Das Licht stach Nomi in den
Augen, sie begannen zu tränen, bevor er auch nur eine Hand
vors Gesicht reißen konnte. Es tat weh, aber schlimmer war,
daß Nomi nicht verstand. Licht? Warum Licht?
Er schluckte, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht,
und sah sich um - und sah das Dunkel. Es war hinter ihm. Es
müßte vor ihm sein - nein, auch das nicht: Um ihn. Er
war ins Dunkel eingetreten, und das Gefühl würde er im
Leben nicht vergessen, es war schrecklich, seine Seele wurde von
innen nach außen gekrempelt, aus ihm herausgerissen,
während Shen… Nomi stutzte, faßte sich an die
Stirn, um klarer denken zu können. Shen hatte etwas…
Shen hatte ihn… Nomi wußte es nicht mehr. Er lachte
bitter.
»Ich habe es nicht geschafft, nicht wahr?« fragte er
in das blendende Licht hinein. Wenn Shen jetzt wenigstens auf
seiner Seite war, in jedem Sinn des Wortes!
»Nein«, sagte Shen, und Nomi merkte zu spät,
daß diese Antwort alles bedeuten konnte. Aber wenigstens
ließ der Schmerz in seinen Augen langsam nach, und er
gewöhnte sich an das Licht. Er sah nicht auf das Dunkel hinter
sich, er sah zu Shen hin, der genau so aussah, wie Nomi ihn zuletzt
gesehen hatte - aber die Landschaft, in der er stand…
»Was wird hier gespielt?« fragte Nomi scharf.
»Wo sind wir? Das ist nicht mehr Tolai - warum ist es dann
nicht dunkel?«
Shen schüttelte den Kopf. »Du glaubst, ich schulde dir
eine Erklärung?«
»Ja!« schnaubte Nomi. »Ja, das tut Ihr!«
Mit jeder Sekunde bemerkte er mehr Kleinigkeiten, die nicht
paßten. Seine Kleider - das waren nicht seine Kleider,
soviel konnte Nomi sagen, auch wenn man ihn nicht fragen durfte,
was er denn vorher getragen hatte. Kleider eben. Aber nicht diese.
Und die Schuhe waren auch falsch. Es waren richtige Schuhe, wie
Nomi sie seit dem Moment des Aufbruchs vermißt hatte, Schuhe
aus Leder - aber daß sie sich jetzt so plötzlich an
seinen Füßen saßen, entschuldigte gar nichts!
Nur sein Schatten war noch da, wo er hingehörte, und so
böse und dunkel, wie Nomi ihn liebte - er hatte sich auf das
Dunkel gefreut bis zu dem Moment, wo er es betreten mußte,
doch nun hatte es ihn ausgespieen, irgendwo, ohne Erinnerung, und
die guten Schuhe waren dafür ein schlechter Tausch.
»Du hast Recht«, sagte Shen. Was Nomi Sorgen machte:
Der Flötenspieler lächelte dabei nicht. Er war so ernst,
wie man bei drei kurzen Worten sein konnte. »Gehen
wir.«
Nomi nickte. Soviel wußte er zumindest: Daß sie
Abstand zur Grenze gewinnen mußten, zu welchem Land auch
immer sie gehören mochte. Das Dunkel wollte ihn nicht, und es
wollte ihn so wenig, daß ihm selbst diese Nähe jetzt
schon zuviel war. Diese schwarze Wand stieß ihn ab, hinein in
eine Fremde, von der man nur sagen konnte, daß es dort hell
war.
Eine Weile gingen sie schweigend. Nomi hatten Fragen, viele
Fragen, doch er wußte nicht, mit welcher er anfangen sollte,
und auch nicht, wann der richtige Zeitpunkt dafür war. Das
Gehen in den neuen Schuhen war fremd, er fühlte zuviel Welt
unter seinen Füßen, jede Unebenheit, jeder Stein, den er
früher einfach mit seinen Holzsohlen in den Boden getreten
hätte, stellte sich nun mit Namen vor.
Nach einer Weile, als er das Dunkel nicht mehr in seinem
Rücken spüren konnte, fragte er Shen, irgendeine seiner
vielen vielen Fragen. Da der Flötenspieler sie vermutlich
nicht beantworten würde, war egal, welche er zuerst
ignorierte. »Werde ich dann auch erfahren, was Ihr
seid?« fragte er.
Shen lachte leise - das war ein gutes Zeichen, ohne dieses Lachen
war Shen nicht Shen. »Ist dir das wichtiger als zu erfahren,
was du bist?«
Nomi schüttelte den Kopf und lachte zurück. »Ich
bin kein Was. Ich bin immer noch ein Wer. Aber bei Euch bin ich mir
da nicht so sicher.«
»So?« fragte Shen. »Wer bist du denn?«
»Nomi«, sagte Nomi. »Jetzt und immer noch und
für alle Zeit, Nomi.«
»Bist du dir sicher?«
Nomi zwinkerte. »Nein.«
»Sehr gut«, sagte Shen. »Das mag ich an
dir.« Und obwohl es sich anfühlte, als wäre es das
erste Mal, daß Shen überhaupt sagte, daß und ob er
irgend etwas an Nomi mochte, war es nicht das, was der hören
wollte.
»Und ich mag nicht an Euch«, sagte Nomi trotzig,
»daß Ihr mir nie das verratet, was ich wissen will und
muß. Vor allem, nachdem Ihr es eben noch versprochen
habt!«
Shen strich sich mit unschuldigem Blick übers Kinn.
»Wann soll ich dir etwas versprochen haben? Ich verspreche
nichts, das weißt du. Niemals.«
Nomi seufzte. »Aber Ihr habt gesagt, Ihr schuldet mir
Rechenschaft…« Er verdrehte die Augen. »Ich
verstehe schon. Ihr meintet, Ihr schuldet sie mir, nicht, daß
Ihr diese Schuld eingestehen würdet.«
Shen lachte hellauf, so vergnügt, wie sein belustigter
Normalszustand kaum jemals zulassen sollte. »Wirklich, Nomi,
ich weiß, wie du das siehst - aber ich gebe es zu, genau
diese Art von Wortgeplänkel hat mir in der letzten Zeit
einfach gefehlt.«
Vielleicht war es Absicht, daß er damit etwas preisgab, aber
wenn nicht, durfte sich Nomi dieses Gelegenheit nicht entgehen
lassen. »Zeit? Wieviel Zeit? Und warum? Was ist im Dunkel
geschehen?« Die Fragen brachen aus ihm heraus, eine nach der
anderen, jetzt sollte sich Shen einfach eine aussuchen, irgendeine,
sie waren alle wichtig. »Was ist mit mir? Warum bin ich nicht
Nomi? Was ist im Dunkel passiert?« Die letzte Frage hatte er
zwar schon einmal gestellt, fast wortgleich, aber sie war am Ende
das, was Nomi am dringendsten interessierte.
