»Das ist er
also?«
Fast war Nomi enttäuscht, daß Shen so gelassen auf
Nomis Schatten reagierte - wenn schon nicht mit Entsetzen, dann
doch zumindest mit Erstaunen, oder Interesse - aber statt dessen
klang der Flötenspieler nur beiläufig amüsiert, als
hätte er in Wirklichkeit mehr erwartet. Aber immerhin, er
sagte etwas, und das war bei ihm schon etwas wert.
Nomi räkelte und streckte sich. Endlich frei! Keine
drückenden Kopfschmerzen mehr, kein eingeschnürter
Brustkorb, endlich durfte Nomi er selbst sein - nur daß ihn
dafür das Bündel auf seiner Schulter schon jetzt
drückte, wo sie kaum hundert Schritte zurückgelegt
hatten, das störte ihn etwas. »Ja!« sagte er
vergnügt. »Das ist er - nein, das bin ich!« Er
wollte irgendetwas verrücktes tun, wie hüpfen, Saltos
schlagen, der Stadt hinter ihm eine lange Nase zeigen - aber er
mußte niemandem mehr seine Freiheit beweisen. Er konnte
einfach frei sein.
»Und was wirst du jetzt tun?« fragte Shen, ein wenig
skeptisch. »Willst du der Prophezeiung folgen, oder hast du
kein anderes Ziel als die Dunkelheit? Und wenn ja,
welche?«
Nomi lächelte ihn an. »Folgt mir einfach. Ich kenne
meinen Weg.« Und leise fügte er hinzu: »Und ich
will von dieser Stadt weg, zumindest weit genug, daß man uns
nicht mehr belauschen kann.«
Er streckte noch einmal die Schultern, dann schritt er munter los,
gleich in der Mitte der Straße. Solange es noch eine
Straße gab, sollten sie das auch ausnutzen. Bald sollten es
nur noch Feldwege sein, dann gar keine Wege mehr, und dann…
das Dunkel. Aber erst einmal wollte Nomi die Straße unter
seinen Füßen spüren. Es juckte ihn, die Holzschuhe
auszuziehen und auf bloßen Sohlen zu laufen, so neu war
dieses Erlebnis für ihn - die Straße war wild und rau,
aus großen und kleinen Steinen gepflastert und ganz anders
als die sandbestreuten Wege in der Stadt. Er ließ die Schuhe
an; ihm gefiel das Geräusch, das sie machten, ein
fröhliches freies Klappern, und es beflügelte ihn,
daß er das Gefühl hatte, auch viel schneller
vorwärtszukommen als in der Stadt.
Und die Luft war auch anders. Es roch viel besser - nicht nach
Menschen, Schweinen und Kalk, sondern nach Freiheit, Staub und
Feldern. Nomi konnte nicht widerstehen; er mußte ein
Stück rennen wie er noch nie gerannt war, mit fliegenden
Füßen, nur bis zur nächsten Wegmarke, dann konnte
er auf Shen warten. Und das Licht kam ihm gar nicht mehr so hell
vor wie noch am Vormittag, fast freundlich - aber jetzt hatte Nomi
ja auch einen Schatten, den er ihm entgegensetzen
konnte…
Nomi lachte, lachte und verschnaufte gleichzeitig, und wartete auf
den Flötenspieler, der mit ruhigen, bemessenen Schritten
aufschloß. Kurz versuchte Nomi, sich Shen rennend
vorzustellen, aber das konnte er nicht. Hast und Hektik
paßten zu diesem Mann ebensowenig wie Herumgebrülle oder
Gefräßigkeit. Shen wanderte mit einer auf langen Wegen
erworbenen Gleichmäßigkeit, mit der er sicher weite
Strecken zurücklegen konnte, ohne aus der Puste zu kommen.
»Wenn du vor mir davonrennen wolltest«, sagte Shen,
als er Nomi fast erreicht hatte, »bist du nicht weit
gekommen.«
»Ich wollte rennen«, antwortete Nomi. »Für
Euch ist das nichts neues, aber ich war noch nie außerhalb
der Stadtmauern. Ich bin noch nie durch die Felder
gerannt.«
»Ist das so?« fragte Shen zurück, aber es war
keine Frage, auf die er eine Antwort benötigte. »Du
wirst wissen, was du tust, aber vergeude deine Kräfte
nicht.«
»Glaubt Ihr, daß heute noch… etwas passieren
wird?« fragte Nomi. »Etwas, wofür ich sie brauchen
werde?« Er faßte seinen Stab fester. Er hoffte,
daß er ihn doch erst einmal nur zum Wandern brauchen
sollte.
Shen schüttelte den Kopf. »Das hängt ganz davon
ab, welchen Weg du einschlägst - oder ob du überhaupt
einen Weg einschlägst.« Er deutete mit dem Arm auf die
Felder, die links und rechts den Weg säumten. »Das
Dunkel liegt dort - und dort - und vor uns. Such aus, welches du
willst.«
Nomi nickte. »Aus welchem davon seid Ihr
gekommen?«
Shen lächelte und zog den Hut etwas tiefer ins Gesicht.
»Willst du dorthin, wo ich herkomme, oder dorthin, wo das
Gläserne Schwert auf dich wartet?« Und Nomi kannte ihn
jetzt zumindest gut genug, um zu verstehen, daß er keine
andere Antwort auf diese Frage bekommen sollte.
»Sind alle Dunklen Länder gleich?« versuchte es
Nomi an einer anderen Frage. »Ich meine - gleich dunkel? Und
sind alle Hellen Länder gleich hell?«
»Wie ich dir schon sagte«, antwortete Shen.
»Licht und Dunkel sind absolut. Wenn du das meinst, sind alle
Hellen Länder gleich und alle Dunklen auch. Was anders ist,
sind die Menschen, die dort leben. Aber nur, weil du so schnell
keine zwei gleichen Menschen findest.« Nomi suchte in seinem
Tonfall nach Hinweisen, auf das, was Andor gesagt hatte - daß
der Flötenspieler kein Mensch war, oder kein Mensch mehr. Aber
es war ein Satz, wie ihn auch Nomi hätte sagen können -
Nomi, der manchmal selbst nicht sicher war, ob er mit seinem
Schatten nun ein Mensch war oder irgend etwas anderes…
»Ihr habt Euch über meinen Schatten nicht
gewundert«, sagte er leise. »Höchstens, daß
er anders war als von Euch erwartet. Aber wie konntet Ihr
überhaupt etwas erwarten? In der Prophezeiung steht nicht,
daß ich einen Schatten habe.«
Shen lachte kurz und ging dann weiter, und Recht hatte er, reden
konnten sie auch im Gehen, und sie waren nicht aufgebrochen, um am
Wegrand herumzustehen. »Weißt du etwas über die
Prophezeiung, das ich nicht weiß?« Eine Frage, die Nomi
besser zu Gesicht gestanden hätte als ihm!
»Warum fragt Ihr?« fragte Nomi daher zurück.
