Imon zwinkerte. Zwinkerte
nochmals, und ließ die Augen geschlossen. Das Gefühl von
Lid auf Lid war seltsam, tröstlich und vertraut in einer Welt,
in der alles fremd war. So fremd, dass Imon nicht wußte, wo
er mit dem Wundern anfangen sollte und wo mit dem Angsthaben. Sogar
Imon war fremd - vielleicht sogar am fremdesten von allem.
Er kauerte sich hin, rollte sich zusammen und barg das Gesicht
zwischen den Knien. Seine Knie waren warm. Warm war vertraut.
Jenseits der Wärme lauerten Fragen, und die wollte Imon nicht
stellen und nicht beantworten.
Dann legte sich von hinten ein Arm um ihm, der war auch warm. Und
auch wenn Imon nicht wußte, wer es war, schien sich doch
zumindest sein Körper an die Berührung zu erinnern, und
so ließ Imons Angst nach und wich einer fremden Vertrautheit.
Er hob den Kopf, wenn auch nur ein kleines Bißchen - schon
stach ihm wieder die Kälte in der Nase, und in der Kälte
war noch etwas anderes, garstig und faulig, daß Imon sich
wünschte, nicht mehr atmen zu müssen - und kurz blitzte
ein Gedanke durch seinen Kopf, oder eine Erinnerung: Hatte er
jemals etwas anderes geatmet? Oder überhaupt jemals geatmet?
Trotz der freundlichen Hand, die ihm über den Nacken strich,
überlief Imon ein Schauer von Angst und Kälte, und die
sanftgleitenden Fingerspitzen hinterließen eine Spur von
Kälte und Gänsehaut. Er rollte sich wieder zusammen. Es
rauschte und pochte in seinen Ohren, aber das war vertrauter als
die kalte Stille, die dort draußen lauerte.
»Es ist gut, Imon. Es ist gut. Keine Angst.« Imons Ohr
kannte die Stimme, kannte den warmen Atem, der es berührte,
doch Imon kannte es nicht. »Keine Angst. Es ist alles in
Ordnung.« Ein Arm hielt Imon fest. Eine Hand fuhr ihm
über den Rücken. »Imon. Schau mich an. Keine
Angst.«
Imons Gesicht wollte seine Knie nicht loslassen, und Imons Knie
nicht sein Gesicht. Trotzdem, langsam, löste sich Imon langsam
aus seiner Starre. Er blickte auf - erst hob er den Kopf, als
zöge eine fremde Macht ihn bei seinem Schopf nach oben, und
dann öffnete er die Augen, ebenso fremd und fern. Doch er sah
nichts, nur Dunkelheit. »Wer bist du?« fragte Imon ins
Dunkel hinein, und dann merkte er, daß es die falsche Frage
war. »Wer bin ich?«
»Ich bin Shen«, sagte das Dunkel. »Und du bist
Imon.«
»Ich erinnere mich nicht«, murmelte Imon.
»An was? An wen? An mich? Oder an dich?«
»Ich weiß nicht«, sagte Imon. Eigentlich
erinnerte er sich an gar nichts. Aber er wußte, daß er
Imon war. Weil Shen ihn beim Namen ansprach? Oder schon vorher? Er
schüttelte den Kopf. »Weißt du, warum ich nichts
weiß?«
Shen legte ihm eine Hand auf die Stirn. Ein seltsamer Gedanke
durchzuckte Imon - daß sein eigener Kopf so groß war,
oder die Hand des Mannes so klein, als ob es einmal anders gewesen
war. »Ich weiß, wer du bist. Das soll dir erst einmal
genügen.«
Imon schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht«,
murmelte er. »Wie komme ich hierher? Was ist dieser Ort?
Warum erinnere ich mich nicht?« Es war leicht zu sagen, er
solle sich keine Gedanken machen - die Gedanken machten sich
selbst. »Was geschieht mit mir?«
»Nichts, was in deiner Hand läge«, sagte Shen und
half ihm auf. »Du bist jetzt du, und jetzt hier.«
»Und vor jetzt?« fragte Imon.
»Vorher«, sagte Shen, »warst du ein
anderer.«
Imon blickte an sich hinunter - zumindest dafür reichte das
Licht seines Schattens aus, und er war nicht bereit, in ein fremdes
Gesicht zu blicken, bevor er wenigstens ein wenig von sich selbst
gesehen hatte. »Warum war ich ein anderer?« fragte er.
Oder wie. Oder wann. Es gab soviel zu fragen… Imon blickte
an sich hinunter, an seinem Rumpf und seinen Beinen bis hin zu den
Füßen. War das nicht sein Körper? War er sich darum
so fremd?
»Mach dir keine Gedanken«, sagte Shen. »Gedanken
kann sich deine andere Hälfte machen. Dies ist nicht der Ort
dafür. Es ist auch kein Ort, um zu verweilen. Komm.«
»Aber ich weiß nicht einmal, was für ein Ort dies
ist!« rief Imon. Er wollte nicht fort, nicht bevor er es
wußte. Der Ort machte ihm keine Angst, aber die
Ungewißheit.
Shen legte ihm beide Hände auf die Schultern und beugte sich
vor, so daß sein Gesicht dicht vor Imons war und daß
Ende seines Zopfes Imons Nase berührte. »Kennst du den
Unterschied zwischen Licht und Dunkel?«
Imon verzog unwillkürlich das Gesicht. Die Haare kitzelten
ihn. »Das Dunkel ist überall«, sagte er dann.
»Und das Licht - das Licht ist nur da, wo ich bin.« In
diesem Moment war das Licht da, wo sie beide waren: Shen war so
nah, daß auch er ganz in Imons Licht getaucht war. Vielleicht
fiel Imon erst in diesem Augenblick auf, daß der Mann keinen
Schatten hatte. Und das wunderte Imon mehr, als daß er selbst
einen besaß. Er strich sich die Zopfspitze aus dem Gesicht -
eine dicke Quaste von Haaren, Haare eines fremden Mannes, doch der
Moment, als Imons Finger sie streiften, war seltsam intensiv,
vertraut.