»Wie immer stellst du zu viele Fragen«, sagte Shen,
nachdem er Nomi am Ende seines Wortschwalls noch eine höfliche
Pause gewährt hatte, ob vielleicht noch etwas nachkommen
sollte. »Und du glaubst nicht, daß ich dir antworten
werde, denn sonst hättest du sie vielleicht besser
gegeneinander abgewogen. Du weißt, daß ich
unmöglich alles auf einmal beantworten kann. Die
Antworten, die du suchst, sind nicht nur ja oder nein. Sie brauchen
Zeit, jede einzelne von ihnen.«
Nomi seufzte. »Wenn Ihr meint, ich bin nicht reif für
Antworten, dann sagt es mir ins Gesicht. Und wenn Ihr meint,
Ihr seid nicht reif zum Antworten, sagt mir das
auch.«
Shen schüttelte den Kopf. »Du mußt deine
Antworten bekommen, so schnell wie möglich. Eben weil die
Antworten viel Zeit brauchen, und weil ich nicht weiß,
wieviel Zeit dir und mir noch bleibt. Und ich glaube nicht,
daß du diese Antworten von jemand anderem als mir bekommen
solltest, auch wenn ich nicht der einzige bin, der sie
kennt.«
»Und mit welcher Frage soll ich dann anfangen, was meint
Ihr?« Nomi schüttelte den Kopf. »Wirklich, meine
Fragen kennt Ihr schon längst, jede einzelne, auch die, die
ich noch niemandem gestellt habe, einfach weil Ihr die Antworten
kennt. Dann fangt doch einfach mit der Antwort an, die Ihr für
geeignet haltet, ich nehm alles, was ich kriegen kann.«
Shen atmete ein, und aus, und ein, mit soviel Hingabe wie er sonst
sicher nur seinem Instrument widmete. Nomi sah auch seine Hand, wie
sie sich um die Flöte spannte - aber jetzt sollte der Mann ihm
nicht entkommen, jetzt nicht mehr! »Gehen wir noch ein
Stück«, sagte er dann, leise und etwas zögerlich.
»Irgendwann, wenn ich merke, daß es der richtige Ort
ist, fange ich an zu reden.«
»Und wenn ich Euch dann unterbreche?« fragte Nomi. Er
wußte es besser, als zu fragen, ob er Fragen stellen durfte.
Shen war berechenbar bis an die Grenze der Langweiligkeit.
Shen seufzte. »Wenn du mich glaubst, unterbrechen zu
müssen, wirst du einen Grund dafür haben, denn man sollte
erwarten, daß meine Antworten kostbar für dich sind.
Wenn du mich also dennoch unterbrichst, werde ich auch darauf
eingehen.« Er strich sich mit der Hand eine Strähne aus
dem Gesicht, bevor er hinzufügte:
»Irgendwann.«
»Die Prophezeizung, die
deine Geburt angekündigt hat - ich nehme an, du kennst sie gut
genug, als daß ich sie dir noch einmal vorsagen
muß.« Nomi nickte, obwohl es nicht darauf ankam, Shen
kannte die Antwort und wartete auch nicht darauf. »Sie hat in
ihrer großen Weisheit vergessen, zwei kleine Dinge zu
erwähnen: Das eine ist das Wann, und das andere ist das
Wo.«
»Das weiß ich schon.« Jetzt unterbrach Nomi ihn
doch schon gleich am Anfang, aber er wollte wirklich nichts
erzählt bekommen, was er schon längst wußte, und
dies wußte er. Seit seiner Geburt, sozusagen. Oder
zumindest seit seiner ersten Begegnung mit Meister Hemon.
»So?« Shen hob seine Mundwinkel. »Wenn du schon
soviel weißt, warum stellst du dann soviele Fragen?« Er
klang, zum Glück, so belustigt, als ob er mit genau dieser
Reaktion gerechnet hatte. »Dann sag mir doch, wann du geboren
worden bist, und wo.« Er fragte nicht ohne Grund, soviel
wußte Nomi. Und auch, daß ihm jetzt kalt und heiß
und kalt zugleich wurde.
»Ich weiß es nicht«, sagte er daher leise.
»Ich war nicht dabei - also, ich kann mich nicht daran
erinnern.« Er schüttelte sich. Die Vorstellung,
daß er ein zweites Leben hatte, von dem er nichts
wußte, ein Leben im Dunkel, gefiel ihm nicht gut genug, als
daß er jetzt daran denken wollte.
Shen legte einen Finger an seine Lippen, und Nomi verstummte.
»Du warst nicht dabei«, sagte er. »Das stimmt
schon, mehr mußt du nicht sagen. Sie werden dir erzählt
haben, daß du in dieser Stadt geboren wurdest… Tolai,
nicht wahr? Und wann, vor vierzehn Jahren, oder vor fünfzehn,
oder wann? Wenn sie es dir überhaupt gesagt haben, heißt
das natürlich.«
Nomi schüttelte den Kopf. »Der Tag war wichtig. Ich
habe mich immer gewundert, daß er nicht in der ganzen Stadt
gefeiert wurde, oder im ganzen Land, oder auf der ganzen Welt, ich
meine - sie haben Hunderte von Jahren auf mich gewartet, oder? Aber
an irgendwas muß man doch merken können, das wieder ein
Jahr um ist. Meine Eltern zählen die Tage. Ich bekomme jedes
Mal einen Kuchen und ein paar neue Sachen, die ich nicht brauche,
aber immerhin. Ich weiß, wann ich geboren bin.«
»Du weißt, wann du deinen Geburtstag feierst, das ist
etwas anderes«, sagte Shen, und er klang seltsam traurig bei
den Worten. »Und wie alt sollst du jetzt sein?«
Nomi lachte, schon um Shen wieder aufzumuntern. »Ich bin
vierzehn. Glaube ich zumindest.«
»Nach meinen Berechnungen«, sagte Shen düster,
»bist du fünfzehn. Und das nicht mehr lange. Hast du
dich noch nicht gewundert, daß du größer bist als
alle deine Freunde?«
Nomi winkte ab, und es war nett von Shen, noch etwas hintendran zu
hängen, auf das Nomi eingehen konnte. »Bin ich doch gar
nicht«, sagte er. »Yun und Vali sind größer
als ich, zum Beispiel.«
»Aber nicht immer«, sagte Shen so sicher, als
wäre er dabeigewesen. »Sie sind dir jetzt über den
Kopf gewachsen. Als ihr kleine Kinder wart, bist du
größer als sie gewesen. Sie sind wirklich erst vierzehn.