Shen deutete auf den Weg. »Du bist so zielstrebig
losmarschiert, als wüßtest du genau, wo das Schwert zu
finden ist. Und wenn du nicht mit einem geheimen Wissen geboren
wurdest, das dich zum Auserwählten macht, frage ich mich -
woher kennst du den Weg?«
Leise lachte Nomi in sich hinein. »Darf ich entscheiden,
meine Geheimnisse für mich zu behalten?«
»Natürlich darfst du das. Aber dann werde ich dich
nicht warnen, wenn ich mehr weiß als du und du in
Wirklichkeit in die falsche Richtung gehst.« Shen sagte
wenn, aber auch wenn man jedes seiner Worte auf die
Goldwaage legen mußte, reichte hier schon die Andeutung.
Nomi blickte sich um. Felder zur linken, Felder zur Rechten, und
ein Schatten zu seinen Füßen. »Wenn ich es Euch
sage, werdet Ihr mir dann auch eine Frage beantworten? Es wird
keine, die direkt mit Euch zu tun hat, also -«
»Du weißt, ich entscheide das Frage für
Frage.« Shen hob die Hände, daß Nomi sich weitere
Worte sparen konnte. »Du trägst dein eigenes Risiko.
Aber ich glaube, ich kenne deine Antwort auch so schon.«
Nomi nickte langsam. Hier konnte sie niemand hören. Die
Felder lagen verlassen und wuchsen vor sich hin - eigentlich
traurig, Nomi hätte gern einmal gesehen, wie die Bauern dort
mit ihren Ochsen arbeiteten. Er kannte die Felder, er hatte sie vom
Turm aus sehen können, Felder soweit das Auge reichte, bis
kurz vors Dunkel, aber sie waren zu weit weg, um dort Menschen
sehen zu können, und nun war dort wirklich niemand. Es
mußte auch noch ein paar kleine Dörfer geben, irgendwo
mußten diese Bauern schließlich auch leben, aber im
Moment war es so, als existierten sie gar nicht. Es gab nur Nomi,
und Shen, und Nomi. Er nickte.
»Ich folge meinem Schatten«, sagte er dann.
»Seit mir aufgefallen ist, daß er immer in die selbe
Richtung zeigt, weiß ich, daß er mir den Weg zum
Schwert weißt. Seit Jahren weiß ich das. Aber alles was
ich zu hören bekomme ist, der Schatten ist böse, der
Schatten muß unterdrückt werden, der Schatten ist
gefährlich…« Unnötig zu sagen, daß
Nomi dann auch diese Entdeckung immer für sich behalten hatte.
Aber sie gab ihm einen Grund, seinen Schatten nun niemals wieder
verstecken zu müssen.
»Hm«, sagte Shen, weniger beeindruckt als mehr
belustigt. »Aber woher weißt du, was dein Schatten dir
sagen will? Zeigt er nun zum Gläsernen Schwert, oder vom
Gläsernen Schwert weg?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Nomi und grinste, als
es ihm zumindest einen Moment lang geglückt war, einen
verwunderten Ausdruck in Shens Gesicht zu bringen. »Ich habe
mich entschieden, daß er zum Schwert zeigt. Weil ich es
deutlich einfacher finde, etwas zu folgen, das vor meinen Augen
liegt als in meinem Rücken.«
»Und wenn es doch andersherum ist?« fragte Shen
leise.
Nomi grinste weiter. »Dann kehre ich am Ende der Welt um und
gehe wieder zurück. Dann habe ich ihn vor mir. Und ich bin
noch jung. Darum wollte ich doch jetzt aufbrechen, und nicht erst
in zehn Jahren - damit ich die Zeit habe, auch Fehler zu machen.
Und wenn, sind es zumindest meine eigenen.« Und während
sie weitergingen, immer ungefähr in die Richtung, die der
Schatten wies, fühlte Nomi, daß er in seinem ganzen
Leben noch nie so zufrieden mit sich selbst hatte sein können
wie an diesem Tag.
Sie blieben auf der Straße, selbst als die sich gabelte:
Jetzt zeigte der Schatten ins Feld, aber auch wenn Nomi einen
Augenblick lang ernsthaft mit dem Gedanken spielte, jetzt einfach
weiter geradeaus zu stapfen, welche Hindernisse sich ihm auch in
den Weg stellen mochten, war es doch klüger, ein
Stückweit vom Schattenpfad abzukommen und bei nächster
Gelegenheit wieder in Richtung Schatten abzubiegen. Denn abgesehen
davon, daß die Bauern nicht glücklich sein sollten, wenn
jemand durch ihr Getreide trampelte, kamen sie auf der Straße
doch viel leichter voran. Trotzdem mußte Nomi furchtbar
lachen.
»Was ist?« fragte Shen. »Hast du eine Fliege in
der Nase?«
Nomi schüttelte den Kopf, bis er wieder bei Atem war.
»Die Schweine werden geschlachtet«, brachte er hervor
und mußte nochmal lachen. »Die Schweine, auf die mein
Schatten gefallen sind. Wegen des Tien darf man sie nicht
mehr essen. Wenn die Leute wüßten - mein Schatten
fällt auf ihre Ernte, und niemand erfährt es, und niemand
wird es schmecken, und wenn sie es dann essen…«, und
wieder schüttelte ihn ein Stoß von Gelächter,
»dann sind sie genauso verderbt wie ich!«
Und diese Vorstellung gefiel Nomi doch ungemein gut.
Hier draußen gab es
niemanden, der Nomi Vorschriften machte, und auch niemanden, der
ihm sagte, wann der Tag vorüber war. In der Stadt war es
anders, es gab den großen Gong, der die Nacht
einläutete, und wenn er erklang, wußten die Menschen,
daß es an der Zeit war, die Blenden vor den Fenstern zu
schließen und sich zur Nacht zu legen. Der Gong kam immer
dann, wenn Nomi ihn gerade nicht brauchen konnte - wenn er noch mit
draußen spielen wollte oder noch mit seinen Freunden zusammen
sitzen oder zumindest einfach noch nicht schlafen gehen mochte.
Aber jetzt, wo es weit und breit keinen Gong gab und keine Fenster
und keine Blenden, wurde Nomi doch immer unsicherer.
