das letzte Mal, daß er diesen Weg ging.
Nomi schluckte, als er vor dem Haus stand, blickte hoch zu Dhuans
Fenster, doch dort rührte sich nichts. Dann faßte er
sich ein Herz und klopfte, erst ganz zögerlich, dann mit
kräftigem Griff um den bronzenen Klöppel noch einmal
lauter. Dann wartete er.
Es war Dhuans Mutter, die ihm öffnete. Und womit immer sie
gerechnet hatte - es war nicht Nomi. Ihr sprachloses Staunen, und
wenn nur für einen Augenblick, konnte er ausnutzen.
»Ich bitte Euch, Hao-mu - darf ich eintreten?«
Sie blickte auf ihn hinunter, eine große Frau, deren
strenges Gesicht nicht über die geröteten Augen
hinwegtäuschen konnte. Sie hatte geweint, und Nomi ahnte,
warum. »Nomi.« Keine Anrede. Eine Feststellung.
»Warum bist du gekommen?«
Nomi verneigte sich, tiefer als eigentlich nötig. »Ich
möchte mit Dhuan reden«, sagte er.
»Bitte.«
»Er darf dich nicht mehr sehen«, erwiderte sie.
»Und du ihn auch nicht. Das weißt du. Warum kommst du
her, willst du ihn und uns noch weiter demütigen?«
Abwehrend hob Nomi die Hände. »Ich möchte mich
entschuldigen.«
»Das hilft Dhuan jetzt auch nicht weiter.«
»Vielleicht nicht«, sagte Nomi. »Aber
mir.«
Jetzt hatte er sie. Sie konnte nicht gleichzeitig zorneskalt und
verwundert sein. »Wovon redest du?«
Nomi gelang ein sanftes Lächeln. Immer lächeln, wenn er
log, soviel hatte er schon gelernt. »Eines Tages muß
ich ausziehen, um das Licht zu verteidigen«, sagte er ernst.
»Die Wirker helfen mir, gegen meinen Schatten
anzukämpfen, aber das alles hilft nicht, wenn ich dabei keine
reine Seele habe. Für das, was mit Dhuan geschehen ist, gebe
ich mir die Schuld, es belastet mich, und ich habe Angst, daß
es mich in die Dunkelheit zieht, wenn ich jetzt nicht mit meinem
Herzen aufräume.« Er verbeugte sich nochmals.
»Darum, bitte, Hao-mu, laßt mich mit Dhuan reden, ein
letztes Mal.«
Sie trat beiseite und gab die Tür frei, mit leisem Seufzen.
»Komm herein, Nomi. Warte hier. Ich werde mit meinem Sohn
sprechen. Aber es ist seine Entscheidung.«
»Seine Entscheidung ist wichtig für meine
Entscheidung«, sagte Nomi und beließ die Drohung bei
einer ganz leichten Andeutung. »Sagt ihm das.«
Dann war sie fort, und Nomi haßte sich für die
Lügen und für seine Unterwürfigkeit. Dhuan mochte
nichts davon geahnt haben, daß nichts in Nomis Leben so war,
wie ihm die anderen weismachen wollten - aber Hao-mu wußte
doch allemal Bescheid. Warum konnte er dann nicht einfach schreiend
die Wahrheit verlangen? Warum sprach er überhaupt mit ihr,
statt sich irgendwie heimlich ins Haus und in Dhuans Zimmer zu
schleichen, ohne Bitten, ohne Förmlichkeiten… Nomi
haßte sich, und die Wut brodelte in ihm so heftig, daß
er sich nicht einmal hinsetzen konnte. Er ging in der Halle auf und
ab, so lange, bis Dhuans Mutter wieder bei ihm war.
»Du kannst mit ihm sprechen, aber mach es kurz.«
Nomi lächelte gegen seinen Zorn an. »Danke«,
sagte er. »Und ich werde mich hüten, seinem schlechten
Einfluß noch einmal anheimzufallen.« Er wartete auf die
Ohrfeige, die er sich schon fünf Tage davon verdient hatte,
aber er bekam keine. Dabei hätte sie ihm gegen das mulmige
Gefühl angeholfen, als er vor Dhuans Tür trat. Er wollte
sich entschuldigen, das ja, aber er wußte nicht, wie. Und
auch nicht, warum. Er klopfte an, schob die Tür nur so weit
auf wie irgend nötig, und schlüpfte ins Zimmer.
Aber Dhuan war vorgewarnt. Er ließ sich nicht
überrumpeln und ging sofort zum Angriff über.