Man hat sie absichtlich so ausgesucht, sieben Jungen, alle
ungefähr zu der Zeit geboren, als du angeblich auf die Welt
gekommen bist.«
»Und die Wirklichkeit?« fragte Nomi dumpf. Mehr
brachte er nicht heraus. Und mehr wollte er auch eigentlich schon
gar nicht mehr hören.
»Du wurdest nicht in Tolai geboren«, sagte Shen leise,
als ob irgend jemand außer Nomi da war, der die Antwort auf
keinen Fall hören durfte. »Und auch in keinem anderen
hellen Land. Du stammst aus dem Dunkel.« Er machte eine
Pause, die Nomi nicht zu unterbrechen wagte. »Und dein Name
ist nicht Nomi.«
Nomi schwieg. Er wollte, daß Shen weiterredete. Er wollte
alles erfahren, und wenn er selbst bis zur nächsten Grenze
kein Wort sagen sollte - Shen mußte weiterreden, alles sagen
was er wußte - und er wußte alles.
Doch Shen schwieg. Und er sah nicht gut dabei aus. Als ob jedes
Wort ihn Kraft gekostet hätte, wirkte er plötzlich alt
und müde. Es paßte nicht zu ihm - Nomi hatte keine
Ahnung, wie alt Shen sein mochte, es gab keine Hinweise auf alt
oder jung, er war so zeitlos wie das Licht, in dem Nomi gefangen
war. Aber nun war er plötzlich alt, und das war nicht gut.
Sein Gesicht war bleicher als sonst, und zerfurcht, aber das
eigentlich alte waren seine Augen.
Nomi blickte ihn an, wortlos, wagte sich tiefer in den Blick des
Mannes, der sonst nie etwas von sich preisgab und der gerade
zuließ, daß seine Augen so viel verrieten. Nomi sah das
Dunkel in Shens Augen, soviel Dunkel, daß er Angst bekam. War
das sein Geheimnis? Das, was Meister Ando behauptet hatte,
daß Shen eine Kreatur des Dunkels war? Und das Dunkel dort
hatte, wo richtige Menschen ihre Seele hatten? Soviel
Dunkel… soviel Trauer…
Nomi mußte den Blick abwenden, er ertrug es nicht mehr. Das
Dunkel kroch aus den Augen des Mannes, in Nomi hinein auf eine Art,
die sich nicht gut anfühlte - plötzlich merkte Nomi,
daß nicht er derjenige war, der gerade in einen Anderen
hineinsah. Er konnte seinen Schatten fühlen, nicht neben ihm
am Boden, sondern in sich, wie ein fremdes lebendes Wesen.
»Wer bin ich dann?« fragte er.
»Du bist Nomi«, sagte Shen langsam. »Solange du
im Licht bist, bist du Nomi.«
»Und im Dunkel?« Eigentlich mußte Nomi nicht
mehr fragen. Soviel hatte er sich schon zusammenreimen können,
seit er sich an der Grenzlinie ohne Erinnerung und mit fremden
Kleidern wiederfand. Im Dunkeln war er ein anderer. Alles was ihm
jetzt noch fehlte, war ein Name, aber was sollte ein Name noch
ändern können?
»Als du damals über die Grenze gebracht wurdest«,
sagte Shen statt einer Antwort, und er blickte nicht Nomi dabei an,
sondern nur seine Flöte, und es war klar, daß
damals länger her sein mußte, »da ist etwas
passiert. Vorher nicht, vorher warst du nur einer, nur ein kleiner
Junge, der von einem Leuchten umgeben war und auf dem die Hoffnung
einer ganzen Welt lag. Aber als sie dich über die Grenze
brachten - wurde ein Pakt geschlossen. Vielleicht.«
»Was für ein Pakt?« fragte Nomi verwirrt. Es
klang, als wisse auch Shen nicht wirklich, über was er da
sprach.
»Ein Pakt…« Shen wich aus. Seine Stimme
zitterte, seine Gesten wurden fahrig. »Ich kann es nicht
erklären, ich kann selbst nur raten - entweder, dein Schatten
hat einen Pakt geschlossen, um die Grenze überschreiten zu
können, oder es war von Anfang an vorgesehen, es gehört
zur Prophezeiung, und du warst von Anfang an zwei
Personen…« Er brach ab, als ob ihn etwas würgte.
Als ihn die Hüter gefoltert hatten, klang Shen nicht so
schlimm wie in diesem Moment. Nomi hatte Mitleid mit ihm und
haßte ihn gleichzeitig dafür.
»Der, der an seiner eigenen Seite kämpft«,
murmelte er, um dieses Schweigen irgendwie zu füllen.
»Und ich habe immer gedacht, das meinte meinen
Schatten.« Vielleicht meinte es beides? Aber das war es
nicht, was Nomi in Wirklichkeit sagen wollte. Er durfte nicht
zulassen, daß sich die Öffnung, die Shen ihm da bot,
gleich wieder schloß. Nomi fühlte sich böse und
schäbig, aber er durfte jetzt nicht locker lassen, und wenn es
bedeutete, Shen bis zum Schmerz zu quälen… »Ihr
habt selbst einen Pakt abgeschlossen, ist es nicht so?«
fragte er laut und ruhig. »Darum wißt Ihr darüber
Bescheid - aber weil Ihr nicht über Euren reden dürft,
könnt Ihr nicht über meinen reden.«
Von ihm aus reichte es, wenn Shen nickte - Nicken mußte doch
noch erlaubt sein!