»Dann dreh dich um«, sagte Shen, und weil er Imon bei
den Schultern hielt, nahm er ihm auch das Drehen ab. »Siehst
du das, hinter uns?«
Und Imon sah es. Eine Wand von Licht. Als ob die Welt dort in
einem Meer von Weiß endete. Imon konnte nicht hinsehen. Es
tat seinen Augen weh. Das Licht wollte zu ihm hinüberlangen,
in ihn hineinkriechen - Imon wandte den Kopf ab und schloß
die Augen, doch es war schon zu spät. Das brennende Weiß
bohrte sich weiter als ein hellgrüner Fleck in seine
Stirn.
»Das ist das Licht«, sagte Shen. »Es leuchtet
nicht, aber es ist. Es wird dieses Land nicht berühren,
und in ein paar Schritten ist es nur noch Erinnerung.« Er zog
Imon enger an sich, und sein Zopf rutschte wieder in Imons Gesicht.
»Das Land auf der anderen Seite, wo das Licht ist, wirst du
niemals betreten können. Du bist des Dunkels.«
Die Worte gefielen Imon nicht, obwohl er sie nicht einmal
verstand. »Ich will doch gar nicht dorthin, wo das Licht
ist!« versuchte er sich noch herauszureden.
»Selbst wenn du wolltest«, sagte Shen. »Du bist
des Dunkels.« Er hielt ihn noch etwas fester. »Darum
bist du jetzt hier. Oder sagen wir besser: Hier bist du jetzt.
Darum.« Wieder strich er ihm über die Haare, und wieder
tröstete es. »Komm, Imon. Laß uns
gehen.«
Imon nickte. Das bohrende Licht blendete seinen Kopf noch immer.
Die Zopfquaste strich ihm über die Nase. Halb in Gedanken,
reflexartig, spielerisch, träumerisch, er konnte es sich
hinterher selbst nicht erklären, langte Imon nach dem
baumelnden Zopf, packte das Ende, und zog daran. Er hörte sich
lachen, wie aus weiter Ferne.
»Nein! Imon! Laß los!«
Shens Stimme, als er seine Haare aus Imons Faust befreite, brachte
ihn wieder zu sich und ließ ihn zugleich erstarren. Die
Stimme - die Worte - der Zopf - das alles war vertraut. Es war
schon einmal geschehen.
»Ich kenne dich«, murmelte Imon. »Von…
damals.« Er wußte nicht, wann damals war, doch er war
ein kleines Kind, damals, und zwischen damals und jetzt gab es
nichts und Dunkel. Er bewegte den Daumen über die
Handfläche, über die Innenseite seiner Finger, und
spürte den Widerhall von Haaren aus zwei Zeiten. »Ich
habe… Ich habe dich am Zopf gezogen. Du mochtest es nicht.
Aber du hast… du hast mit mir gespielt.« Imon
hörte seine Worte erst nachdem sie seinen Mund verlassen
hatten. Wie sie hineinkamen, wußte er nicht. »Und dann
- was dann passiert ist - ich kann mich nicht erinnern… Aber
der Rest…«
»Erinnere dich nicht«, unterbrach ihn Shen schroff und
ließ ihn los, stieß ihn dabei fast von sich fort.
»Und erinnere mich nicht. Das Vergessen hat seinen Grund.
Erinnere dich nicht. Das Licht ist noch zu nah.« Mit
Nachdruck warf er seinen Zopf über die Schulter, daß er
außerhalb von Imons Reflexen war. »Du hast geschlafen,
Imon, und das war für dich das Beste. Und jetzt
komm.«
»Aber ich erinnere mich!« sagte Imon trotzig.
»Ich will mich erinnern.« Es war ein schönes
Gefühl, Erinnern. Es gab ihm eine Vergangenheit, und darin war
Geborgenheit, Trost, Wärme. Würde die Dunkelheit um ihn
herum sich auflösen, wenn Imon seine Vergangenheit mit Bildern
füllen konnte? »Warum läßt du mich
nicht?« In diesem Moment war ihm, als müsse Shen nur ein
Zauberwort sprechen, und alles was früher und vergessen war,
würde zu Imon zurückkehren. Und dann war alles gut.
»Warum tust du mir das an?« fragte Imon, und seine
Stimme wurde immer kläglicher. Er erinnerte sich an das kleine
Kind, und das kleine Kind kehrte in ihn zurück.
»Wenn du dich erinnern würdest«, sagte Shen
leise, »wenn du es wüßtest, würdest du mich
hassen. Und ich möchte nicht, daß du mich
haßt.«
»Warum sollte ich dich hassen?« fragte Imon.
Unsicherheit griff nach ihm, doch noch keine Angst. »Was ist
geschehen? Hast… Hast du mir ein Unrecht angetan?«
»Nein«, sagte Shen ruhig. »Aber ich werde
es.«
Imon machte einen Schritt rückwärts. »Das glaube
ich nicht!« stieß er hervor. »Wenn du das
wirklich schon weißt - daß du es tun wirst - dann
würdest du es mir doch nicht sagen! Du wirst mir kein Unrecht
antun! Du darfst es nicht!«
Shen schüttelte den Kopf. »Ich werde es, so wie es
jeder wird, aber ich werde der Schlimmste von allen sein, weil du
mir traust.« Klang er dabei traurig? Imon wußte es
nicht.
»Und du willst nicht, daß ich dir traue?« Imon
tat noch einen Schritt rückwärts und nahm seinen Schatten
mit, daß Shen in der Dunkelheit blieb.
»Nein«, antwortete Shen, und nun war seine Stimme
sanft. »Ich will, daß du mir traust. Eben darum darfst
du dich nicht erinnern. Noch nicht.«
Noch ein Schritt rückwärts. »Ich… ich
verstehe nicht, wovon du redest.«
Shen war jetzt fast völlig in der Schwärze des Dunkels
verschwunden. Nur ein leichtes Funkeln war noch da, wo seine Augen
sein mußten, und seine Stimme war immer noch nah. »Das
ist gut so. Du sollst es auch nicht verstehen. Oder mich. Oder dich
selbst.«
Imon blieb stehen. Weiter zurück zu gehen traute er sich
nicht. Hinter ihm lauerte tückisches Licht, in dem alles sein
konnte. Noch einen Schritt, und er hatte Shen vielleicht auf immer
verloren. Und das wollte und durfte er nicht. Shen war nicht nur
alles, was Imon hier draußen hatte - oder der Schlüssel,
jemals von diesem Ort wieder fortzukommen - sondern er war in
diesem Augenblick auch ein Stück von Imon. Dieser Mann war
seine fehlende Erinnerung. Wenn Imon ihn verlor, verlor er alles
und sich selbst. »Ich traue dir«, sagte er laut.