»Shen?« fragte er leise, und es war das erste Mal,
daß er ihn wirklich mit dem Namen anredete. »Wann wird
es Nacht?«
Der Flötenspieler blickte ihn mit hochgezogener Augenbraue
an. »Du wirst dich noch ein paar Tage gedulden müssen,
bis wir die Grenze erreichen. Kannst du das Dunkel nicht
erwarten?«
Nomi schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine - wann
sollen wir uns schlafen legen? Woran merken wir, daß es Zeit
ist?«
Shen schüttelte langsam den Kopf. Einen Moment lang sah er
aus, als ob er wirklich an Nomis Verstand zweifelte. »Woran
du das merkst? Ich vermute, daran, daß du müde
wirst?«
»Mir tun die Füße weh«, sagte Nomi
zögerlich. »Und die Beine auch. Ich könnte mich
nochmal für einen Moment hinsetzen und ausruhen, aber
schlafen?« Er überlegte kurz und fühlte in sich
hinein. »Ich glaube, ich bin noch viel zu wach zum
Schlafen.«
»Dann ist es doch einfach.« Shen deutete auf den
Wegrand. »Machen wir eine Pause, erhol deine Füße,
dann gehen wir weiter, solange, bis du meinst, es ist an der Zeit
für dein Nachtlager.«
»Oder Ihr«, setzte Nomi schnell hinzu. »Wenn Ihr
vor mir müde werdet…« Es sollte eigentlich
höflich klingen, aber nun wirkte es mehr, als hätte er
Shen Schwäche unterstellt. »Aber Ihr seid das Wandern
natürlich besser gewöhnt als ich.« Die
längeren Beine hatte er auch noch, aber Nomi wollte nicht den
Rest des Tages damit verbringen, einem Mann zu schmeicheln, den er
versehentlich beleidigt hatte. Keine Entschuldigungen, auch nicht
durch die Hintertür.
»Oder ich«, antwortete Shen nur.
Und als sie dann im Gras am Feldrain saßen und Nomi sich die
Schuhe abstriff, um seine Füße zu massieren, merkte er
erst, was für einen Hunger und Durst er inzwischen bekommen
hatte. Jetzt war er doch froh, daß seine Mutter ihm die
Wasserflasche und das Brot mitgegeben hatte. Gierig brach er
Stücke heraus und stopfte sie sich in den Mund.
»Wollt Ihr auch etwas?« fragte er den
Flötenspieler, der ruhig neben ihm saß, so bewegungslos
wie an dem Tag, da er ihn zum ersten Mal sah.
»Nein«, antwortete Shen nur. Nicht einmal ‘Nein
Danke’. Es klang so endgültig, daß Nomi
beschloß, dem Mann nichts mehr von seinem Essen anzubieten,
es sei denn, er fragte ausdrücklich danach. Aber er war ja
auch ein Reisender und als solcher selbst für sein
Überleben verantwortlich. Und daß Shen nicht viel
aß, wußte Nomi ja bereits.
Nomi wickelte den Großteil des Brotes wieder in sein Tuch,
trank noch ein paar Schlucke Wasser dazu, und beschloß,
daß das zu reichen hatte. Wenn er sich Mühe gab, konnte
er vielleicht auf die Dauer mit genauso wenig auskommen wie Shen.
Zumindest, wenn er einmal ausgewachsen war. Erwachsene brauchten
nicht mehr soviel Essen wie heranwachsende Jungen, das war kein
Geheimnis. Nur seine Füße taten immer noch weh,
eigentlich sogar noch mehr als vor der Rast. Nomi beneidete Shen um
seine Lederstiefel - darin mußte man besser laufen und
wandern können als in den klobigen Holzschuhen. Aber sie
sollten noch viele Orte sehen, und irgendwo konnte Nomi bestimmt
auch ein solches Paar Stiefel bekommen.
»Woher habt Ihr eigentlich -« Fast hätte Nomi
wirkllich nach den Stiefeln gefragt, doch er besann sich eines
besseren. »Diesen Hut?« fragte er. Das war nun wirklich
etwas, um das er Shen beneiden konnte!
Shen lächelte, eine Hand um die Flöte gelegt.
»Was, denkst du, werde ich antworten?«
Nomi zuckte die Schultern. »Es war mir den Versuch wert. Ich
will auch so einen Hut haben.«
»Jeder, der ihn einmal gesehen hat, will so einen Hut
haben«, erwiderte Shen. »Aber es ist mein
Hut.«
»So wie die Flöte Eure Flöte ist?« fragte
Nomi.
»Vielleicht. Ein wenig. Ich werde es dir nicht
verraten.«
Nomi lachte. Sie waren jetzt Reisegefährten. Eines Tages
würde er es schon noch erfahren. Aber für den Anfang war
es besser, wenn die Geheimnisse geheim blieben - sonst würde
es sicher schnell zu langweilig. Und manche Dinge wollte Nomi in
diesem Moment auch gar nicht wissen.
Nachdem Nomi seine wehen Füße in die Schuhe
zurückgezwungen hatte - und noch ernsthaft überlegte, ob
er nicht zumindest am anderen Tag barfuß laufen sollte, so
wie sie ja auch mit bloßen Füßen kämpfen
gelernt hatten - kehrten sie auf die Straße zurück und
wanderten weiter. Zwar sahen sie nun auch die Häuser, in denen
die Bauern lebten, drei Höfe, links und rechts vom Weg, aber
Nomi hatte keine Lust, dort einzukehren. Er war noch immer nicht
müde, zumindest nicht im Kopf, und der war es ja auch, der
schlafen sollte - und was hätte er den Leuten hier sonst sagen
sollen? Doch höchstens, daß er gerade mit großer
Freude ihre Felder verdorben hatte - und auf den Ärger konnte
er jetzt verzichten.
Noch waren es Felder, an denen sie vorbeikamen, aber am Horizont
konnte Nomi einen Wald sehen, auf den er schon sehr gespannt war.
Aus dem Wald kam das Holz nach Tolai, aus dem Wald kam auch Nomis
Stab, und ein Wald war sicher viel interessanter als das ganze
Getreide. Nomi hoffte, daß sie den Wald noch an diesem Tag
erreichen konnten - oder besser, solange Nomi beschloß,
daß es Tag war - aber dann kam doch viel zu früh der
Moment, wo seine Beine wirklich nicht mehr konnten und wollten und
Nomis Körper auf seinen Gong schlug.
»Ich glaube, es wird Nacht für mich.« Er konnte
nur noch schnaufen, wie nach einem langen Übungskampf, und das
war ihm peinlich. »Wo können wir das beste Lager
aufschlagen?«
»Unter einem Baum«, antwortete Shen. »Ich
weiß nicht, wie du gerne rastest, aber ich mag es, wenn ich
mich anlehnen kann.«
Bis zu den Bäumen war es noch ein ganzes Stück, zu weit
für Nomi. Aber es gab auch ab und an einen einzelnen Baum, an
Weggabelungen oder vor den Bauernhäusern - und wenn sie jetzt
ein Stück zurück gingen, dann konnte Shen seinen Baum
haben. Wenn er denn im Sitzen schlafen wollte. Nomi war es
gewöhnt zu liegen. Daheim hatte er eine Matratze, aber hier
mußte die Umhangdecke für alles reichen. Unter den
Bäumen wuchs Gras, weich, grün und saftig, und sicherlich
hätte er viel schlechtere Orte zum Übernachten finden
können. Trotzdem war es ungewohnt.
Nomi behielt seine Kleider an, bevor er sich in seinen Umhang
wickelte. Er wußte nicht, wie kalt es hier draußen war,
wenn man einmal am Boden lag, und vor allem wollte er sich nicht
vor Shen entblößen. Es reichte schon, daß Meister
Hemon und ein paar der anderen Hüter ihn nackt gesehen hatten
- solange Nomi es selbst entscheiden konnte, wollte er seine Sachen
am Leib behalten, bis auf die Schuhe, natürlich.