»Ha!«, schnaubte er. »Jetzt kommst du also
angekrochen!«
»Es tut mir Leid«, sagte Nomi schnell. »Ich habe
ja versucht, es allen zu erklären, meinen Eltern, Hemon, aber
die -«
»Ich will das nicht hören!« fiel ihm Dhuan ins
Wort. Er war heiser, bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen,
und wie auch immer er die letzten Tage verbracht hatte, es konnte
kaum angenehmer gewesen sein als Nomis Leben. »Ich will dich
nicht mal sehen. Du bist nur wegen meiner Mutter hier. Von mir aus
kannst du gleich wieder verschwinden.«
»So schnell wirst du mich nicht los!« sagte Nomi fest.
»Ich bin zum Entschuldigen hier. Und ich habe allen gesagt,
daß es nicht deine Idee war, sondern meine allein. Aber es
hat keiner hören wollen. Ich habe es ja versucht!«
Dhuan schüttelte den Kopf. »Weil ich die Schuld auf
mich genommen habe.«
»Ja, aber warum?« Nomi hätte ihn am liebsten
gepackt und geschüttelt. »Es war nicht deine
Schuld!«
»Ich hatte keine Wahl«, antwortete Dhuan bitter.
»Was erwartest du? Auf dich darf doch kein schlechtes Licht
fallen!«
»Danke«, sagte Nomi. »Du hättest das nicht
machen müssen, aber ich -« Er wollte ihm noch
sagen, wie sehr er das schätzte, was Dhuan da für ihn
tat, daß er handelte wie ein echter Freund - aber dazu kam er
nicht mehr.
»Du, du, du! Es geht doch immer nur um dich!«
brüllte Dhuan los. »Was mit mir ist, will doch keiner
wissen!«
Nomi wich einen Schritt zurück. »Schrei mich nicht
an«, sagte er leise.
Aber Dhuan war nicht mehr zu halten. »Ich habe alles gemacht
was du sagst, immer. Ich habe härter gearbeitet als alle
anderen. Und was bekomme ich dafür zurück? Schläge
ins Gesicht, sonst nichts.«
Nomi blickte ihn nicht mehr als, als er ans Fenster trat.
»Willst du wissen, warum?« fragte er. Es war nicht
nötig, laut zu werden, und mit Ruhe konnte er Dhuan mehr
entgegensetzen als mit Zorn.
»Was soll ich wissen wollen? Ehrlich, was du willst, ist mir
egal!« Dhuan trat gegen die Wand. Die Wand konnte nichts
dafür. Warum trat er nicht Nomi?
»Ich habe das mit Absicht gemacht«, sagte Nomi tonlos
zum Fenster. Ob Dhuan ihm zuhören wollte oder nicht, war ihm
freigestellt. »Du bist mein bester Freund, oder warst es
zumindest früher. Aber in letzter Zeit…« Er
wollte noch so viel erzählen - wie sich Dhuan immer mehr in
den Ehrgeiz hineingesteigert hatte, unbedingt Nomis Gefährte
zu werden, daß er an nichts anderes mehr zu denken schien.
Nomi wollte ihn behalten, als Freund - aber er kam nicht mehr zu
weiteren Erklärungen. Dhuan packte ihn von hinten bei der
Schulter, riß ihn herum, und schlug ihm seine Faust vors
Kinn.
»Ich hasse dich!« schrie Dhuan. »Ich hasse dich!
Du hast mir das einzige weggenommen, was mir im Leben etwas
bedeutet hat, und dann wagst du zu behaupten, daß du mein
Freund bist?«
Nomi starrte ihn an, sprachlos. Er hatte mit einer Ohrfeige
gerechnet, aber nicht damit, daß sie so weh tat. Er
schluckte, und schluckte nochmal, und wußte nichts zu
antworten.
»Ja, da starrst du mich an!« schnaubte Dhuan.
»Hättest nicht gedacht, daß es mal jemand wagt,
deine Heiligkeit zu schlagen, was?«
Nomi schüttelte den Kopf. Sein Kinn tat weh, aber nicht nur
sein Kinn. »Ich verstehe ja, daß du wütend auf
mich bist. Ich hab es ja etwas verdient -«
»Etwas?« fauchte Dhuan.
Nomi zuckte die Schultern. Er mußte sich zur Gelassenheit
zwingen, aber das gelang ihm ganz gut. »Ich habe den Palmwein
mitgebracht, aber du hättest ihn ja nicht trinken
müssen.«
Dhuan schlug noch einmal nach ihm, aber diesmal wich Nomi aus. So
gern wurde er nun auch wieder nicht geschlagen. »Und was
Besseres fällt dir nicht ein? Erst ruinierst du mein Leben,
dann kommst du, um mich zu verhöhnen?«
Nomi schüttelte den Kopf und versuchte es nochmals.