»Ob du mir irgendwann Unrecht tust oder nicht, jetzt hast du
es noch nicht getan, und ich traue dir.« Jetzt war ein
kurzer Moment. Noch nicht war die Zeit zwischen dem Moment,
als Imon die Augen aufschlug, und dem Jetzt. Aber es war alles, was
Imon hatte. Und es hatte zu reichen. Mit kleinen Schritten trug er
das Licht zurück.
Shen streckte ihm eine Hand hin. »Dann komm, Imon. Heb
deinen Stab auf, denn der andere wird ihn sonst vermissen und
niemals wiederfinden. Und dann komm.« Er deutete auf etwas,
das ein kleines Stück weit entfernt am Boden lag, lang und
gerade und schlank und kaum noch zu erkennen, dort, wo Imons
Schatten endete. Imon zögerte, danach zu greifen, und er
zögerte auch vor Shens ausgestreckter Hand, doch dann ging er
hin und hob den Stab auf.
»Was ist das?« Imon wog den Stab in den Händen.
Er fühlte sich seltsam an - etwas daran wog schwerer, als es
auf den ersten Blick sollte. Etwas daran war mächtig.
»Ist das eine Waffe? Oder ein Zauber?«
Shen zuckte die Schultern. »Es ist nichts, was ich
berühren möchte«, sagte er. »Aber du kannst
ihn zum Wandern benutzen, oder zum Balancieren. Und du wirst ihn
brauchen, wenn wir in den Sumpf kommen.«
»Wenn du ihn nicht möchtest, möchte ich ihn auch
nicht«, sagte Imon, aber er legte den Stab nicht wieder hin -
wo er ihn einmal aufgehoben hatte, war es vielleicht schon zu
spät. Und die Oberfläche, glattes Holz und rauhes Leder,
schmeichelte seinen Händen, sie wollte festgehalten werden und
nicht wieder losgelassen. Imons Hände erinnerten sich, doch
diesmal war es anders als Shens Berührung - die hatte etwas in
Imon selbst geweckt. Das hier dagegen gehörte dem Anderen.
»Das ist nicht deine Entscheidung«, antwortete Shen.
»Nimm ihn mit, er wird dir nützen, aber verliere ihn
nicht.« Er hielt Imon weiter seine Hand hin. »Keine
Angst. Ich werde dich beschützen.«
»Vor was?« Imon fragte nicht nur so. Er wußte
nicht, wovor er beschützt werden mußte. Und dabei
gehörte das zu den Dingen, die er besser wissen sollte.
»Oder wem?«
»Vor der Angst«, antwortete Shen. »Wovor
sonst?«
Imon schüttelte den Kopf. Er hatte keine Angst. Aber
vielleicht auch nur deswegen, weil er nicht wußte, daß
er sie fürchten sollte? »Hast du mich früher auch
beschützt?« fragte er.
Shen strich ihm mit der Fingerspitze über die Lippen, als
wolle er sie versiegeln. »Je weniger weißt, desto
besser«, sagte er. »Je weniger du dich erinnerst, desto
besser. Du warst ein sehr kleines Kind, damals. Wenn du dich
erinnerst, wirst du in diesen Augenblick zurückkehren. Dann
bist du verloren und verwundbar. Und was noch schwerer wiegt: Du
wirst dann wieder zu einem kleinen Kind. Das ist nichts, was wir
jetzt brauchen können. Versuch nicht nachzudenken. Alles hat
seine Zeit. Und dies ist kein Ort für die
Vergangenheit.«
»Aber was für ein Ort ist es dann?« fragte Imon
und war sich nicht sicher, ob er diese Frage nicht schon
früher gestellt hatte, und schon früher eine Antwort
bekommen.
»Wir sind am Rand des Dunkels«, sagte Shen. »Und
müssen weiter, in die Dunkelheit hinein. Du mußt nicht
wissen, warum oder wohin. Geh einfach mit mir.«
»Aber du kennst den Weg?« fragte Imon.
»Ich kenne den Weg«, sagte Shen. »Bleib nur
immer an meiner Seite, und wir werden uns nicht verlaufen. Bleib an
meiner Seite, was immer auch du sehen und hören
wirst.«
Mit der einen Hand hielt Imon seinen Stab fest, doch er hielt ihn
am gestreckten Arm, so weit von seinem Körper, wie es
möglich war, ohne daß ihm die Schulter lahm wurde. Und
so weit wie möglich von Shen entfernt, außerhalb seines
Lichtes. Wenn Shen den Stab nicht mochte, sollte er einen Grund
dafür haben. Mit der anderen Hand griff Imon endlich nach
Shens Fingern. Und es war nicht ihre Kälte, über die er
sich wunderte, sondern daß die Hand nun so klein war im
Vergleich zu seiner eigenen. Aber diesmal wunderte sich Imon nicht
über diesen Moment des Erkennens. Er erfreute sich nur an ihm,
wortlos.
Und ebenso wortlos, Hand in Hand, Seite an Seite, machten sie sich
auf den Weg in die Dunkelheit, dorthin, wo es keine Fragen gab,
aber vielleicht Antworten.
Am Rande der Dunkelheit, oder
am Rande des Lichts, gab es nichts. Zumindest nichts, was man
hätte erkennen können. Zu nah war das blendende
Weiß, als daß sich die Augen an die Schwärze
anpassen konnten, und das machte das Dunkel nur noch Dunkler. Was
dort war, außer Dunkelheit,konnte Imon nicht sagen - nicht,
wie sich der Boden unter den Füßen anfühlte, nicht,
wie die Luft roch, nicht, welche Geschöpfe sich dort
herumtreiben mochten. Es gab nur die Anwesenheit von Licht und
Dunkel, und die nahm jeden Sinn seines Körpers gefangen. Aber
das merkte Imon erst, als er sich weiter und weiter von diesem Ort
entfernte, bis er dorthin kam, wo das Dunkel nur noch war und alles
andere auch.