Shens Übernachtungsvorbereitungen sahen anders aus. Er setzte
sich wirklich nur vor einen Baum, zog die Beine an und legte den
Kopf zurück - er sah aus, als wolle er für einen Moment
rasten, nicht aber die ganze Nach so verbringen. Und während
er sogar die Stiefel anließ, nahm er ausgerechnet den Hut
ab.
»Wollt Ihr Wache halten?« fragte Nomi. »Glaubt
Ihr denn, daß uns hier etwas angreifen wird?«
Shen schüttelte den Kopf und richtete sein Zopfband, das sich
über den Tag gelockert hatte. »Wenn nicht die Bauern
hinter uns hergekommen sind, solltest du in Sicherheit
sein.«
»Und die Sha-ura? Wir sind hier näher an den Dunklen
Ländern.«
»Wenn die Jäger kommen, hilft dir auch meine Wache
nichts«, antwortete Shen.
»Dann müßt Ihr meinetwegen nicht
aufbleiben«, sagte Nomi. »Es sei denn, Ihr wollt
einfach noch nicht schlafen.«
»Dann sei unbesorgt«, antwortete Shen leise.
»Ich wache nicht um deinetwillen.« Und wieder klang er
so, als würde er keine weitere Frage beantworten, und hatte es
ja noch nicht einmal mit dieser getan.
»Gut«, murmelte Nomi in deine Wolldecke hinein.
»Ihr wißt, was Ihr braucht.« Dann zog er sich die
Nachtmaske über. Die Welt verschwand in Schwärze.
»Gute Nacht, Shen«, flüsterte er. »Und
danke.«
»Schlaf gut, Nomi«, antwortete Shen ruhig.
Und ab dem Moment lag Nomi am Boden und kämpfte mit dem
Schlaf, der nicht kommen wollte. Alles war fremd - nicht nur, weil
der Boden doch härter war als seine Matte, und weil er nicht
daran gewöhnt war, in allen Kleidern zu schlafen. Seine Beine
juckten an den Oberschenkeln und schmerzten von den Knien
abwärts, er hatte unterwegs geschwitzt und fror nun, aber das
Fremdeste waren die Geräusche. Eine dunkle Maske allein
reichte nicht aus, um die Geräusche der Straße
verstummen zu lassen - das Rauschen der Blätter, das Rascheln
des Grases, sogar sein eigener Atem hielt Nomi wach. Und sein Kopf.
Nomis Körper schrie nach Schlaf, aber sein Kopf wollte einfach
nicht zu denken aufhören. All die Rätsel des Tages, Shens
Geheimnisse, die Worte von Hemon und Andor, die Sha-ura, alles
tanzte durch Nomis Kopf, hin und her und rum und rum und wollte
nicht zur Ruhe kommen. Egal wie er lag, etwas drückte ihn,
Gras stach ihm ins Ohr, und die so vertraute Maske störte ihn
plötzlich mehr als sie ihn barg.
Und dann geschah etwas. In die Geräusche von Nomis Nacht
hinein mischte sich etwas anderes, ein dunkles Lied. Im Halbschlaf
wußte Nomi, daß es Shen war, daß er endlich auf
seiner Flöte spielte, aber Nomi war schon zu müde, um
noch den Kopf zu heben und die Maske abzunehmen - eines Tages
sollte er es noch zu Gesicht bekommen, aber nicht mehr jetzt. Alles
was jetzt blieb, war die Musik selbst, ein sanftes, fremdes Lied.
Hätte Nomi nicht gewußt, daß es eine Flöte
war, hätte er das Instrument niemals erraten können, es
klang wie nichts was er kannte und wie nichts, was er sich
vorstellen konnte - er hörte ein lebendes Wesen. Die
Flöte sang, und Nomi spürte, daß sie für ihn
sang. Er wollte sie hören, mit jeder Faser seines Körpers
wollte er sie in sich aufnehmen, solange noch wach bleiben bis das
Lied endete, niemand konnte schlafen bei solcher Schönheit -
alles was an Shen schäbig oder hager erscheinen mochte, war
nun vergessen, alle Fülle, aller Reichtum, lag in seiner
Flöte, in seiner Musik, und Nomi wollte ihr lauschen, so
lange, bis zum Ende der Nacht geläutet wurde -doch statt
dessen umfing ihn der Schlaf.
Und im Schlaf… waren Dinge.
Bilder, denen Nomi keinen Namen geben konnte. Dunkelheit. Angst.
Blut. Schmerz. Verlust - Nomi hörte sich selbst schreien, er
schoß hoch, wach oder schlafend, er wußte es nicht. Er
wollte sich die Maske herunterreißen, er wollte das Licht
zurück, aber er konnte nur in blinder Panik um sich schlagen.
Sein Herz hämmerte lauter als die Flöte… als die
Flöte…
Die Flöte war verstummt.
In diesem Moment, oder vielleicht schon früher, wurde Nomi
von hinten gepackt und festgehalten. Eine Stimme war nah an seinem
Ohr, war in seinem Ohr, aber es dauerte, bis ihre Worte auch in
Nomis Kopf ankamen. »Ruhig. Ganz ruhig.«
Es war Shen, aber auch das begriff Nomi nicht sofort. Da, wo er
gerade herkam, gab es keinen Shen, da gab es nur…
Wieder brach eine Welle der Panik über Nomi herein, und er
konnte nichts tun - er konnte sich nicht mehr rühren, weil
Shen ihn festhielt und weil er sich fühlte wie gebannt, wie
eingefroren, er konnte nicht atmen, die Angst schnürte ihm die
Kehle zu. Er wußte nicht, wie lange. Es war endlos. Wenn dies
Angst war, hatte Nomi noch nie im Leben wirklich Angst gehabt.
Und die ganze Zeit war Shen bei ihm, hielt ihn erst fest, dann im
Arm, und redete beruhigend auf ihn ein. »Ruhig, ganz ruhig,
es geht vorüber.« - und irgendwann ging es vorüber.
Irgendwann hing Nomi in Shens Arm und schluchzte und konnte nicht
sagen, was mit ihm geschehen war, doch er war wieder, wo er war,
und wer er war.
Dann zog sich Nomi die tränennasse Schlafmaske vom Gesicht,
zog die Nase hoch, und versuchte wieder wie ein Mensch zu atmen und
nicht wie ein erstickender Fisch, und der Flötenspieler
ließ ihn los.
»Hast du geträumt?« fragte Shen.
»Ich weiß nicht…« sagte Nomi. Seine
Stimme zitterte noch immer. »Es waren Dinge in meinem Kopf,
Bilder, ich weiß es nicht, es war…« Er brach ab.
Er hatte kein Wort dafür. Bilder, die nicht da waren, aber
wenn er die Augen schloß, huschten sie noch einmal an ihm
vorbei, fremd, namenlos, und dann waren sie fort und nichts blieb
zurück als die Erinnerung, daß sie einmal gewesen
waren.