»Ich wollte mit dir reden, und sagen, daß wir trotzdem
befreundet bleiben können, mir ist egal, was unsere Eltern
sagen.«
Dhuan machten einen Schritt rückwärts. Und statt noch
einmal zu versuchen, Nomi zu schlagen, begann er zu lachen.
»In welchem Land lebst du? Warum sollte ich dein Freund sein
wollen?«
»Sprich. Weiter.« sagte Nomi tonlos. Er kämpfte
das Zittern in seiner Stimme nieder. »Ich dachte immer, wir
wären Freunde.« Nein, das dachte er seit einiger Zeit
nicht mehr, aber er hatte es doch irgendwie gehofft.
»Ich bin nicht dein Freund«, antwortete Dhuan kalt.
»Ich kann dich nicht ausstehen. Wenn du es wissen willst, ich
habe dich noch nie ausstehen können. Alles was ich wollte war,
meinem Land zu beweisen, daß ich es wert bin.«
»Aber du bist es nicht«, sagte Nomi brüchig.
»Jetzt nicht mehr.« Nicht mehr für das Licht. Und
nicht mehr für Nomi. Dann ließ er Dhuan stehen und ging,
mit langsamen, achtlosen Schritten. Er hatte keinen
Abschiedgruß für Hao-mu übrig und auch keinen Blick
zurück, als er das Haus hinter sich ließ. Zum letzten
Mal.
Seine Füße trugen ihn, aber er spürte sie nicht
mehr. Sein Körper endete irgendwo unterhalb seiner Augen. Es
war egal. Es tat nicht weh. Es sollte nicht wehtun. Glauben war
nicht wissen. Die Wahrheit hatte einen Preis. Aber Nomi hatte sich
nie gefragt, ob er bereit war, den auch zu bezahlen.
Nomi wußte nicht, wie
lang er ziellos durch die Straßen wanderte. Alles in ihm war
dumpf und leer. So mußte sich sein Schatten fühlen, wenn
er in den Talisman gebannt war. Jetzt war es umgekehrt. Jetzt war
Nomi sein eigener Schatten.
Er wußte nicht, warum es ihm so schlecht ging. Dhuan hatte
nichts getan, als das zu bestätigen, was Nomi seit Tagen,
Wochen im Grunde seines Herzens wußte. Seine Freunde waren
nicht seine Freunde. Es ging ihnen nur darum, ein Held werden zu
dürfen. Dafür waren sie bereit, alles zu geben, sogar,
Freunde zu spielen. Nomi verachtete sie zurecht. Eigentlich sollte
er sich jetzt gut fühlen. Kein schlechtes Gewissen mehr
gegenüber Dhuan - da hatte es den richtigen getroffen. Nomi
war im Recht, und Nomi hatte Recht - warum fühlte er sich
dann, als hätte er sich selbst aus seinem Körper
hinausgebannt?
Irgendwann begannen Nomis Augen zu brennen. Da erst merkte er,
daß er nur blicklos ins Leere starrte, sich bewegte wie ein
Blinder, oder wie in der Dunkelheit. Licht oder Dunkel, bis zu dem
Moment war es egal, aber nun tat es weh, und seine Augen wollten,
daß er sich entschied: Entweder sie schließen und sich
sein eigens Dunkel schaffen und zulassen, daß sie weinten, um
die Freunde, die er nie hatte, und um seine verpfuschte Existenz in
einer Welt, die ihm zu hell war. Oder es runterschlucken, die Augen
auflassen und geradeaus schauen, keine Tränen
verschütten, die Welt verfluchen und sich neue Freunde
schaffen. Nomi konnte sich nicht nochmal tagelang
wegschließen. Er hatte eine Entscheidung getroffen, als er
beschloß, die Wahrheit herauszufordern. Jetzt mußte er
diesen Weg bis zum Ende gehen.
Mit zitterndem Herzen und zusammengekniffenen Lippen rieb Nomi
sich die Augen, straffte sich, und machte sich mit bösem,
offenen Blick auf den Weg zurück zur Schule. Zumindest kannte
er seine Stadt gut genug, um sich nicht mehr zu verlaufen, auch
wenn er wirklich in einer Ecke gelandet war, wo er wirklich nichts
zu suchen hatte. Der Weg zurück zur Schule dauerte viel
länger, als seine ganze ziellose Wanderung gebraucht haben
konnte. Aber das gehörte dazu, und es gab Nomi noch ein
bißchen Zeit, sich wieder zu fangen, zu beruhigen, und zu
überlegen, wie er nun seinem Lehrer und den anderen
entgegentreten sollte. Eines wußte Nomi sicher: Er wollte
niemanden mehr wie einen Freund behandeln müssen, der keiner
war.