Shen mußte es eilig haben, nachdem Imon so lange gebraucht
hatte, um auch nur die ersten drei Schritte zu tun - nun zog er ihn
auf seinen langen Beinen vorwärts, sprach nicht, hielt nicht
inne, erklärte nichts. Er war groß, viel
größer als Imon, der manchmal nur mit Mühe Schritt
halten konnte und sich bald eine Pause herbeisehnte, um
verschnaufen zu können. Eine Pause. So lange hatte er
geschlafen, in diesem Körper oder anderswo, Schlaf war Schlaf
- nun brauchte er Zeit, sich an das Wachsein zu gewöhnen.
Seine Füße begannen ihn zu schmerzen, seine Beine wurden
schwer, dabei konnten sie noch nicht einmal weit gekommen sein -
Imon sagte es nicht, doch am liebsten wäre er dorthin
zurückgekrochen, wo er hergekommen war, zumindest für
eine Weile. Imon erinnerte sich nicht an seinen Schlaf, und nicht
an schmerzende Füße.
Aber so wenig die Grenze und das nahe Licht ein Ort zum Verweilen
gewesen sein mochten - das, was sie nun umgab, war noch weniger
dafür geschaffen.
Imon kannte keinen Vergleich. Er wußte nichts über die
Welt, wußte nicht, wie sie aussah, dort wo kein Dunkel war,
und wußte auch nicht, ob das Dunkel immer so war wie hier.
Aber er hoffte, hoffte, hoffte, daß der Rest der Welt anders
aussehen mochte. Denn sonst war diese Welt ein sehr trauriger
Ort.
Alles, was sie ihm jetzt anzubieten bereit war, war ein Sumpf. Und
auch das wußte Imon nur, weil Shen es ihm gesagt hatte:
»Paß auf, daß du nicht in den Sumpf fällst,
Imon.«
Der Sumpf war das, was man nicht sehen konnte. Er lauerte jenseits
der Wege, und er lauerte unter dem, was wie ein Weg schien - eine
trügerische Stille, die doch nicht einmal vorgeben wollte,
schön zu sein. Sie war trügerisch und häßlich,
und das war das Schlimmste: Daß Imon sich nicht einmal
vorstellen konnte, was Schönheit sein sollte. Die Welt, die
sich ihm bot, wollte nicht geliebt werden.
Sein Schatten beleuchtete das wenige, was es zu sehen gab - auf
den ersten Blick wuchs nichts, kein Gras, kein Strauch, kein Baum,
aber dort, wo Imons Licht endete, konnte er dunkle Schemen
wahrnehmen. Sie kamen nie näher, sie verschwanden, wenn er
sich ihnen näherte, und alles was blieb, war die Ahnung einer
Anwesenheit, größer als Imon, größer als
Shen.
Der Boden war uneben, bedeckt mit einer farblosen Masse, die eine
Mischung aus Schleim und Flechten sein konnte - nichts, das einen
Namen verdient hätte, und nichts, was Imon berühren
wollte - so gerne er eine Pause gemacht hätte, er konnte und
durfte es hier nicht. Es war feucht und kalt, feuchter und
kälter als das, was er sich als das Land im Licht vorstellte.
Imon fror, zum ersten Mal in seinem Leben, so wie alles das erste
Mal war, aber es war der Umhang des Anderen, der ihm nun helfen
sollte, wieder warm zu werden. Noch ein fremdes Ding, das nicht ihm
gehörte und ihm nun diente, wie auch der Stab.
Der Stab war das wichtigste. Denn der Boden war nur an seinen
besseren Stellen gräulich und schleimig. An den schlechteren
Stellen lagen Tümpel unter der Oberfläche. Das war der
Sumpf: Ein schwarzer, stinkener Sumpf, der nichts mehr wieder
hergab, was er einmal erbeutet hatte. Imon tunkte vorsichtig seine
Stabspitze in das Wasser, das kein Wasser mehr war, und
fühlte, wie tief es hinunterging. Es bot nur einen leichten
schlammigen Widerstand, der weder Stab noch Körper aufhalten
würde, und hatte keinen Grund. Danach prüfte Imon vor
jedem Schritt, wie sicher der Boden vor ihm war. Wo der Stab
einsackte, gehörte kein Fuß hin.
»Du machst das sehr gut, Imon«, sagte Shen freundlich.
»Ich wünschte, ich könnte dir eine bessere Welt
bieten als dies hier. Aber es ist nicht in meiner Hand, etwas daran
zu ändern.« Er ging vor ihm, langsam und vorsichtig,
doch Imon durfte nicht den Trugschluß ziehen, seine
Füße einfach auf die gleichen Stellen zu setzen wie
Shen. Wo eben noch Weg war, konnte schon einen Augenblick
später der glitschige Tod lauern. »Gib Acht, daß
du nicht ausrutschst. Ich kann dir meine Hand hier nicht geben;
wenn du fällst, gibt es nichts, was ich für dich tun
kann.«
Imon schluckte. Er wollte keine Angst haben, und Shen wollte,
daß er keine Angst hatte - aber es gab hier nichts, um ihn
aufzumuntern, nichts als Dunkelheit und Gefahr. »Ist - ist
die ganze Welt so?« fragte er kläglich. Daß es
einen solchen Unterschied machen sollte, ob Shen ihn bei der Hand
hielt oder nur ein schlanker Rücken vor ihm war! Aber ohne die
tröstende kalte Hand war es nun das Dunkel, das nach ihm
Griff.
»Nicht die ganze Welt«, sagte Shen. »Nicht
einmal das ganze Dunkel. Nur dieser Teil dieses Landes. Und auch
das war nicht immer so, und muß nicht immer so
bleiben.« Vielleicht war seine Stimme traurig, es war schwer
zu sagen. Die Worte kamen von weiter her, als Shen eigentlich sein
sollte, so weit fern, wie Imon sich fühlte.