»Du hast schlimm geschrieen«, sagte Shen. »Wenn
es ein Traum war, solltest du mir von ihm vielleicht
erzählen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Nomi noch einmal. Und
dann traute er sich zu fragen: »Was ist ein Traum?«
Und erst als Shen ihn lange schweigend anblickte, begriff Nomi,
daß ihm in seinem Leben bis zu diesem Tag mehr fehlte als ein
paar früher Erinnerungen oder ein paar alte Ängste. Die
Menschen hatten ihn nicht nur angeloge. Sie hatten ihm auch die
Träume genommen.
»Wenn ich jetzt geträumt habe« - selbst das Wort
fühlte sich für Nomi fremd an, er konnte sich nicht
erinnern, es jemals von einem anderen gehört zu haben, von
seinen Eltern oder Freunden - »muß ich damit rechnen,
daß es wieder passiert?«
Shen nickte.
»Weil ich der Auserwähle bin?«
Shen schüttelte den Kopf. »Menschen
träumen«, sagte er. »Die Träume erinnern
sich, woran du dich nicht erinnerst.«
Nomi krallte seine Finger ineinander. Er war müde, er
mußte weiterschlafen, und wenn dann mehr Träume kamen?
Aber selbst wenn er jetzt doch schon aufstand und sie weitergingen,
irgendwann ging auch dieser Tag zuende, irgendwann mußte Nomi
wieder schlafen, so oder so. »Vielleicht… ist es
gut… wenn ich mich erinnere?«
»Wenn du dich erinnern willst?«
Nomi wußte es nicht. Die Hüter hatten die Schrecken von
ihm genommen, hatten es ihm ermöglicht, ohne Ängste
aufzuwachsen und nicht jeden Morgen in Blut gebadet beginnen zu
müssen - sich nicht zu erinnern, war ein Segen, war
Sicherheit, aber im gleichen Moment war es auch nur eine Lüge.
Das Schreckliche war geschehen, nicht nur in einer Erzählung
der Frau, die seine Mutter sein sollte, sondern in ihm, mit ihm.
»Und wenn ich noch nicht will?«
Shen lächelte. »Wenn du nicht wolltest, würdest du
nicht träumen.«
»Dann will ich es wohl«, murmelte Nomi. »Und
dann ist es besser, es passiert hier, als… als wenn wir
einmal im Dunkel sind.« Aber er bekam bei diesen Worten eine
Gänsehaut. Plötzlich hatte er Angst vor dem Dunkel.
Plötzlich war er nicht mehr bereit. Und sie konnten noch
zurückkehren, umdrehen und heimgehen. Nomi schüttelte den
Kopf. »Ich kann nicht mehr zurück, oder? Selbst wenn es
möglich ist - ich kann nicht mehr zurück.«
Entschieden war entschieden. »Wenn ich gleich wieder
träume, was mache ich dann?«
»Weiterträumen«, antwortete Shen. »Es geht
vorbei.«
Aber obwohl er danach trotz unangenehm nasser Maske wieder
einschlief, träumte Nomi in dieser Nacht nichts mehr. Und auch
die Flöte war nicht mehr zu hören.
Am anderen Tag wanderten sie
weiter, doch sie wußten beide, daß etwas vorgefallen
war, und Nomi mußte mit jemandem reden, bevor ihn die Bilder
wieder heimsuchen würden. Aber war es nicht immer noch besser,
wenn die Erinnerung so langsam kam, als wenn er ihm alles auf
einmal wieder einfallen sollte?
»Warum bin ich nicht entführt worden?« fragt
er.
»Nicht? Von wem?« fragte Shen zurück. Vielleicht
wußte er mehr, als er zugab. Vielleicht wollte er in
Erfahrung bringen, wieviel Nomi schon wußte?
»Die Sha-ura hätten mich fast entführt«,
sagte Nomi. »Sie waren mir nah genug, um meine Eltern zu
töten. Die Hüter haben mich an diesem Tag gerettet -
aber, das ist doch seltsam, oder?«
»Warum seltsam?« Shen wollte ihn aushorchen, keinen
Zweifel. Aber das sollte er ruhig.
»Die Sha-ura sind so gefährlich, daß alle Kindern
sich bei dem Namen hinter ihren Müttern verstecken und
Erwachsenen der Atem stockt. Die sind nicht irgendwer - die sind
die besten, was die Dunklen Länder aufbringen können. Das
kann ihnen doch nicht gereicht haben, daß sie es einmal
versucht hatten! Sie wußten, wer ich bin, und wo ich lebe -
warum sind sie nicht wiedergekommen und haben mich doch noch
entführt? Meine anderen Eltern wären genauso leicht
umzubringen gewesen wie die ersten.«
»Hättest du das denn gerne?« fragte Shen.
»Wärst du gerne von den Sha-ura entführt worden?
Und in einem Dunklen Land aufgewachsen?«
Nomi zuckte die Schultern. Das konnte er nicht sagen, er
wußte nicht, was ihn sonst erwartet hätte. »Ich
glaube, ich bin ganz froh so«, sagte er schließlich.
»Es hätte sonst nie ein Ende genommen - Die Dunklen
hätten mich vielleicht gut behandelt, ich bin ja deren
Auserwählter genau wie bei den Hellen, aber dann wäre
Meister Hemon gekommen, um mich zurückzuholen, und hin und
her, und dauern hätte man meine Eltern
umgebracht…« Ja, er wäre gern im Dunkel
aufgewachsen. Vielleicht hätte er dann gelernt, das Licht zu
lieben.
»Vielleicht darum«, antwortete Shen. »Sie sind
nicht dumm, weder auf der einen, noch auf der anderen
Seite.«
Und er am allerwenigsten. In diesem Moment war Nomi sehr nah
daran, Meister Andors Worten Glauben zu schenken. Das Dunkel
ließ Nomi im Hellen aufwachsen, damit er dann die Seiten
wechseln konnte… Nomi packte seinen Stab fester und hoffte,
daß Shen den dort verborgenen Talisman nicht schon
längst entdeckt hatte.
Den anderen Talisman hatte Nomi in die Tasche gesteckt. Zwar
wollte er ihn im Leben nie mehr tragen müssen, aber wer konnte
wissen, ob nicht der Tag kommen sollte, wo Nomi ihn doch brauchen
konnte? Wenn man ihn nicht erkennen durfte, wenn er kein Aufsehen
erreichen wollte, war der Schatten das letzte, was er brauchen
konnte. Aber wenn man Nomi vor die Wahl gestellt hätte? Einen
Schatten haben und der Auserwählte sein und etwas ganz
Besonderes, und wählen dürfen zwischen Licht und Dunkel?
Oder keinen Schatten haben und ein normales Leben führen
dürfen, aber niemals aus dem Licht oder dem Dunkel
herauskommen, und nichts Besonderes sein oder können? Nomi
schüttelte den Kopf und blickte zufrieden auf den Schatten vor
sich. Im Moment zeigte er fast genau auf den Weg, und auf den Wald,
dem sie sich mit zügigen Schritten näherten.