Shen rührte sich nicht. Er stand dort wie gebannt, und Nomi
war nicht einmal sicher, ob er überhaupt atmete.
»Es hilft nichts«, sagte Nomi. »Da
müßt Ihr jetzt durch, und wenn Ihr Euch nicht gut
fühlt dabei, was soll ich dann sagen? Ihr kennt meine
Geheimnisse und sagt sie mir nicht und fragt nicht, wie es mir
dabei geht, glaubt Ihr, ich bin glücklich? Glaubt Ihr, es
macht mir Spaß, nach jedem Bißchen Wissen schnappen zu
müssen wie ein Hund, dem mit einer Wurst vor der Nase
herumgewedelt wird, und alles was er bekommt sind Knochen?
Daß ich nicht weiß wer ich bin? Soll ich jetzt Mitleid
mit Euch haben?« Nomi hatte Mitleid, aber das brauchte Shen
nicht zu wissen. »Ihr habt Euch entschlossen, mich zu
begleiten, nicht aus Gnade, sondern weil Ihr auf der Suche nach mir
wart, ich will nicht wissen warum oder was Ihr mit mir vorhabt -
aber Ihr handelt auf eigene Gefahr, und wir müssen miteinander
auskommen, wer weiß für wielange, und wenn ich Eure
Wunden aufreiße und Euer Geheimnis aufdecke, dann ist das
Euer Pech, dann müßt Ihr damit leben.« Nomi
schnaubte. »Und wenn Ihr schon anfangt, von Pakten zu reden,
und kein Geheimnis draus macht daß Ihr weder eßt noch
schlaft - was soll ich dann denken? Ihr wollt doch, das ich denke,
nicht wahr? Also gut, ich denke. Euer Pakt. Euer Pech.«
Nomi ging hin und her, während er sprach, blickte dabei zu
Boden und nicht Shen an: Harte Worte waren eine Sache, das war eine
Art von Gemeinheit, in der Nomi erfahren war, aber einen harten
Anblick wollte er doch lieber vermeiden. Shen schwieg.
»Also gut«, redete Nomi weiter. »Ich werde mir
gleich einen Ruheplatz suchen und mich hinlegen, und wenn ich
schlafe, könnt Ihr auf Eurer Flöte spielen, ich denke
doch, das könnt Ihr nur, wenn Ihr allein seid, nicht wahr?
Dann erholt Euch, Ihr habt es nötig, ruht Euch aus, auf Eure
Art, und danach…« Er atmete noch einmal durch und
wagte es doch immer noch nicht, Shen anzublicken. »Danach
werden wir unsere Reise fortsetzen, aber nicht so wie bisher. Ihr
werdet mir sagen, was los ist, mit mir und mit Euch, und wenn Ihr
Blut spuckt, ich will die Wahrheit. Oder ich werde
beschließen, daß Ihr für mich wertlos seid und es
niemals Vertrauen zwischen uns geben kann, und dann werde ich Euch
verlassen und mir einen eigenen Weg suchen.«
Er unterdrückte ein Zittern, das er nicht hätte
erklären können - Wut? Angst? Haß? Seinen
jahrelangen Freunden den Laufpaß zu geben war ihm leichter
gefallen als das jetzt. Aber immerhin hatte er eine Lösung
angeboten, was wollte Shen mehr, und wenn er sich erst einmal
erholt hatte…
»Nein«, sagte Shen abrupt.
Nomi fuhr herum. »Was?« Eigentlich hatte er genug vom
Streiten, er wollte nur noch ein Lager suchen und sich hinlegen,
das war ernst gemeint, er hatte ja keine Ahnung, seit wann er nicht
mehr geschlafen hatte.
Shen stand immer noch an der gleichen Stelle, hielt immer noch
beide Hände um die Flöte gekrampft, und sah immer noch
erbärmlich aus, aber in seinen Augen war etwas, das ihn
aufrechter wirken ließ. Er lächelte nicht.
»Nein«, sagte er nochmals, sehr ernst. »Dann
sollen sich unsere Wege noch heute trennen, jetzt, wenn es sein
muß - ich werde mich nicht davonstehlen während du
schläft, also laß es uns jetzt tun, du gehst deinen Weg
und ich meinen.«
Nomi starrte ihn an und fühlte nur noch, wie seine
Gesichtszüge ihm entglitten. Er konnte nur den Kopf
schütteln. Das hatte er nicht gemeint, und nicht gewollt.
»Ich habe meinen Preis gezahlt«, sagte Shen.
»Aber ich bin nicht bereit, deinen zu zahlen.«
Nomi biß die Lippen zusammen. Wenn Shen jetzt eine
Entschuldigung erwartete, konnte er lange warten.
»Gut«, entgegnete Nomi kühl. »Dann ist es
das wohl.« Er starrte zu Boden, wußte nicht, auf wen er
jetzt wütender sein sollte.
»Du verdienst Antworten«, sagte Shen und machte einen
Schritt auf ihn zu. »Ich weiß das ebenso gut wie du.
Ich kann sie dir nicht geben. Wenn wir so weitergehen wie bisher,
wird nur deine Ungeduld wachsen, und dein Ärger, und es
ändert nichts. Du kennst deinen Weg, du kannst ihn ohne mich
gehen.«
Nomi versuchte zu nicken. Immer seinem Schatten nach - dafür
brauchte er Shen nicht. Er brauchte ihn für andere Sache,
brauchte ihn, um jemanden zum Reden zu haben, es war ja nicht so,
daß er Shen nicht mochte - aber er mochte diese Situation
nicht. Wenn es so weiterging, würde er Shen eines Tages so
sehr hassen wie die Leute von Tolai; es war egal, warum sie
schwiegen, es ging nur darum, daß sie es taten. »Ich
finde den Weg«, sagte er. »Und ich nehme an, Ihr kennt
ihn auch ohne mich - wir werden uns wieder begegnen, nicht
wahr?« Es war keine Frage, es war eine Feststellung.
Shens Antwort war keine Antwort. »Als ich dich das erste Mal
verloren habe«, sagte er, »hat es viel zu lange
gedauert, bis ich dich wiedergefunden habe.«
Nomi blickte ihn schweigend an - vielleicht wollte er ja doch noch
etwas sagen? Aber Shen schüttelte den Kopf.
»Dann war es schon zu spät«, sagte er leise.