Jenseits des Sichtbaren bewegte sich etwas, wie ein Haus, das
lautlos vorbei schritt. Nur aus dem Augenwinkel konnte Imon es
überhaupt wahrnehmen, und es konnte ebenso gut eine
Täuschung sein, die durch den Schatten verursacht wurde -
vielleicht war das, was wie eine Bewegung aussah, nichts anderes
als der Schatten des Schattens. Oder einfach nur Einbildung - und
doch schrak Imon immer und immer wieder zusammen, fühlte sich
beobachtet, bedroht. Seine Schritte wurden immer langsamer. Er
bekam Angst vor dem Boden, in den er seinen Stab drückte,
Angst vor dem, was der Stab dort finden mochte.
Und je langsamer er ging, desto weiter fiel er hinter Shen
zurück, bis der graublaue Umhang keine Farbe mehr hatte und
der Umriß des Mannes nur noch zu erahnen war.
»Shen…« Imon wollte rufen, doch er brachte die
Worte kaum hervor. Sie krächzten in seiner Kehle und kamen
nicht einmal zwischen den Zähnen hervor.
»Keine Angst, Imon«, wehte es von vorne, doch Shen
verlangsamte seine Schritte nicht, blieb nicht stehen, um auf Imon
zu warten. Solange er noch ein wenig von Imons Schatten sehen
konnte, schien für Shen alles in Ordnung zu sein. Er war an
das Dunkel gewöhnt, vielleicht brauchte er Imons Licht nicht,
um seinen Weg zu finden? Aber Imon war es nicht gewöhnt, und
für ihn war es nicht in Ordnung.
Am liebsten wäre Imon gerannt, einfach geradeaus, an Shen
vorbei, hinaus aus diesem Sumpf, fort von dem, was hinter dem
Dunkel lauern mochte. Aber je mehr er rennen wollte, desto
langsamer wurde er, desto schwerer wurden ihm die Beine, wollten
seine Augen zufallen. Imon kannte seinen Körper noch nicht
lange und noch nicht gut genug, um ihn zu verstehen. Und das
wußte auch sein Körper. Lange würde er Imon nicht
mehr gehorchen, das zumindest ahnte er.
Und dann hörte er etwas. Es war fern und hatte keinen Namen,
doch es war schön. Vielleicht war das sein Name:
Schönheit. Eine Stimme, die aus keinem Mund kam. Ein Lied, das
keine Worte brauchte. Ein dunkles Lied im Dunklen Land, leise und
lockend. Es war fremd und zugleich seltsam vertraut - nicht das
seltsam Vertraute des plötzlichen Erinnerns, sondern wie
etwas, das Imons Schlaf begleitet hatte, während er
träumte. Imon erinnerte sich an seine Träume ebensowenig
wie an die Zeit davor. Aber nun, wo er dieses Lied hörte,
wußte er, daß es sie gab, und daß es ihn
gab. Daß er nicht allein war.
Imon mußte nicht mehr gegen die Müdigkeit
ankämpfen. Er konnte die Augen schließen, sich in die
Dunkelheit fallen lassen und seinem Körper gehorchen, statt zu
versuchen, ihm seinen Willen aufzuzwingen - er mußte nicht
wach sein, um diesem Lied zu folgen. Hier war kein Ort zum Rasten,
aber Imon mußte nicht mehr rasten, um zu ruhen: Im Gehen
konnte er schlafen, konnte er träumen - das Lied sagte ihm
denWeg, sagte ihm, daß er keine Angst haben mußte. Es
war wie eine warme Hand auf seiner Schulter, eine freundliche
Berührung, die ihn führte, sein Kopf war voll Licht, es
war alles in Ordnung -
Das Lied klang immer noch in Imons Ohren nach, als er von zwei
Händen gepackt und festgehalten wurde. »Imon!
Hörtst du mich? Imon!«
Imon zwinkerte. Einen Moment lang war er sich fremd. Seine Augen
wechselten zwischen innerem Licht und äußerer Dunkelheit
schneller, als er es erfassen konnte, ihm wurde schwindelig, und er
wäre gefallen, hätte Shen ihn nicht festgehalten. Aber
die Beine wollten Imon nicht mehr tragen, und der Kopf wollte nicht
mehr aufrecht gehalten werden, und seine Augen wollten wieder das
Licht sehen.
»Imon! Schau mich an!« Shen fegte mit einer kalten
Hand durch Imons Gesicht. »Schlaf nicht ein! Wenn du
müde bist, sag es mir - aber schlaf nicht im Gehen ein, nie
wieder, hörst du?« Die kalte Berührung machte
zumindest Imons Ohren wach genug, daß die Worte zusammen mit
ihrer Bedeutung bis zu ihm durchdrangen.
»Da war… ein Lied«, murmelte Imon müde.
»Es war… Es war schön. Und ich hatte keine Angst
mehr…« Seine Augen klappten wieder zu. Aber sein Kopf
konnte nicht mehr nach unten sacken, Shen hielt ihn mit einem
Finger unter dem Kinn davon ab. Soviel Kraft in einem
Finger…
»Es war mein Lied!« Shen fauchte die Worte mehr, als
daß er sie sprach. »Es war nicht dafür da,
daß du dich in den Sumpf fallen läßt! Wenn du eine
Rast brauchst, sag es mir - ich kann nicht wissen, wann du
müde wirst.«
Imon wollte den Kopf schütteln. »Solange du nicht
müde bist, will ich noch weitergehen.«
Shen lachte kurz auf. »Mach dir keine Gedanken über
mich. Ich finde Rast, wenn ich sie brauche. Aber ich weiß
nicht, wann du müde bist. Du weißt es. Du mußte es
mir sagen!«
Imon brachte noch ein Lächeln zustande. »Dann bin ich
jetzt müde«, sagte er noch, vielleicht. Und sackte
vornüber in die Arme des Fremden, der kein Fremder war, und
schlief.