Als er sein Schulgebäude erreichte, zum zweiten Mal an diesem
Tag, war Nomi bereit, die ganze Welt zu hassen und er ihr auch zu
sagen - und dann sah er, zum zweiten Mal an diesem Tag, den Fremden
mit dem großen Hut auf den Stufen sitzen.
Nomi wußte nicht, wie lange er fortgewesen war, aber egal
wieviel Zeit es auch sein mochte: Es konnte nicht sein, daß
sich jemand in der ganzen Zeit nicht bewegt hat, kein
bißchen. Und doch erschien dieser Mensch in genau der
gleichen Haltung, in der Nomi ihn zurückgelassen hatte, halb
in sich versunken, halb an die Mauer gelehnt, den Kopf gesenkt,
eine Hand auf dem Schoß, die andere irgendwo hinter dem
Rücken. Nomi stutzte, rieb sich die Augen, und fragte sich zum
ersten Mal, ob er sich diese Gestalt nicht in Wirklichkeit einfach
nur einbildete. Er wartete auf die Ankunft der Sha-ura, da war es
nicht verwunderlich, wenn er Anfing, Schwarze Jäger zu sehen,
wo keine waren - aber wie auch immer man sich die Schergen der
Dunkelheit vorstellen mochte, sie trugen keine solchen Hüte.
Nicht in Nomis Einbildung, zumindest.
Nomi stutzte, und blinzelte, aber er hatte keine Angst. Er ging
näher heran, ohne zu starren, ohne zu schleichen - er stieg
einfach nur die Stufen hoch, eine nach der anderen, und als er oben
angekommen war, setzte er sich dazu, wortlos. Er hatte es nicht
eilig. Und an der Seite eines reglosen schweigenden Fremden war es
zumindest ruhig. Vielleicht bildete sich Nomi ihn deswegen ein:
Weil er ihn beneidete.
Nach einem Moment rutschte Nomi etwas näher an den anderen
heran. Es war Neugier. Er wollte wissen, ob das nun ein richtiger
Mensch war oder nur ein Schemen. Hörte man ihn atmen, war es
ein Mensch. Roch er warm und staubig, war es ein Mensch. Aber wenn
es still war und Kälte verströmte, dann war es ein Geist.
Oder ein Schatten. Ein abgelegter Schatten, gebannt und verlassen.
Nomis Schatten?
Und in diesem Moment wandte die Gestalt Nomi den Kopf zu.
Ein Gesicht, bleich, mit schmalen Zügen, hohen Wangenknochen,
nur vermutlich Menschlich, aber ohne jeden Zweifel lebendig. Das,
was die ganze Zeit über an Lebendigkeit in den Bewegungen
gefehlt hatte, lag nun in diesen Augen, die Nomi von oben bis unten
musterten, und in den Lippen, die sich spöttisch spitzten und
dann zu einem Lächeln verzogen. »Möchtest du,
daß ich aufstehe? Sitze ich auf deinem Platz?«
Nomi sprach oft mit leiser Stimme, um die Leute zu zwingen, ihm
wirklich zuzuhören, aber gegen diesen Mann kam er nicht an.
Ein Mann, mit Sicherheit - die dunkle Stimme strafte die
Gesichtszüge Lügen, die ebenso zu einer Frau hätten
passen mögen. Die Stimme war dunkel, bedächtig, leise,
und - reif, ein Wort, das Nomi noch nie für eine Stimme
verwendet hätte. Sie klang nicht alt, wie Hemons Stimme. Was
sie hatte, war ihre ganz eigene Würde.
Nomi schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen
Platz«, sagte er und versuchte es ebenso leise, aber es klang
unsicher und belegt.
Der Mann lächelte, indem er seine Mundwinkel sehr weit nach
oben bog. »Dann ist ja alles in Ordnung.« Es war nicht
die Erwiderung, mit der Nomi gerechnet hätte. Dann senkte der
Fremde das Haupt wieder, verschwand hinter der Krempe seines Hutes
und saß wieder in fast der gleichen Haltung wie zuvor, nur
mit einem Unterschied: Jetzt war zumindest etwas von seinen Haaren
zu sehen, ein unordentlich geflochtener Zopf von staubblonder
Farbe, der ihm über die Schulter fiel.
»Es tut mir leid, wenn ich Euch gestört habe«,
sagte Nomi. »Beachtet mich nicht.«
»Wenn ich jemanden nicht beachten will«, antwortete
der Mann, ohne sich nochmal zu rühren, »brauche ich dazu
keine Aufforderung.«
Nomi mußte schmunzeln, doch er behielt das für sich.
»Gut«, sagte er. »Dann beachtet mich.«
»Auch das«, sagte der Hut, »ist meine eigene
Entscheidung.«
Er gab die Antworten, wie Nomi sie gerne gab oder zumindest immer
gerne geben wollte. Das gefiel ihm, und war tatsächlich das
erste an diesem Tag, was Nomi gefiel. »Wer seid Ihr?«
fragte er vorsichtig.