Und dann begann Nomi zu lachen. Er wußte nicht warum, nur,
daß es an seinem Schatten lag - nur, der war für
gewöhnlich nicht besonders lustig, ein dunkler Fleck am Boden,
ungefähr so geformt wie ein sehr flacher Junge, manchmal, wenn
Nomi ihn aus großer Höhe fallen ließ, auch wie ein
besonders langer flacher Junge - aber lustig?
»Wenn du möchtest, daß ich auch lache«,
sagte Shen, »mußt du mir sagen,
worüber.«
»Mein Schatten«, antwortete Nomi und wußte,
daß das keine Erklärung war, und dann fiel es ihm ein:
»Wenn wir im Dunkel sind, wie kann er mir dann noch den Weg
weisen?«
»Hm«, sagte Shen. »Ich weiß es nicht, es
ist dein Schatten. Ist er kein Teil von dir?«
»Doch…«, antwortete Nomi.
»Mußt du deine Füße sehen, um auf ihnen zu
laufen?«
Nomi schüttlte den Kopf und versuchte, seinen Schatten zu
fühlen. Er konnte ihn fühlen, wenn der Schatten in ihm
eingesperrt war, dann mußte er ihn doch erst recht
fühlen können, wenn er frei war! Mit geschlossenen Augen
versuchte Nomi, seinem Schatten zu folgen, ohne ihn oder
irgendetwas zu sehen. Zumindest hatte er schon lange geübt,
sich blind zu bewegen; er und Dhuan hatten sich ein Spiel daraus
gemacht, mit ihren Holzschwerten zu kämpfen, während sie
ihre Schlafmasken trugen - auf die Finsternis war Nomi vorbereitet.
Und wenn er sich jetzt ganz auf seinen Schatten
konzentrierte…
Mit voller Konzentration marschierte Nomi in den Graben, der neben
dem Weg verlief, stolperte über seine Füße, und
wäre gefallen, wenn Shen ihn nicht beim Ärmel gepackt und
zurückgezogen hätte.
»Du mußt daran arbeiten«, sagte Shen mit einem
Lächeln. »Aber du hast die Richtung ziemlich genau
getroffen.«
Nomi zog sich und seinen Schatten aus dem Graben. Ihm war nicht
mehr zum Lachen zumute, nicht nur wegen der nassen Füße
- er war wütend auf sich selbst. All die Jahre, die er in
Adams Schule vergeudet hatte, und nichts von dem gelernt, auf das
es am Ende ankam!
»Wißt Ihr etwas über Schatten?« fragte er,
um auf andere Gedanken zu kommen als seine eigene
Unfähigkeit.
»Sollte ich das? Bin ich der Schattenwerfer, oder bist du
es?« So etwas in der Art hatte Nomi auch erwartet. Aber
diesmal gab er sich damit nicht zufrieden.
»Nein, ich meine das ernst«, sagte er. »Entweder
ich habe nicht den einzige Schatten auf dieser Welt, dann bin ich
nicht der Auserwählte - oder alle haben mich angelogen und mir
etwas verschwiegen, auch Ihr.«
»Oh, aber ich verschweige dir sehr viel, und das weißt
du.« Shen strich sich amüsiert mit dem Fingernagel
über die Lippen. »Warum auf einmal so
aufgeregt?«
»Mir ist nicht nach Scherzen«, knurrte Nomi.
»Ich will auch einmal richtig mit Euch reden können.
Wenn Ihr immer nur meine Fragen zurückwerft, hilft mir das
nicht, und irgendwann fangt Ihr an, mich zu langweilen.« Und
dann konnte Shen vergessen, Nomi für die Dunkle Seite zu
gewinnen. »Wenn ich der einzige Mensch mit einem Schatten bin
- warum weiß dann jeder, was es ist, und hat ein Wort
dafür? Ich hatte einen Traum, obwohl alle anderen Leute
träumen, und kannte das Wort nicht. Warum also
‘Schatten’?« Die Frage war nicht neu. Aber Nomi
hatte sie nie jemandem gestellt, weil er wußte, daß er
ohnehin keine Antwort bekommen würde oder doch nur eine
Lüge. Es hatte seine Gründe, warum Nomi sich zuletzt das
Fragen abgewöhnt hatte…
Ein solches Grinsen hatte Nomi an Shen noch nie gesehen. So weit
hatte der Flötenspieler seine Mundwinkel hochgezogen,
daß seine Zähne aussahen wie spitze
Reißzähne. Und die blauen Augen funkelten nicht nur, sie
leuchteten regelrecht. Das war schon mal eine Antwort - aber etwas
mehr Information war trotzdem nicht zu verachten. »So«,
sagte Shen durch seine gefletschten Zähne. »Du denkst
also.« Es klang wie ein Lob. »Weißt du, woher das
Wort ‘Schatten’ stammt?«
Nomi schüttelte den Kopf. »Ich würde doch sonst
nicht fragen, oder?«
»Natürlich.« Shen zog die Lippen noch etwas
weiter auseinander. »Es heißt Sha-tien.
‘Böser Fleck’, so kann man es
übersetzen.«
»Sha-tien«, wiederholte Nomi. »Wie in
Tien?« Natürlich. Das hätte er sich denken
können. Und er fragte sich kurz, wie verderbt er inzwischen
sein mochte, wo sein Schatten schon mehr als einen Tag frei war.
Und dann verstand er. »Das heißt, das Wort ist
alt?«
Shen nickte. »Älter als du, vielleicht sogar älter
als dein Schatten.«
»Nein, ich meine - richtig alt.« Nomi wußte
nicht viel über diese Sprache: Ein paar Brocken davon kannte
er, weil es für manches einfach keine neuen Wörter gab.
Aber es war keine ganze Sprache mehr, niemand sprach sie. Zumindest
nicht in Tolai, und wenn sie in anderen Ländern wichtig war,
dann hätte Meister Adam sie ihm beigebracht - aber selbst der
Weise Shri hatte schon die neue Sprache benutzt. Und die
Prophezeiung? Nomi hatte nie danach gefragt, aus welcher Sprache
die ursprünglich gekommen war. Er kannte nur die Worte, die
jeder kannte…
»Richtig alt.« Shen schloß die Lippen wieder und
lächelte sein normales Lächeln. »Hast du dich nie
gefragt, ob diese Welt immer so ausgesehen hat? Ob es immer Licht
und Dunkel gegeben hat?«
Nomi schüttelte den Kopf. »Was hilft es, wenn ich mich
frage? Ich kenne die Antworten doch nicht. Und die, die sie kennen,
behalten sie für sich.«
»Hm«, sagte Shen. »Dann denk darüber nach.