Er schlief, als ob es der erste Schlaf seines Lebens war, und
vielleicht war er das wirklich. Es war egal, daß Imon
zusammengerollt auf einem klammen Umhang lag, links Sumpf und
rechts Sumpf, unter ihm kalt und auf unfreundliche Weise weich - es
war kein Ort, um sich geborgen zu fühlen, doch der Schlaf
selbst gab ihm eine Geborgenheit, die das drumherum in dunkle
Bedeutungslosigkeit sinken ließ. Er träumte nicht und
brauchte keine Träume - nur Ruhe. Alles was vor diesem Tag
lag, konnte ein Traum sein - das Loch zwischen der Zeit, an die er
sich nicht erinnerte, und dem jetzt. Nur ein Traum, und der sollte
reichen für den Rest seines Lebens. Jetzt schlief Imon, aber
es war sein Körper, der den Schlaf brauchte, nicht sein
Verstand. Sein Verstand sehnte sich nach dem Erwachen. Er wollte
nichts mehr verpassen müssen. So schlief er, reglos und tief,
als solle dieser Schlaf auch zugleich sein letzter sein.
Nicht die Kälte weckte
Imon, und nicht das Seufzen und Stöhnen des Sumpfes, sondern
der Gestank, stechend faulig, der ihm in die Nase kroch und sich in
seinem Kopf ausbreitete - er atmete den Tod ein und den Schlaf aus,
und dann war er wach.
Die Welt am Ende des Schlafes war dunkel und scheußlich wie
die vor ihm. Wenn nicht sogar noch schlimmer: Denn jetzt war Imon
wach genug, um sie mit jeder Faser seines Körpers zu erleben,
zugleich kalt und durchgefroren, klamm bis auf die Haut, sein
Umhang so sehr bedeckt mit faulig riechendem Schleim, daß er
den Stoff durchdrang und den Stoff darunter und die Haut dazu,
daß Imon ihn überall an sich und in sich spüren
konnte. Er saß in Imons Haar und auf der Wangenseite, auf der
er geschlafen hatte, und als er versuchte, ihn dort mit dem
Ärmel fortzuwischen, verschmierte er ihn stattdessen in seinem
ganzen Gesicht.
Imon schniefte und atmete doch nur Schlamm und Schleim ein. Er
fühlte sich zittern, kleiner und hilfloser als vorher. Das
große Neue, das ihn zuvor angetrieben und von der Angst
abgelenkt hatte, war nun Gewohnheit geworden und gab der Welt keine
Entschuldigung mehr. Der Schlaf hatte ihn nicht gestärkt. Er
hatte ihn nur wach gemacht für sein eigenes Unglück. Imon
zwinkerte. Seine Augen tränten. Oder er weinte.
»Denk nicht darüber nach«, sagte Shen. Es waren
nicht die Wörter, mit denen man nach dem Aufwachen
begrüßt werden wollte. »Steh auf und komm mit mir.
Der Sumpf ist nicht unendlich. Wenn wir ihn hinter uns haben, dann
darfst du über ihn nachdenken, und über dich. Vorher
nicht.«
»Aber ich -«, flüsterte Imon.
»Was immer dich bedrücktund bekümmert, es hat Zeit
für später. Und Ort für später.« Shen
rieb Imon mit dem Finger etwas von dem Schleim aus dem Gesicht.
»Und jetzt, wenn du ausgeruht bist, komm.«
Imon nickte. Er fühlte sich nicht gut, eher sogar schlechter
als vor dem Schlafen - aber daran würde sich auch nichts
ändern, wenn er hier stehen blieb, und noch mehr schlafen
wollte er auf keinen Fall. Also machte er sich wieder daran, Shen
durch den Sumpf zu folgen.
»Du hast mich gestern verstanden, hoffe ich«, sagte
Shen. »Du bestimmst die Pausen. Sobald du das Gefühl
hast, nicht mehr zu können, sag mir Bescheid, sofort. Ich kann
nicht sehen, was mit dir ist.«
Imon nickte, selbst wenn Shen auch das nicht sehen konnte.
»Hast du wenigstens ein bißchen geschlafen?«
fragte er vorsichtig. Gar keine Rücksicht zu nehmen erschien
ihm doch falsch.
»Wenn du schläfst, wache ich über dich«,
antwortete Shen, ohne sich umzudrehen. »Du mußt keine
Angst um mich haben. Du mußt gar keine Angst haben. Wenn
etwas zum Fürchten kommt, sage ich es dir.«
»Schläfst du denn gar nicht?« fragte Imon.
Diesmal fragte er nicht aus Sorge, sondern aus Neugier. Denn wenn
Shen auf Schlaf verzichten konnte - warum sollte nicht auch Imon
das lernen können?
Vor ihm schüttelte Shen den Kopf. Und er drehte sich auch
nicht um, sondern schritt mit seinen unermüdlichen langen
Beinen weiter durch den Sumpf, als er sagte: »Ich habe einmal
einen Tausch gemacht. Was ich erhalten habe, mußt du nicht
wissen, und auch nicht, was ich gegeben habe, und nicht, ob ich es
heute bereue. Aber am Ende war es alles nur für
dich.«
»Und darum schläfst du nicht?« fragte Imon. Die
Antwort gefiel ihm nicht. Jetzt klang es, als ob er Schuld war
für etwas, das er nicht kannte und nicht wußte und nicht
verstand. »Und kann auch ich so einen Tausch
machen?«
»Nein«, sagte Shen. »Und was würdest du
geben wollen?«
Imon antwortete nichts mehr. Er schluckte nur, und schluckte
nochmal, und fühlte sich klein und jämmerlich, als
müsse er jeden Moment zu weinen anfangen. Wenn er einen Tausch
machen könnte, dann würde er hundertmal seinen Schlaf
geben für ein anderes Leben. Eines, das nur ihm gehörte.
Eines, in dem das Licht ihm keine Angst machen und das Dunkel ihn
nicht mehr verschlingen mußte. Eines, in dem es keinen Sumpf
mehr gab und keine Rätsel und keine Fragen und keine
Geheimnisse. Ein Leben, in dem es den Anderen nicht mehr gab.
»Komm her«, sagte Shen und blieb stehen. »Komm
her, Imon. Ich will dir etwas zeigen.«
Imon schluckte zum hoffentlich letzten Mal und trat näher an
Shen heran. Was immer der Mann ihm zeigen wollte, allein die
Tatsache, daß er nun wieder im Licht stand und nicht nur an
dessen Rand, war ein Anblick, der Imon tröstete.