Der Mann lachte und schlug den Umhang beiseite, hinter dem er seit
wer weiß wie langer Zeit seinen Körper verschwinden
ließ. Da war der zweite Arm, wo er hingehörte, und eine
Hand, lang und bleich wie die andere, und sie hielt einen langen,
dunklen Gegenstand, hölzern, bei dem Nomi zweimal hinsehen
mußte, um ihn zu erkennen. Es war zu kurz für eine
Waffe, und zu dick und gleichmäßig für eine
Bannpfeife - es war eine Flöte, aber die größte,
die Nomi je gesehen hatte. »Nur einfacher
Flötenspieler«, sagte der Mann. »Ein wandernder
Flötenspieler.«
»Und habt Ihr auch einen Namen?« Nomi wußte,
daß es rüde war zu fragen, ohne selbst einen Namen
anzubieten, doch darum sollten sich andere Leute scheren. Solange
dieser Mann tat, was er wollte, mußte er ja auch nicht
antworten.
»Brauche ich einen?« fragte der Fremde.
Nomi nickte. »Ich suche Wahrheiten«, sagte er.
»Und solange Ihr nicht wandert und nicht auf dieser
Flöte spielt, seid Ihr auch kein wandernder
Flötenspieler. Und an das ‘einfach’ will ich auch
nicht glauben.«
»Dein Glaube ist deine Sache«, antwortete der andere.
»Und mein Name ist meine.«
Es war nur ein Versuch, aber der war es wert. Nomi zuckte die
Schultern. Besser keine Antwort als eine Lüge. »Wollt
Ihr wissen, wer ich bin?« fragte er weiter.
»Warum? Ist das wichtig?«
»Für mich schon«, antwortete Nomi und war
inzwischen an dem Punkt angekommen, wo er lächeln konnte und
seine Stimme nicht mehr zitterte.
»Und für mich?«
Nomi lachte leise. »Es ist an Euch, das zu
entscheiden.«
Der Mann mit dem Hut zeigte Nomi noch einmal sein Gesicht, doch
das Lachen erwiderte er nicht. »Du lernst schnell«,
sagte er.
Damit waren sie einander offiziell vorgestellt, oder auch nicht,
und konnten endlich über die Dinge reden, die Nomi wirklich
auf der Seele brannten. Wobei ‘reden’ vielleicht das
falsche Wort war: Es bedeutete zuviel gegenseitiges
Einverständnis.
»Darf ich Euch noch etwas fragen?« Nomi konnte sich
die Antwort an zwei Fingern abzählen, doch ihm fiel keine
bessere Einleitung ein. Und er bekam, was er erwartete:
»Mit Fragen ist es wie mit allen anderen Wörtern:
Niemand kann sie dir verbieten. Deine Fragen sind deine Macht.
Meine Antworten sind meine.«
»Ich weiß«, sagte Nomi. »Ich wollte nur
eine passende Überleitung. Ihr seid ein Wanderer. Ihr kommt
aus der Fremde. Ich meine - Ihr seid nicht aus diesem Land, nicht
wahr?«
Der Flötenspieler schaute an ihm hinab. »Und deine
Frage?«
»Das war meine Frage. Aus was für einem Land stammt
ihr?«
»Nein«, sagte der Fremde. »Das erst war die
Frage. Und ich glaube, daß du in Wirklichkeit etwas anderes
fragen wolltest.«
Nomi nickte. »Kommt Ihr aus einem Dunklen Land?« Er
fragte so leise, daß er es selbst kaum hörte, aber der
Mann konnte sich die Frage ja denken, wenn er sie nicht von Nomis
Lippen las.
»Muß ich aus einem Dunklen Land stammen, oder
genügt es für dich, wenn ich gerade aus einem Dunklen
Land komme?« Er lächelte dabei, und in seiner
Stimme war eine Leichtigkeit, die man bei diesen Worten nicht
erwarten durfte. Es war gut, daß gerade niemand in der
Nähe war, um ihnen zuzuhören.
Nomi antwortete erst nicht. Es machte einen Unterschied, einen
großen, ohne jeden Zweifel. »Alle unsere direkten
Nachbarländer sind dunkel«, sagte er dann. »Ihr
könnt nicht aus dem Ausland kommen, ohne gerade aus einem
Dunklen Land gekommen zu sein. Aber ich glaube, mir genügt
schon, wenn Ihr das Dunkel überhaupt kennt.«
»Warum das?« Wieder wich der Flötenspieler
geschickt einer Antwort aus, aber es war nicht an Nomi, ihn zu
zwingen, da hatte er allemal Recht.