»Und ja, ich denke, wir werden uns wiedersehen. Aber ich
weiß nicht, wer du dann sein wirst.«
Nomi versuchte ein Lächeln. »Oder Ihr?«
Kopfschütteln. »Du weißt schon jetzt nicht, wer
ich bin. Ich will, daß es so bleibt. Für dich wird es
keinen Unterschied geben.«
»Dann werde zumindest ich Euch erkennen.« Nomi machte
sich so zuversichtlich, wie es irgendwie ging. »Und was mich
angeht - im Zweifelsfall seht Ihr meinen Schatten.« Noch
während er sprach, wurde ihm die Zunge lahm. Sobald er in die
nächste Stadt kam, und die konnte nicht mehr weit sein,
würde er direkt den Hütern des Lichts in die Hände
fallen - und deren erste Tat würde es sein, den Schatten
wieder sonstwo hin zu bannen… Dann gelang es ihm doch wieder
zu lachen. Sobald er aus der Stadt heraus war, ging das Spiel doch
wieder von vorne los. Noch einmal ließ sich Nomi den Schatten
nicht für vierzehn Jahre wegnehmen!
»Ja«, sagte Shen ruhig. »Und jetzt geh und such
nach deinen Antworten.«
»Und dem gläsernen Schwert?« fragte Nomi.
»Wenn du der Prophezeiung glaubst«, sagte Shen,
»mußt du das nicht suchen. Das wirst du finden. Aber
sie sagt nichts von deinen Antworten.«
»Dann«, sagte Nomi, »finde ich
beides.«
Sie umarmten sich nicht, als sie auseinandergingen. Sie nickten
einander nur zu und gingen, kein Lächeln mehr, kein
Händeschütteln, keine Worte mehr, und doch ein Abschied,
der für immer dauern konnte. Und dann war Nomi
allein.
Alleinsein war seltsam. Es
gefiel Nomi, aber er konnte nicht sagen, ob es ihm mehr gefiel, als
nicht allein zu sein. Es war fremd. Sein ganzes Leben lang waren
andere Menschen um ihn gewesen, Eltern, Lehrer, Freunde, Shen. Sie
hatten ihm begleitet, ihn beschützt, ihm Entscheidungen
abgenommen. Jetzt waren sie alle fort. Niemand mehr, der für
Nomi dachte als Nomi selbst - war es nicht so am besten? Nur Nomi
und sein Schatten, zwei, die seit Jahrhunderten füreinander
bestimmt waren - niemand zum Reden. Niemand zum Trösten. Was,
wen Nomi wieder anfangen würde zu träumen? Und niemand da
war, kein Shen, keine Flöte, keine Musik? Aber es war, wie es
war, und es war gut. Es mußte gut sein - sonst hatte Nomi
keine Ahnung, wie er das durchhalten sollte.
Er machte lange Schritte, um schneller vorwärtszukommen, die
Augen weit in die Ferne gerichtet, in die Fremde. Es war nicht mehr
nötig, die ganze Zeit über auf seinen Schatten zu starren
- der erinnerte ihn auch nur daran, daß sonst niemand mehr da
war. Aber die Fremde - die war immer fremd, wenn Shen dabei war und
wenn nicht. Jetzt kam Nomi endlich dazu, sich das Land um ihn herum
einmal anzusehen. Wenn er dazu verdammt war, nur in hellen
Ländern leben zu können, mußte er das ausnutzen: Im
Licht konnte er wenigstens sehen, wo und woran er war. Und je
weiter er vorwärts kam, desto fremder und neuer wurde das
Land. Ganz anders als die Gegend um Tolai - nicht nur diese
endlosen Felder, sondern Hügel, grüne Hügel, auf
denen Tiere weideten. Hügel waren aufregend, weil er nie ahnen
konnte, was hinter ihnen lag. Und Hügel waren anstrengend, es
ging rauf, es ging runter, und dahinter kam der nächste
Hügel - es gab Wege, die um sie herumführten, aber die
durfte Nomi nicht nehmen, wenn sein Schatten den Hügel hinauf
wollte…
Die Tiere waren noch dümmer als die Schweine, sie liefen
nicht weg, wenn sie ihn kommen sahen, und auch nicht, wenn sein
Schatten auf sie fiel. Sie waren dick und wollig. Nomi erkannte sie
als Schafe, auch wenn er noch nie vorher Schafe gesehen hatte -
aber so fügte sich ein Stein zum anderen. Nomis Vater, oder
der Mann, von dem er immer noch als Vater dachte, war
Tuchhändler. Tuch machte man aus der Wolle von Schafen, Nomi
hatte Bilder davon gesehen, auch wenn sie ihn so wenig
interessierten wie alles andere, das mit dem Geschäft seines
Vaters zu tun hatte - aber es gab keine Schafe in ihrem Land, keine
Wolle, und eigentlich auch kein Tuch. Damit die feinen Leute von
Tolai sich in den guten Stoff von Dai dem Tuchhändler kleiden
konnten, mußten in einem anderen Land die Schafe geschoren
werden, die Wolle gewoben, und das Tuch dann mit Karawanen durch
die Dunkelheit gebracht - Karawanen, schwer bewacht, begleitet von
mehr Wächtern und Hütern, als Schafe auf diesen
Hügeln weideten - kein Wunder, daß Nomis Vater reich
war! Trotzdem, die Vorstellung, daß diese guten Tücher
aus dem gelblichen, fettigen, schmutzigen, übelriechenden Fell
dieser mürrisch dreinblickenden Tiere gemacht wurde - kein
Wunder, daß sie hier den Stoff in andere Länder
verkauften. Wenn man einmal ein Schaf getroffen hatte, fühlte
sich das Tuch auf der Haut plötzlich ganz anders an, schmutzig
und kratzend.
Aber das konnte auch daran liegen, daß Nomi nicht
wußte, was in der Zwischenzeit mit seinen Sachen geworden
war, und wer sie getragen hatte… Nomi schüttelte sich.
Wenn er die nächste Stadt erreichte, brauchte er neue Sachen.