»Hier«, sagte Shen, und dann sah Imon zum ersten Mal
die Flöte, deren Klang ihn gestern so verzaubert hatte. Wie
schön sie war! Imon lächelte. Allein der Anblick des
dunklen Holzes weckte in ihm wieder Erinnerung an das dunkle Lied,
und als er mit seinen Augen allen geschnitzten Linien und Mustern
folgte, erkannte er darin die Melodie, welche ihn durch den Sumpf
geführt hatte.
Imon senkte den Kopf und hielt das Lächeln fest in seinem
Herzen. »Danke«, sagte er.
»Du weißt, was das ist?« fragte Shen - und auch
er lächelte dabei, aber auf etwas andere Weise.
Imon nickte. »Deine Flöte«, sagte er. »Du
sagst mir, ich soll keine Angst haben, aber der Flöte kann ich
es leichter glauben.«
Shen legte den Kopf schief. »Wem du glaubst, ist deine
Sache, solange du es nur glaubst. Aber ja. Es ist meine
Flöte.« Sein Lächeln veränderte sich, und mit
einem Mal war Liebe darin, die Imon nicht entging. Sie galt nicht
ihm. »Ich möchte dir eine Frage stellen. Du mußt
sie nicht sofort beantworten. Du mußt sie überhaupt
nicht beantworten, wenn du nicht magst. Was wärst du lieber:
Der Flötenspieler, oder die Flöte?«
»Die Flöte natürlich!« Die Worte brachen aus
Imon heraus, bevor er auch nur nachdenken konnte.
Shen nickte und schob die Flöte wieder in eine Halterung
zurück, die er an seinem Gürtel trug. So war sie fast
ganz hinter seinem Umhang verborgen und doch immer direkt an seiner
Seite. »Du antwortest, als gäbe es keine andere
Möglichkeit.«
»Ja«, sagte Imon. Die Frage verwunderte ihn, aber das
machte sie nicht weniger einfach zu beantworten.
»Warum?« fragte Shen.
Konnte er sich das nicht denken? Oder wollte er doch nur Imon
testen, ihn auf andere Gedanken bringen, damit er den Sumpf nicht
mehr fürchten mußte? »Ein Flötenspieler ist
nichts ohne seine Flöte«, antwortete Imon langsam. Die
Antwort zu begründen war doch viel schwieriger als die Antwort
selbst. »Aber eine Flöte ist immer eine Flöte. Sie
trägt ihre Stimme in sich, und ihre Magie.«
»Du glaubst, es ist Magie in meiner Flöte?«
fragte Shen.
»Ich habe sie doch gehört«, entgegnete Nomi, als
ob das alles sagte - dabei wußte er noch nicht einmal, was
Magie war. Oder besser: Was sie sonst sein sollte, wenn nicht in
der Stimme dieser Flöte.
»Aber du glaubst mir«, redete Shen weiter,
»daß ich die gleiche Frage dem Anderen gestellt habe,
der deinen Körper teilt, und daß seine Antwort eine
andere war?«
Glauben mußte Imon es wohl. Aber es machte ihm den Anderen
noch fremder. »Warum?« fragte er.
Shen lachte leise. »Er hat es mir nie gesagt. Er hat noch
nicht einmal geantwortet, so offensichtlich war ihm seine Meinung.
Wenn du jemals gefragt wird, was der Unterschied ist zwischen euch
beiden: Das ist er.«
Und, daß der andere im Licht leben durfte. Aber das sagte
Imon nicht. Er seufzte nur. »Wenn wir gleich
weitergehen«, bat er, »kannst du dann wieder auf ihr
spielen?«
»Ich entscheide, wann es an der Zeit ist zu spielen.«
Shen drehte Imon wieder den Rücken zu, während er sprach.
»Ich erlaube dir, zuzuhören, wenn ich spiele.«
Seine Stimme war wieder kühl und fern. »Aber ich werde
nicht für dich spielen, egal wie oft du mich darum
bittest.«
Dann ging er weiter, und Imon folgte ihm, mit gerade soviel
Abstand, daß die Spitze des Schattens noch auf Shen fiel.
Imon sagte nichts mehr, und er stellte auch keine Fragen mehr, war
wieder damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten und
nicht abzurutschen oder mit dem Fuß steckenzubleiben. Der
Sumpf war der gleiche wie zuvor, und ebenso scheußlich - das
Zischen und Blubbern war immer um sie, und auch der Gestank, so
sehr sich Imon auch wünschen mochte, sich daran zu
gewöhnen. In seinem Bauch rumpelte und grummelte es vor
Abscheu. Imon sehnte sich das Ende des Sumpfes herbei. Und wenn die
Dunkelheit fortdauern sollte: Ohne den Sumpf war sie sicher
leichter zu ertragen. Oder, andersherum: Diesen Sumpf hätte
Imon auch im Licht gehaßt. Ihm war schlecht, und schwindelig,
und er konnte nichts dagegen tun, als verbissen hinter Shen
herzustapfen und sich zu wünschen, daß sie das Ende
schnell erreichten. Vor Übelkeit war warm und kalt zugleich,
und Spucke lief ihm in den Mund, daß er immerzu schlucken
mußte. Aber keine Rast der Welt hätte etwas daran
ändern können, und so sagte Imon auch davon nichts. Es
reichte schon, daß Shen ihn für einen Schwächling
halten mußte und für einen Klotz an seinem Bein - da
mußte Imon nicht auch noch die ganze Zeit mit Jammern und
Winseln verbringen. Er stellte sich die Flöte vor. Aber es war
nicht das gleiche, wie sie zu hören.
Vielleicht konnte Shen Gedanken lesen. Vielleicht wollte er nur
sehen, wie hartnäckig Imon war und wie leicht er nachgab.
Vielleicht hatte er einfach beschlossen, daß es jetzt an der
Zeit war. Denn gerade, als der dunkle Sumpf für Imon fast
unerträglich wurde, nahm Shen wieder seine Flöte hervor,
und das Lied setzte wieder ein.
Imon hätte ihm gerne dabei zugesehen - nicht um zu lernen,
wie man die Flöte spielte, aber um die Liebe in Shens Augen zu
sehen. Ohne Liebe war diese Magie nicht möglich. Diese
Flöte wurde geliebt; vielleicht wollte Imon darum gerne eine
Flöte sein. Er tat Shen unrecht; Shen war gut zu ihm, besser
als man an einem Ort wie diesem erwarten konnte: Aber Imon
fühlte, daß Shen seine Flöte immer noch mehr liebte
als alles andere, oder als jeden anderen.