»Euer Hut«, sagte Nomi. »Ich glaube, Ihr tragt
ihn, weil Euch das Licht zu hell ist.«
»Findest du ihn so häßlich?«
Das konnte Nomi nicht sagen. Schön oder häßlich,
das waren Dinge, die Nomi immer gleichgültig waren, wie die
Frage, was er anziehen sollte oder was seine Haare machten.
»Er hat sonst keinen Sinn«, antwortete er.
Der Mann lachte leise. »Und darauf kommt es an.«
Nomi nickte.
»Aber deine Frage verrät mir«, redete der Fremde
weiter, »daß dir selbst das Licht zu hell
ist.«
Nomi nickte. Früher nur manchmal. Zuletzt eigentlich immer.
»Das Dunkel wäre mir lieber«, sagte er. Auch so
ein Hut würde ihm da nicht genügen. Das Licht war
überall. Und wenn irgend jemand außer dem
Flötenspieler diese Worte hören konnte, hatte Nomi ein
richtiges Problem. Und auch, wenn der Mann in Wirklichkeit ein
Agent des Lichtes war, einer dieser freundlichen Leute, die den
Auftrag hatten, ein Auge auf Nomi zu halten.
Aber der Mann verhaftete ihn nicht. Oder noch nicht. Wenn, dann
war es jetzt schon längst zu spät für Nomi. Jetzt
konnte er alle Fragen stellen, ohne Angst haben zu müssen.
»Du sehnst dich also nach der Dunkelheit?«
Nomi nickte.
»Bist du ihr denn schon einmal begegnet?«
Nomi zuckte die Schultern. Begegnen, das war ein merkwürdiges
Wort. Es konnte alles bedeuten.
Der fremde Mann lächelte. »Das dachte ich mir«,
sagte er leise. »Niemand würde so denken, der sie
bereits kennt.« Er streckte eine Hand aus und berührte
mit der Spitze seines Zeigefingers Nomis Kinn. Seine
Fingernägel waren zu lang für einen Mann, und erst recht
zu lang für einen Flötenspieler. »Wie stellst du
sie dir denn vor, die Dunkelheit?«
Nomi blickte sich zu den Seiten um, ehe er antwortete. Er legte es
oft darauf an, seine Leute vor den Kopf zu stoßen, doch
manches sollten auch sie besser nicht hören aus seinem Munde.
»Sie tröstet mich«, flüsterte er dann.
»Sie beschützt mich. Das Licht blendet mich so oft, und
ich kann mich nicht vor ihm verstecken, aber die
Dunkelheit…«
»Schscht!« sagte der Flötenspieler. »So
redet einer, der das Dunkel nicht kennt. Was du dir wünschst,
ist nur, daß das Licht nicht mehr leuchtet. Das ist nicht das
Dunkel. Das Dunkel ist ebenso wahrhaftig wie das Licht. Man kann es
fühlen, aber es ist kein gutes Gefühl. Der Unterschied
zwischen dem Licht und der Dunkelheit ist folgender: Das Licht
siehst du. Aber die Dunkelheit sieht dich.«
Nomi schluckte. »Das hat mir noch nie jemand gesagt.«
Er hätte niemals damit gerechnet, ausgerechnet aus dem Mund
dieses Geheimniskrämers so viele Antworten zu bekommen!
Der Mann lächelte. »Vielleicht, um dir keine Angst
einzujagen?«
»Sie jagen mir den ganzen Tag lang Angst ein, oder sie
würden es zumindest gern - aber sie erwarten, daß ich
das Dunkel besiege, und sie sagen mir nicht einmal, was es
ist?« Nomi schnaubte. Er wußte nicht, ob es klug war,
soviel von sich zu verraten - er wartete auf die Ankunft der
Sha-ura, er wußte, daß dieser Fremde zumindest ein
dunkles Land durchquert hatte, und wenn der Nomi jetzt angreifen
sollte, trug er nichts mit sich, um sich auch nur seiner Haut zu
wehren. Das mußte er riskieren. Sonst gab es weit und breit
gar niemanden mehr, dem er trauen konnte.
Aber zumindest hatte er jetzt, spätestens, das Interesse des
Flötenspielers geweckt. Der Mann hob den Kopf und blickte Nomi
an, daß der zum ersten Mal etwas mehr von dem Gesicht unter
der breiten Krempe erkennen konnte und ein paar sehr blauer Augen.
»Das erwarten sie? Von dir? Warum von dir?«
Nomi biß sich auf die Lippen. Wer das noch nicht
wußte, der durfte es auch nicht wissen. Dann wieder…
Er zuckte eine Schulter und erwiderte das Lächeln. »An
irgend einem bleibt es wohl hängen«, sagte er.