Und Essen, viel Essen. Wenn er jetzt daran dachte, wieviel er bei
seiner Mutter gelassen hatte, das er später so dringend
hätte brauchen können - aber das gehörte zum Leben
dazu, daß man hinterher klüger war…
Mit seinem Stab scheuchte Nomi Schafe beiseite, die ihm den Weg
versperrten. Natürlich, er konnte um die Herde herumgehen,
aber wozu? Wer war auserwählt, die Schafe oder er? Eben. Dann
konnten die Schafe auch mal Platz machen. Wenn sie schon sonst zu
nichts gut waren und nicht reagierten, wenn man versuchte mit ihnen
zu sprechen - am liebsten hätte Nomi mit dem Stab um sich
geschlagen, auf die Schafe, auf die Büsche, auf irgendetwas -
er wußte nicht warum, aber er war wütend. Unglaublich
wütend. Er konnte nicht sagen, auf wen oder was oder wo das so
plötzlich herkam, aber in Wahrheit war es nicht
plötzlich. In Wahrheit war das eine Wut, die ihn schon seit
Jahren begleitete, länger als er denken konnte, und nun, wo
Nomi endlich allein mit sich war, wollte sie heraus. Es war so
sinnlos! Was brachte Wut, wenn diejenigen, der sie galt, nicht da
waren? Nomi konnte brüllen und um sich schlagen und ließ
es sein. Auf wen konnte er hier wütend sein? Auf sich selbst?
Oder doch nur auf Shen?
Nomi schüttelte den Kopf. Er vermißte Shen - das war
vielleicht nicht verwunderlich, wo sie doch seit Tolai jeden Tag
gemeinsam verbracht hatten. Aber Nomi vermißte seine Eltern
nicht, die er doch viel länger und viel besser kannte, und er
vermißte seine Freunde nicht oder Meister Adam oder die
Hüter oder sonstwen. Er vermißte nur Shen. Oder
vermißte er in Wirklichkeit nur die Antworten, die er nicht
bekommen hatte? Nomi fluchte, wo es niemand hören konnte, und
machte sich an den nächsten Hügel. Seine Beine waren
schwer und müde.
Langsam wurde es wirklich Zeit, ein Lager aufzuschlagen, auch wenn
Nomi Angst davor hatte. Nicht vor dem Schlaf - vor dem
Träumen. Kein Hüter, um ihn vor seinen Träumen zu
beschützen. Kein Shen, um ihn in seinen Träumen zu
beschützen. Nur Nomi allein, nur er und die Traumbilder, zum
ersten Mal in seinem Leben. Vielleicht war es gut so. Vielleicht
waren dort die fehlenden Antworten verborgen, wenn Nomi nur den Mut
hatte, ihnen entgegenzutreten. Wenn er mit offenen Augen dem
Schrecken entgegentrat - was hatte er zu fürchten als die
Wahrheit?
Nomi schluckte, schüttelte den Kopf, rempelte ein Schaf
beiseite, und schleppte sich weiter, solange ihn seine
Füße noch trugen. Er wollte seine Antworten bekommen,
als Antwort, aus dem Munde eines Menschen. Sie sollten ihn nicht
jahrelang anlügen und glauben, sie wären fein raus, nur
weil Nomi irgendwann die Wahrheit träumte - sie sollten selbst
damit herausrücken. Shen, Hemon, Adam - sie hatten die
Antworten, die Nomi wollte. Nicht Träume. Träume waren
Schummel.
Nomi war sehr zufrieden mit dieser Ausrede. Ja, er fürchtete
die Träume. Aber er mußte es nur noch bis zur
nächsten Stadt durchhalten…
Zweimal schlief Nomi, ehe er
endlich eine Stadt erreichte, zweimal erschöpft und traumlos -
vielleicht träumte er, er wußte es nicht, doch sein
Schlaf war tiefer als alles. Aber die Stadt war Rettung,
Erlösung und Strafe zugleich. Sie lag nicht auf Nomis Weg,
sein Schatten wollte an ihr vorbei und nicht hindurch, als kenne er
sein Schicksal nur zu gut; er wollte nicht gebannt werden, doch
Nomi wußte, daß es keinen Weg drumherum gab. Egal was
sein Schatten wollen mochte - Nomi brauchte Proviant, er brauchte
ein Bad, und vor allem brauchte er andere Menschen. Ob sie ihn
bannten oder nicht, war ihm gleich. Er hätte mit Sha-ura
Vorlieb genommen oder seinen Mitschülern, nur um nicht noch
länger allein zu sein. Ob die Stadt schwarz war, ob sie
weiß war, ob man ihn dort liebte oder haßte - Nomi
ignorierte seinen Schatten, kaum daß er vom Hügel aus
diesen dunklen Fleck dort unten liegen sah, der aus Häusern
bestand und aus Menschen. Er mußte ja nicht für lange
dortbleiben, und danach sollte sein Schatten ihm wieder dienen und
ihm die Richtung weisen - diesen Weg wählte Nomi allein, und
er wählte ihn für sich.
Wie Tolai war auch diese Stadt von Mauern umgeben, gelbe Mauern
waren das, keine weißen, aber ihr Zweck war derselbe: Das
draußen lassen, was dunkel war, und nur das hinein, was
Licht. Nomi lachte leise bei der Vorstellung - was sollte er tun,
sich entzweiteilen? Die Stadt mochte so groß sein wie die,
die er kannte, und noch etwas hatten beide Orte gemeinsam: Als er
von einem Hügel, dem hoffentlich letzten für einige Zeit,
auf sie hinuntersah, wie sie dort so friedlich und hell lag,
blickte er direkt auf den großen Turm in der Mitte der Stadt,
der alles überragte, der auch die Hügel sicher
überragen mußte und alles andere. In Tolai wußten
sie, daß der Turm das Herz des Lichtes war - ob die Stadt
dunkel wurde, wenn der Turm fiel? Und ob Nomi dann Nomi blieb? Er
konnte es nicht herausfinden. Es lag in Nomis Macht, so einen Turm
zu besteigen. Nicht, ihn umzustürzen. Ob es in den dunklen
Ländern auch Türme gab, dunkle Türme? Nomi
schüttelte den Kopf. Es sollte für ihn ein Geheimnis
bleiben, für immer.