Sonst wirst du die Antworten nicht erkennen, und wenn sie dich in
die Nase beißen.« Er zeigte mit einem Stups seines
Zeigefingernagels, wie er das meinte. »Denk darüber
nach.«
Es gab Helle Länder, und
es gab Dunkle Länder. In den Hellen Ländern gab es
befestigte weiße Städte, saftige Felder,
leuchtendgrüne Bäume, flüsternde Wälder, und
überall war Licht. Das einzige, was diese idyllische
Freundlichkeit störte, war die Nähe des Dunkels. Vier
Länder grenzten direkt an das Land um Tolai, und sie alle
waren Dunkel. In welche Richtung man auch immer reisen mochte,
früher oder später stieß man auf das Dunkel.
Dahinter lagen, angeblich, andere Helle Länder, doch selbst
von der Spitze des Turms aus waren diese nicht zu sehen. Die Welt
endete in einem schwarzen Rand.
Und je näher sie der Grenze kamen, desto mehr merkte man ihre
Nähe. Nicht das Land selbst veränderte sich, es war hell
und fruchtbar wie überall, aber was verschwand, waren die
Spuren der Menschen. Keine Häuser mehr. Keine Wege. Keine
Felder. Die Bäume waren hoch und wild, das Gras ebenfalls, und
wieviele Menschen hätten hier Nahrung finden können, wenn
man den Boden für Felder genutzt hätte? Aber es gab hier
niemanden. Nomi folgte seinem Schatten und war froh darum, denn es
gab hier sonst nichts, woran er sich orientieren konnte.
Bis auf die Finsternis am Horizont.
Sie lauerte in der Ferne, seit Nomi denken konnte, aber nun hatte
er sie immer vor Augen. Sein Schatten strebte zu ihr hin, er schien
länger zu werden und sich ihr entgegenzustrecken, je
näher sie der Grenze kamen. Oder täuschte das nur, und in
Wirklichkeit war es die Dunkelheit, die auf Nomi zu kam? Aber egal
wie man es drehte, was blieb, war ein bedrückendes
Gefühl. Je weniger Menschen ihre Spuren um sie herum
hinterlassen hatten, desto mehr spürte Nomi, daß er
nicht allein war. Und damit meinte er nicht den schweigsamen
Flötenspieler…
Die dunkle Wand vor ihnen kam näher und näher, aber
obwohl sie so eindeutig vor ihnen lag, drehte sich Nomi wieder und
wieder nach hinten um, nach links und rechts und allen Seiten. Er
fühlte sich beobachtet.
»Wovor hast du Angst?« fragt Shen.
»Wenn ich das wüßte…«, antwortete
Nomi. »Ich weiß es nicht.« Es war nicht das
Dunkel, oder nicht allein. Es war in Nomi selbst. Die lauernden
Erinnerungen. Die Träume, die ihn verhöhnten. Bilder ohne
Inhalt, die sich ihm nur verhüllt zeigten und die er nicht
verstand - wie eine Frau unter ihrem Shalar ließen sie nur
ihre Augen erraten, aber alles konnte dahinter sein, und nach drei
Nächten und drei Träumen wußte Nomi nun noch
weniger als zuvor.
Ob Shen jemals träumte, wußte Nomi nicht. Er
wußte ja nicht einmal, ob der Mann jemals schlief! Wann immer
sich Nomi schlafen legte, setzte sich Shen nur hin, gerne an einen
Baum, aber es ging zur Not auch ohne. Und doch zeigte er niemals
Zeichen von Müdigkeit oder klagte über einen schmerzenden
Rücken. Er aß nur wenige Bissen am Tag, mußte
seine Wasserflasche niemals nachfüllen, während Nomi
längst das schmutzig schmeckende Wasser aus den Bächen
trank und dazu abwechselnd hartes Brot oder eine Handvoll
Getreidekörner, die er von den Feldern gepflückt hatte,
kaute. Aber Shen schien all das nicht zu brauchen. Und doch war er
das einzige weit und breit, von dem Nomi wußte, daß er
es nicht fürchtete. Manchmal hörte er nachts die
Flöte, auch wenn er Shen niemals selbst darauf spielen sah,
und mehr als einmal war es Shen, der Nomi tröstete und
beruhigte, wenn die nächtlichen Bilder ihm Angst einjagten.
Nein, Shen fürchtete Nomi am wenigsten von allen und
allem.
»Woher willst du dann wissen, daß es Angst ist?«
fragte Shen. Es war die erste Frage von ihm, die Nomi nicht
verstand.
»Daß es Angst ist? Weil ich es fühle!«
antwortete Nomi, etwas unwirsch. Shen mußte ihn nicht
verhöhnen.
»Kann es keine Ungewißheit sein?« fragte Shen
weiter. »Oder Ärger? Unruhe? Ungeduld?«
Nomi schüttelte den Kopf. »Ich habe niemals behauptet,
daß ich Angst habe! Ihr selbst habt das Wort in Umlauf
gebracht!« Zumindest jetzt konnte er sagen, daß er
keine Angst mehr hatte. In diesem Moment war er zu ärgerlich
auf Shen, oder auf seine eigene Unfähigkeit, den Mann zu
verstehen oder ihm brauchbare Informationen zu entringen.
»Gut«, sagte Shen nur. »Wenn es so ist - dann
sag mir lieber, wer uns folgt?«
»Jemand folgt uns?« fragte Nomi zurück und
fühlte, wie das Blut wieder aus seinem Gesicht wich.
»Woher wißt Ihr das?«
»Weiß ich es? Du bist derjenige, der sich unentwegt
nach hinten umsieht.« Keine Besorgnis lag in Shens Stimme. Er
konnte etwas ahnen oder ebensogut nur Nomi herausfordern wollen.
Aber er wußte ohne Zweifel, wie man Nomi las, und wie man ihn
dirigierte. Es fing schon an, in Nomi zu denken, genau so und genau
das, wie und was Shen wollte.
»Wenn uns jemand folgt…«, sagte Nomi langsam,
»dann weiß ich, wer das ist.« Und es stimmte, er
mußte es zugeben, daß er es seit Tagen ahnte oder
hätte ahnen müssen. Er lachte leise. »Die Helden
haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.«
»Wenn es Helden sind, die uns folgen, warum fürchtest
du sie dann?«
»Ich fürchte sie nicht!« Es brach jäher aus
Nomi heraus, als ihm selbst lieb war. »Und sie sind auch
keine Helden. Sie wären es nur gern!« Yun hatte zu
schnell kehrt gemacht, und Kavi zu schnell von Nomi abgelassen. Wie
hatte er nur glauben können, daß sie sich damit
zufrieden geben würden? Und daß die Hüter ihn
einfach so gehen ließen, ohne zu wissen, was Nomi tat und
welchen Weg er nahm? Niemals. »Zwei von ihnen sind
Kundschafter«, erklärte Nomi, vielleicht ein wenig zu
spät - Shen hatte wenig Gelegenheit gehabt, Nomis
Mitschüler kennenzulernen. »Und wenn sie unseren Spuren
nicht folgen können« - und wußte, daß er
selbst mit seinen hölzernen Sohlen genug Gras platt getreten
hatte - »ist Kavi immer noch ein Akolut und kann versuchen,
das Tien zu lesen, das mein Schatten auf dem Weg
zurückgelassen hat.« Er wußte nicht, ob das
möglich war, wenn die Hüter noch nicht einmal das
Tien in einem lebenden Wesen lesen konnten, aber vielleicht
war es auch einfacher bei etwas, das nicht lebte? Irgendworan
mußten sie ja auch immer gemerkt haben, wenn Nomi seinen
Talisman heimlich abgenommen hatte, selbst wenn er versuchte, ihn
sich noch schnell wieder umzuhängen. »Mindestens einer
von ihnen hat ein Schwert«, redete Nomi weiter - das einzige,
was er unmöglich sagen konnte, ob Devi nun Seite an Seite mit
Yun kämpfen würde, aber er vermutete es: Es hätte
bedeutet, daß Devi sich damit zufrieden gab, nur der
Zweitbeste zu sein. »Und einer von ihnen ist ein guter Ringer
- wir sind nur zu zweit, wir können es unmöglich mit
ihnen aufnehmen.«
»Aber dafür klingst du sehr zuversichtlich«,
sagte Shen mit einem ebenso zuversichtlichen Lächeln.