»Und das bin in diesem Fall ich.« Er schaffte es, dabei
fast vergnügt zu klingen. »Ich sagte doch, daß ich
wichtig bin. Ich bin«, er machte eine Pause, nicht aus
Unsicherheit, aber um sich aufzurichten. Manche Worte sprach man am
besten im Stehen. »Ich bin der aus der
Prophezeiung.«
Und wenn der Flötenspieler jetzt seinen Hut und Mantel abwarf
und darunter ein Schwarzer Jäger war, dann sollte er das ruhig
sein. Nomi hatte genug vom Versteckspielen, und vom Lügen. Und
- ganz ehrlich - so sehr hing er nicht an seinem Leben…
Aber der Mann blieb auf den Stufen sitzen, blickte Nomi nur an,
legte die Hände aneinander und bettete sein Kinn auf ihre
Spitzen, und wirkte so, als ob er auf etwas wartete. Sah er etwas,
das Nomi nicht sehen konnte? Oder hatte er einfach nur die besseren
Ohren?
Denn im nächsten Moment wurden die Türflügel des
Schulhauses aufgerissen, und wie schon bei Nomis Ankunft an diesem
Tag war es Kavi, der dahinter auftauchte, gefolgt von ein paar
anderen Jungen, Yun und Vali. »Komm, Nomi, du hast jetzt
wirklich genug geschmollt! Jetzt komm schon rein, und - was machst
du da?«
Nomi verneigte sich in Richtung des Flötenspielers.
»Ich unterhalte mich mit jemandem, dessen Gespräche ich
den euren vorziehe.« Er lächelte, vor allem, als er
Kavis verwirrtes Gesicht sah. Der Fremde lächelte zurück
und legte eine Hand an die Krempe seines Hutes.
Kavi blickte sich um. »Und wer soll das dann sein?«
fragte er, nicht ohne Hohn. Er war vielleicht ein Lügner und
Speichellecker, wie alle, die sich Nomis Freunde nannten, aber sein
Stolz reichte aus, um eine Beleidigung auch zurückzugeben.
Der Flötenspieler stand auf und zog mit der gleichen weich
fließenden Bewegung den Hut von seinem Kopf. »Ich
glaube, es ist an der Zeit für mich«, sagte er.
»Zeit für was?« fragte Nomi. »Zeit zum
Gehen noch nicht!« Aber niemand achtete mehr auf ihn. Denn in
diesem Moment ging alles so schnell, als hätte jeder nur
darauf gewartet; als wäre dies eine Prüfung durch Meister
Adam, die ein jeder der Jungen zu gewinnen hatte.
Yun riß sein Schwert hervor und brüllte etwas, das Nomi
nur halb verstehen konnte, aber es klang wie »Stirb,
Bestie!«
Vali stürzte sich mit einem Satz von der Treppe auf Nomi und
riß ihn zu Boden, begrub ihn unter seinem Körper und
raubte ihm die Sicht. »Bleib unten! Rühr dich
nicht!« zischte er - als ob Nomi eine andere Wahl hatte, und
die hätte er gerne gehabt, statt schmerzhaft auf seinem
Ellbogen zu landen und sich nicht einmal wieder aufrappeln zu
können, um den Arm zu entlasten.
Im Fallen und über Valis Schulter konnte Nomi gerade noch
sehen, was Kavi tat. Er war von den drei Jungen am nächsten am
Flötenspieler dran, und seine Bewegungen waren die
schnellsten. Seine rechte Hand fuhr in die weite Tasche seiner Robe
und sofort wieder heraus, und dann blitzte etwas Weißes auf,
nur für einen Moment, aber Nomi wußte, was es war. Ein
Zauber.
»Verdammt, Vali, geh von mir runter!« fluchte Nomi. Er
wollte gerne brüllen, aber er bekam kaum Luft - Vali hielt ein
Knie in Nomis Bauchgegend und war auch sonst nicht der
allerleichteste. Schließlich gelang es Nomi, sich unter dem
Jungen hinauszuwinden, genau in dem Moment, als Vali auch schon
wieder aufstand, aber da war es bereits zu spät.
Der Flötenspieler stand dort auf der zweitobersten Stufe, den
Hut in der Hand, den Mund halb geöffnet, erstarrt mitten in
der Bewegung, und vor seiner Brust saß ein Papierstreifen,
bemalt mit Symbolen, die Nomi gar nicht kennen wollte. Und neben
ihm stand Kavi und strahlte über das ganze Gesicht.
»Ihr habt das alle gesehen!« sagte er mit vor Stolz
fast berstenden Stimme. »Das habe ich ganz allein gemacht!
Meister Adam hat das nicht gesehen, das ärgert mich, aber ihr
werdet es ihm sagen, ja?« Er atmete schnell vor Aufregung,
als ob er gerade einen großen Kampf gewonnen hätte.