Nomi fühlte sich vom Turm beobachtet, als er den Hügel
hinunterstapfte und sich auf den Weg zum Stadttor machte, aber
Menschen waren keine zu sehen, bis er sich endlich den Torwachen
gegenübersah - und ihren langen, bösartig aussehenden
Spießen. Nomi machte ein grimmiges Gesicht und packte seinen
Stab mit besonderem Nachdruck - die würden ihn so oder so
für eine Bedrohung halten, dann aber doch zumindest um eine
ernstzunehmende. Jetzt konnte er nur noch hoffen, daß sie
zumindest die gleiche Sprache sprachen. Denn wenn es darauf ankam,
mit diesem Stab zu kämpfen…
»Halt!« rief der eine Wachmann. »Keinen Schritt
weiter, im Namen des Lichts!«
Nomi blieb stehen, sicher war sicher. Spieße hochkant
mochten ja noch in Ordnung gehen, wenn man als Kämpfer von
mangelndem Talent mit etwas Mut gesegnet war - aber diese
Spieße waren auf ihn ausgerichtet, und dann hielt sich der
Mut doch etwas in Grenzen. »Tut nichts, was Ihr später
bereuten würdet!« rief er aus sicherem Abstand den
Wachen zu. »Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber ich reise
auch im Namen des Lichts.« Oder auch nicht, wer wußte
das schon so genau, aber hatte er eine Wahl? Und war es klug, etwas
anderes zu behaupten? Das war nicht Tolai, wo jeder Nomi kannte und
er sich eine Menge herausnehmen konnte. »Ich bin Nomi«,
setzte er hinterher, als ob der Name hier so bekannt war wir
drüben. »Und ich werde hier erwartet.« Was nicht
mal gelogen war. Er wurde erwartet, seit die Prophezeiung das erste
Mal in Umlauf kam…
»Woher kommst du?« fragte der Mann schroff. »Was
hast du hier zu schaffen?« Aber wenigstens kamen sie nicht
näher. Nomi hoffte, daß sie Angst vor dem Schatten
hatten und sich nicht trauten, Nomi zu berühren, und zu dumm
waren um zu erkennen, daß sie mit ihren Spießen nicht
auf das Berühren angewiesen waren.«
»Ich suche die Hüter«, sagte Nomi. Diese beiden
waren es nicht wert, daß er ihnen seine ganze Geschichte
erzählte, und vermutlich würden sie ihm ohnehin keinen
Glauben schenken. »Ich komme aus einem dunklen Land, ich kann
das Tien in mir spüren, wenn ich nicht bald zu einem
Hüter gebracht werde, wird es mich verzehren.«
»Du gestehst, daß du eine Kreatur des Dunkels
bist?«
Nomi schüttelte den Kopf. »Ich stamme aus Tolai, das
ist ein helles Land wie Eures. Ich bin auf einer Reise. Ich brauche
einen Hüter. Und mehr habt Ihr nicht zu wissen.« Es war
gelogen, das war das Schlimmste. Wenn er Shen glaubte - und er
glaubte Shen, denn wenn der log, würde er es wenigstens tun
und sich nicht so verdammt zieren, ehe er etwas preisgab - stammte
er mitnichten aus Tolai, und mitnichten aus dem Licht. Trotzdem,
das ging die Wachmänner weniger als nichts an. »Und wenn
Ihr mir nicht traut, dann werde ich hier mit Euch warten, oder mit
einem von Euch, während der andere einen Hüter
holt.« Nomi hoffte, daß es in dieser Stadt
überhaupt Hüter gab. Es gab hier Schafe, das ganze Land
war anders als sein eigenes - warum sollten dann ausgerechnet die
Hüter gleich sein?
»Du willst uns trennen? Glaubst du, dann wirst du leichter
mit uns fertig, Dunkler?« Machten diese Wachen Witze, oder
meinten sie das ernst? Nomi seufzte.
»Da, wo ich herkomme, muß man nur laut genug
Tien rufen, dann kommt schon ein Hüter angerannt. Ist
das bei Euch nicht ebenso?« Er machte ein paar Schritte
zurück und setzte sich dann auf den Boden, den Stab neben
sich, ganz friedlich. »Ich bleibe jetzt hier sitzen und
versuche nicht, Euch etwas zu tun oder die Stadt zu betreten, und
dann warte ich so lange, bis Ihr mir einen Hüter
holt.«
Und dann, endlich, hörten sie auf ihn.
»Sagt mir nur eines, wenn
Ihr es wißt, Ando.« Eine Frage, mit der dieser Mann
nicht rechnete. Eine Frage, auf die er keine Lügen vorbereitet
hatte. »Was ist ein Pakt?«
Einen Moment lang schien Ando zusammenzuzucken, nur kurz, aber
Nomi gefiel es. Dann hob der Hüter seine Mundwinkel zu einem
müden Grinsen. »Soll das eine Drohung sein?«
Nomi, der selbst schon seine Antwort auf die Rückfrage
‘Warum fragst du?’ auf den Lippen hatte, schloß
den Mund wieder. »Weil ich - was?«
»Willst du mich erpressen?« fragte Ando leise und
ruhig. »Du hast erfahren, daß ich ein Paktierer bin,
und glaubst nun, außer dir weiß das niemand?«
Nomi konnte nur den Kopf schütteln. »Das meinte ich
doch überhaupt nicht…«
»Es ist kein Geheimnis«, sagte Ando. »Nicht
für die, die es etwas angeht. Dich geht es nichts
an.«
»Ich meinte nicht Euch«, erwiderte Nomi schnell.
»Aber jetzt habt Ihr zuviel verraten, jetzt bin ich neugierig
- was ist ein Pakt? Und was ist Eurer?«
Ando trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme
vor der Brust. Einen Moment lang hielt Nomi es für
Überheblichkeit, doch dann begriff er, daß es eine
Abwehrgeste war: Es gab nur wenig Punkte, in denen Ando und Shen
einander ähnelten, aber wenn es um ihre Pakte ging, blockten
beide. Und das Grinsen in Andos Gesicht war umgeben von reichlich
Blässe, als er sagte: »So? Wen meinst du dann? Daß
dein Freund Shen ein Paktierer ist, solltest du doch schon lange
wissen, nicht wahr?«
Nomi schüttelte den Kopf. »Ihr habt mich so wortreich
vor ihm gewarnt und vergessen, diese Kleinigkeit zu erwähnen -
wundert Euch nicht, wenn ich erst jetzt mit diesem Thema ankomme.
Ich bin kein Paktierer - wie soll ich es dann wissen?« Er war
kein Paktierer. Er hoffte, daß er keiner war. Und daß,
wenn doch, Ando jetzt mit der Sprache herausrücken würde.