»Weil sie uns nichts tun werden«, antwortete Nomi.
»Wenn sie es bis jetzt nicht getan haben, werden sie das auch
nicht so schnell. Sie wollen uns nur beobachten und vielleicht
Meister Hemon Bericht erstatten - es mag sein, daß noch ein
zweiter Hüter bei ihnen ist, dann wird es Meister Andor sein -
und den werden sie auch brauchen. Wir locken sie ins
Dunkel.«
»Und dann?« fragte Shen.
»Dann sind sie im Dunkel«, sagte Nomi. »Dann
können sie nicht mehr sehen, was wir machen. Verlieren unsere
Spuren, denn Tien ist dort überall - und wenn sie
Glück haben, finden sie den Weg heim. Und wenn sie Pech
haben…« Nomi sprach nicht weiter. ‘Finden die
Sha-ura sie.’ Das brachte er nicht über die Lippen. Sie
waren nicht oder nicht mehr seine Freunde, aber das wollte er ihnen
nicht wünschen, das wünschte er niemandem.
»Verlaufen sie sich«, sagte er statt dessen. Er wollte
nicht über die Sha-ura sprechen, wenn sie vielleicht ganz nah
waren, ihn längst aus dem Dunkel beobachteten und nur
warteten, daß er ihnen in die Arme lief oder in die Schwingen
ihrer laut- und namenlosen Reittiere. Er wollte nicht sagen
müssen, daß er sie gesehen hatte. Zwar nur in einem
Traum, aber er wußte, daß sie es waren. Lautlos und
tödlich.
Und er wußte, daß er sie wiedersehen würde.
»Wie du meinst«, sagte Shen. »Es ist ihre
Entscheidung, ob und wie weit sie uns folgen wollen. Sie kennen die
Gefahren.« Und Nomi, der ihm am liebsten widersprochen
hätte, hielt den Mund. Sie kannten die Gefahren nicht. Nomi
kannte die Gefahren nicht. Shen allein mochte wissen, was auf sie
zukam. Aber das behielt er für sich.
»Ich will mir keine Gedanken über diese Leute
machen«, sagte Nomi. »Ich will nicht an das Denken, was
hinter mir liegt. Ich will mich ganz auf das konzentrieren, was vor
mir liegt.«
Vor ihm lag das Dunkel. Und es war so nah, daß man glaubte,
es berühren zu können.
Das Licht starb nicht auf einen
Schlag. Es endete langsam, es wich aus der Welt wie ein Sterbender,
der seinem letztem Atemzug nachblickte. Und mit jedem Schritt, den
sie in das dräuende Grau hinein traten, fühlte Nomi mehr
und mehr ein Ziehen an sich und in sich. Das Dunkel wuchs, es
füllte die Lücken aus, die das Licht hinterlassen hatte,
es glitt in jede Ritze, es wollte geatmet werden, geschmeckt,
gefühlt. Es stach in Nomis Augen. Er mußte seinen Blick
abwenden, konnte nicht mehr geradeaus sehen, er starrte nach unten,
auf seinen Schatten - Nomi erstarrte. Er blieb wie angewurzelt
stehen.
Sein Schatten war verschwunden.
Shen wehte an ihm vorbei wie ein schleichender Geist. »Komm
mit, Nomi. Bleib nicht stehen. Nicht hier.«
»Ich kann nicht«, flüsterte Nomi. »Mein
Schatten ist fort.« Er konnte ihn nicht mehr sehen, und was
noch schlimmer war: Er konnte ihn nicht einmal mehr fühlen,
nicht in ihm und nicht außerhalb von ihm. »Ich kann
nicht.«
»Doch, du kannst. Dies ist kein Ort zum Verweilen. Du darfst
nicht zwischen den Ländern stehen bleiben!« Shens Stimme
kam aus weiter Ferne; auch wenn Nomi den Flötenspieler noch
ganz nah vor sich sehen konnte, war er doch schon halb von
Dunkelheit umgeben.
»Ich kann es nicht«, flüsterte Nomi noch einmal.
»Es frißt mich auf.« Das Dunkel wollte ihn nicht
länger trösten. Es war nicht warm, und nicht freundlich.
Es war das Gegenteil von allem, was Nomi in seinem Leben jemals
gefühlt hatte. Es war kalt und tot. Es fraß ihn auf, wie
es schon seinen Schatten gefressen hatte.
Shen kam zurück, kam näher und blieb doch dunkel, und
packte Nomi bei der Hand. »Komm mit, Nomi!« schrie er.
»Es sind nur ein paar Schritte, aber bleib nicht
stehen!«
»Noch ein Schritt, und ich bin nicht mehr.« Nomi
konnte seine eigene Stimme kaum noch hören. Sie entwich ihm.
Das Leben entwich ihm. Alles was blieb, war Kälte.
»Und ich sage, du kommst mit!« schrie Shen und zerrte
ihn vorwärts. Nomi hatte keine Kraft mehr, um sich zu
widersetzen, er konnte sich nicht mehr bewegen, war halb in seinem
Körper und halb außerhalb.
»Ich will nicht!« versuchte Nomi noch zu
flüstern. »Ich will nicht!« Aber es kam kein Wort
mehr heraus. Shen konnte ihn nicht mehr hören. Oder wollte
nicht? Nomi wollte zurück und konnte nicht, zurück ins
Licht, doch er konnte nicht einmal mehr den Kopf wenden, so sehr er
es auch versucht. Er wollte das Licht sehen, und wenn es das letzte
war, was er sah. Shen zerrte ihn vorwärts, und das Dunkel
riß an ihm, und Nomi wollte nur noch zurück und das
Licht sehen, und wenn es das letzte war -
Und es war das letzte.
Nur aus weiter, weiter Ferne hörte er noch die Stimme des
Flötenspielers, ruhiger, erleichtert, fast schon zufrieden.
»Keine Angst. Es ist überstanden. Du bist in
Sicherheit… Imon.«
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