Nomi konnte nur den Kopf schütteln, sich den Ellbogen reiben,
und versuchen, seine Wut irgendwie im Zaum zu halten. Wenigstens
bekam er wieder genug Luft, um Kavi anzubrüllen: »Warum
hast du das gemacht? Darf ich mich nicht einmal mehr unterhalten,
oder was?«
Er wußte nicht, was die anderen von ihm erwarteten, und er
konnte auch sein Gesicht in diesem Augenblick nicht sehen. Aber es
reicht offenbar aus, daß Vali hinter ihn trat und ihn
festhielt, wenigstens nur bei der Schulter.
Yun steckte sein Schwert zurück. Er konnte vor Glück
sagen, wenn ihn niemand damit gesehen hatte. Schüler durften
und mußten einen Dolch mit sich führen - bis auf Nomi,
natürlich - aber natürlich keine Schwerter. Auch wenn es
nur eine Übungswaffe war - Gesetz war Gesetz, und dieses hatte
Meister Adam persönlich aufgestellt. »Laß
ihn«, sagte er. »Er hat es nicht gesehen.«
»Ich glaube mehr«, entgegenete Kavi und wischte sich
mit dem Handrücken über das Gesicht, »er hat
es gesehen.«
Nomi war vieles, aber nicht dämlich. Er mußte keine
Fragen mehr stellen um zu wissen, warum niemand außer ihm den
Flötenspieler beachtet hatte. Wie Nomi es an diesem Tag ja
schon mindestens fünfmal angenommen hatte: Niemand außer
ihm konnte den Fremden sehen, zumindest bis zu dem Moment, wo der
den Hut abnahm. Was auch die Frage beantwortete, warum er ihn
überhaupt trug, aber nicht, warum es gegen Nomi nicht wirkte.
Gut, Nomi war der Auserwählte, da mußte er mit so etwas
rechnen. Wer ein Schwert aus Glas führen sollte, der konnte
auch jemanden sehen, der eine Tarnkappe trug. Und danach fragen
konnte Nomi den Mann immer noch. Wenn man ihn denn ließ,
hieß das. Denn damit sah es im Moment schlecht aus.
»Wir haben uns nur unterhalten«, sagte er schnell.
»Er hat mir nichts getan. Er ist ein einfacher wandernder
Flötenspieler, mehr nicht.«
»Was ein Dunkler auch sagen mag…« Yun
ließ seinen Satz halb und höhnisch in der Luft
stehen.
Nomi deutete auf die Hand des gebannten Mannes, die immer noch die
große Flöte umklammert hielt. »Da«, sagte er
ruhig. »Flöte.«
Yun und Vali blickte Kavi fragend an, doch der zuckte die
Schultern. »Mit sowas kenne ich mich nicht aus. Aber er hat
das Ding nicht benutzt, oder?«
Nomi schüttelte den Kopf, und obwohl sie sich nicht damit
auskannten, reichte es den drei anderen Jungen aus, um erleichtert
aufzuatmen. Kavi bließ sich eine Haarsträhne aus den
Augen.
»Also gut«, sagte er. »Wir haben nicht mehr viel
Zeit. Yun, du läufst hoch und sagst Meister Adam Bescheid,
daß er sofort runterkommen soll. Vali, du rennst zur Halle
der Wirker, so schnell du irgend kannst, und holst Meister Hemon.
Ich halte diesen…« Er suchte nach einem Wort, und
‘Flötenspieler’ gefiel ihm offenbar nicht.
»Diesen Mann hier solange fest.«
Die beiden gehorchten sofort, aber vielleicht waren sie auch
einfach nur froh, wegzukommen.
Nomi seufzte und schüttelte den Kopf. »Wozu das Ganze?
Er ist doch schon gebannt.«
Kavi schnaubte. »Das ist ein kleiner Papierzauber, was
meinst du, wie lange der vorhält? Ich hab noch zwei davon in
der Tasche, wenn der sich wieder rührt, aber ich bin nicht
Hemon, falls du sowas glauben solltest.«
Nomi setzte sich auf die Treppe und wartete. Es war der falsche
Moment, um mit Kavi zu streiten. Nicht, solange der noch zwei
Zauber in der Tasche hatte und bereit war, sie auch einzusetzen.
Diese Papierzauber gehörten zu dem Gräßlichsten,
was Nomi kannte. Und daß Kavi diese Dinger jetzt selbst
herstellte… Bannrauch war Gold dagegen. Die Verteidigung des
Flötenspielers konnte sich Nomi für die zweifellos
ausstehende Vernehmung aufsparen.
Und froh sein, wenn ihn bis dahin selbst niemand
bannte.
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