Immerhin ging es nicht um ihn selbst…
»Es war nicht wichtig.« Antos Stimme war vielleicht
ein wenig heiserer als sonst. »Nicht für dich, meine
ich. Nichts, wovor du gewarnt sein müßtest. Ich habe
dich gewarnt vor dem, was der Flötenspieler ist - nicht davor,
wie er dazu geworden ist. Das kann dir egal sein.«
»Euch ist es nicht egal«, sagte Nomi.
»Das ist meine Sache.«
»Nicht mehr.« Nomi trat einen Schritt auf Ando zu,
sah, wie sich dessen Arme vor der Brust anspannten. »Ihr habt
es zu meiner Sache gemacht, gerade eben, als Ihr es mir verraten
habt - dann will ich auch den Rest wissen.«
»Welchen Rest?« Vielleicht wollte Ando noch etwas
weiter zurückweichen, aber hinter ihm war Wand.
»Über mich? Wenn ich glaubte, daß du auch nur
einen Deut um meine Geschichte geben würdest, hätte ich
sie dir längst erzählt.«
Nomi schnaubte. »Wißt Ihr, um welche Geschichte ich
eine ganze Menge geben würde? Um meine eigene!«
Ando antwortete nicht, aber seine Haltung entspannte sich ein
wenig. Solange er nicht wieder die Oberhand gewann, solange er
nicht versuchte, seine besonderen Fähigkeiten an Nomi
auszuprobieren, sollte er das ruhig. Was immer seine Seite des
Paktes gewesen sein mochte - er hatte etwas dafür bekommen.
Konnte den Willen eines Menschen brechen. Shen lebte ohne Essen
oder Schlaf - wenn Nomi wirklich einen Pakt geschlossen haben
sollte: Er war übers Ohr gehauen worden. Man ging einen Pakt
ein, um etwas zu bekommen, nicht um etwas zu verlieren.
»Wenn Ihr nicht gekommen sein, um mit mir zu reden«,
sagte Nomi leise, »warum habt Ihr Euch dann überhaupt
auf den Weg gemacht?«
Ando lächelte. »Weil ich es kann«, sagte er.
»Gehört das auch zu Eurem Pakt?« fragte Nomi. Er
wußte nicht, wie man mit Ando am besten umging - das
einfachste war, ihn jetzt wie Shen zu behandeln und hoffen,
daß vielleicht etwas mehr dabei herauskam.
Das Lächeln wurde etwas breiter. »Das tut es.«
Wortreich konnte man ihn nun wirklich nicht nennen…
Nomi schüttelte den Kopf. »Ihr seid nicht zu Fuß
gekommen, das wüßte ich, Ihr seid mir nicht gefolgt. Ihr
würdet nicht so lächeln, wenn Ihr eben noch quer durchs
Dunkel gereist wärt, und Eure Robe ist auch noch zu
sauber.« Aber welchen Schluß sollte er daraus ziehen -
daß Meister Ando fliegen konnte? Sicher nicht.
»Und was willst du damit sagen?« fragte Ando.
»Daß ich mich verhöhnt fühle«,
antwortete Nomi heftig. »Ich nehme hier das ganze auf mich,
gerate in Gefahr, und Ihr hüpft einfach von Land zu Land
-«
»Sei still!« fuhr Ando ihn an. »Halt den Mund!
Du wolltest es so, erinnere dich mal daran. Wir hätten dir
einen Hüter als Begleitung mitgegeben - nicht mich, aber einen
anderen, der sein Handwerk versteht: Du wolltest nicht. Du bist
losgestürmt, du hast dir den nächstbesten Paktierer als
Begleitung ausgesucht, also hör jetzt auf, dich zu beschweren!
Freu dich lieber, daß ich jetzt da bin, daß du dich
nicht allein mit den Hütern hier herumschlagen mußt,
denn sie sind weit davon entfernt, dir zu trauen - ich bin jetzt
hier, und das sind auch für mich Strapazen, und ich erwarte
keinen Dank dafür, aber halt deinen Mund.«
Nomi machte einen Schritt zurück, nicht erschrocken, aber
erstaunt von soviel Heftigkeit. »Entschuldigung«,
rutschte es aus ihm heraus, dann fing er sich wieder,
kopfschüttelnd. »Wenn Ihr meinen Tonfall nicht
mögt, dann sagt mir doch, wie Ihr mich gern hättet, jetzt
wo wir beide hier sind. Was muß ich machen, damit Ihr, damit
irgend jemand, mir endlich einmal die Wahrheit sagt?« Er
schluckte, und schluckte nochmal. Plötzlich fühlte er
sich klein und weit weg von zuhause. Es war schwer, sich einen so
großen Fehler einzugestehen, aber vielleicht hatte Ando ja
Recht. Vielleicht war Nomi dumm, kopflos und übereilt
losgestürmt. Vielleicht war Shen ein Fehler. Alles waren
Fehler. Und Nomi war irgendwo in einem fremden Land, allein, und
der einzige, den er hier kannte, war einer, der ihn nicht ausstehen
konnte… In diesem Moment vermißte Nomi alle, und
alles. Sogar Meister Hemon. Aber am meisten vermißte er einen
Sinn in allem. Er war nicht hier, um die Welt zu retten oder das
Schwert zu finden. In Wirklichkeit ging es ihm doch nur um sein
eigenes Geheimnis. Und dafür war er am falschen Ort. Nur ein
dummes trotziges Kind…
»Ando…«, sagte er leise und war fast froh,
daß er auf die vorherige Frage noch keine Antwort hatte.
»Wenn Ihr wieder nach Tolai zurückkehrt, auf Eurem Weg,
meine ich - könnt Ihr… könnt Ihr mich dann
mitnehmen?«
Ando schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich das wollte -
es geht nicht. Wenn alle Menschen so reisen könnten wie ich,
von Halle des Lichts zu Halle des Lichts, bräuchten wir keine
Karavanen mehr, und es würden weniger Menschen an die
Dunkelheit fallen. Es mag sein, daß du jetzt bitte bereust,
aber du kannst nicht zurück, Nomi. Du bist aufgebrochen, dann
mußt du deinen Weg jetzt bis zum Ende gehen.« Seine
Stimme kam ohne das kleinste Bißchen Mitleid aus. »Die
Prophezeiung ist kein Spielzeug, das du nach deinem Belieben
benutzen kannst.«
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