Aber er ließ Shen alleine spielen und blieb hinter ihm,
versuchte nicht aufzuholen. Er wollte nicht riskieren, daß
Shen sich gestört fühlte und aufhörte. Wichtiger als
sehen war hören, nicht nur, wenn es um die Flöte ging.
Dies war das Dunkel. Imons Ohren waren kostbarer als seine Augen -
sie konnten weiter sehen und mehr verstehen, was um ihn herum
vorging, und sie waren auch nicht so einfach zu täuschen -
Vorsicht!
Wieder ertappte sich Imon dabei, daß er kurz davorstand, die
Augen zu schließen und, ganz seinen Ohren gehorchend, in sein
Verderben zu laufen. Er schüttelte sich, riß die Augen
auf, die ihm fast schon zugefallen waren - müde war er nicht,
diesmal hatte er keine Entschuldigung! - und sah sich nach allen
Seiten um, hektisch, um nur ja kein Schemen, keine Gefahr zu
übersehen. Keine Angst. Keine Angst. Er wußte es
längst selbst. Solange die fremden Gestalten in der Ferne
blieben, mußte er sie nicht fürchten.
Aber dieses Mal sah Imon etwas anderes. Im Sumpf waren Lichter.
Sie waren nicht wie sein Schatten, jedes von ihnen nur ein kleines
Aufflackern, das schon einen Augenblick später erstarb. Dort
eines, und dort eines, und dort - mitten im Sumpf, wo kein Mensch
laufen konnte, und sie gaben ihr Licht nur für sich selbst, so
wie Shen auch nur für sich selbst spielen wollte. Ihr Licht
war bläulich, und es machte Imon keine Angst - sie waren
schön, diese kleinen Flämmchen, und friedlich, als wolle
sich selbst der Sumpf für das Lied bedanken. Imon ließ
sie sein, versuchte nicht, eines zu fangen: Er hatte sein eigenes
Licht, wo er es brauchte. Aber auch so taten die Sumpflichter ihm
gut. Sie zeigten ihm, daß es selbst hier, in der
feindseligsten aller Welten, zumindest ein kleines bißchen
Licht gab. Imon würde Shen danach fragen, wenn der zuende
gespielt hatte. Aber vorher nicht. Er sollte spielen dürfen,
soviel er wollte, ohne unterbrochen zu werden. Wenn er selbst
entschied, wann er mit dem Spielen anfangen wollte, dann sollte er
auch selbst entscheiden, wann es an der Zeit war, die Flöte
wieder sinken zu lassen. Oder war es in Wirklichkeit die
Flöte, die das entschied, und Shen gehorchte nur ihrem Willen?
Imon lächelte bei der Vorstellung, und er lächelte bei
den tanzenden Flämmchen, und plötzlich war der Sumpf um
ihn herum viel weniger schlimm als zuvor.
Und er ging ohne Angst und mit leichtem Herzen hinter Shen her und
kam nicht einmal auf die Idee, sich zu fragen, warum ihm immer noch
irgendwie übel war, warum das üble Gefühl in seinem
Bauch sogar immer schlimmmer wurde, bis plötzlich seine Knie
zu zittern anfinden und Imon das Gleichgewicht verlor, und bevor er
auch noch etwas sagen konnte, zur Seite wegkippte, und in den Sumpf
fiel.
Der Sturz ging sehr schnell.
Selbst zum Schreien fehlte Imon die Zeit, und zum Denken sowieso.
Aber ab dem Moment, in dem er die Oberfläche durchbrach, stand
sie still. Zuerst tauchte Imons Hand durch die kalte
Schleimschicht, die den Sumpf bedeckte, und als die Hand im Wasser
darunter angekommen war, folgten ihm Arm und Schulter, langsam,
durch den stinkenden Tod. Was dann folgte, war ein Wettlauf - der
Schauer breitete sich über ganzen Imons Körper aus und
war dabei nur um Haaresbreite schneller als der Sumpf, der Imon
verschlang. Und nachdem einmal Imons Kopf unter Wasser war, gab es
all diese Beobachtungen nicht mehr. Ab dem Moment gab es nur noch
Schwärze, und Kälte, und nackte, blinde Angst. Imon war
im Sumpf. Und der Sumpf war überall.
Wo war oben? Wo war unten? Imon fühlte sich strampeln und
wußte nicht einmal, in welche Richtung er strampeln sollte.
Aber strampeln mußte er, nur um zu spüren, daß er
noch am Leben war. Stechendes kaltes Wasser quoll in seine Ohren,
seine Nase, es füllte seinen Mund, es wollte in seine Augen
kriechen, die zuzukneifen noch viel anstrengender war als das
strampeln. Imon konnte nicht sagen, ob er schwamm oder stieg oder
sank, oder wo er war, oder was. Es gab nur den Sumpf, und die
Angst, und das wissen, daß er an diesem Ort sterben
würde. Und dann gab es nichts mehr.
Dann war oben wieder oben. Oben war da, wo etwas hartes gegen
Imons Schulter stieß. Wild strampelnd, um sich schlagend und
tretend, durchbrach Imon mit seinem Kopf zum zweiten Mal die dicke
Schleimschicht, und das zweite Mal war ebensoschlimm wie das erste.
Er schnappte nach Luft und schluckte doch nur Sumpf, während
er die Augen immer noch fest zusammenkniff. Unten stießen
seine Füße in etwas Weiches, stießen hinein und
hinein und fanden kein Ende, und das Weiche umschloß Beine
und Füße und wollte sie nicht mehr hergeben. Imon
blubberte und gurgelte. Er wollte schreien, er wollte Luft, doch er
konnte nur husten und ächzen und spucken, als der Schleim ihm
aus der Nase hinten in den Rachen rann. Er hörte sein Herz
hämmern und sein Blut rauschen. Alles andere, alles was von
außen kam, erstickte in seinen Ohren. Imons Hände waren
über Wasser, er wedelte hilflos mit ihnen, doch er konnte
nichts tun, er konnte nichts sehen, nichts fassen.
Imon hing zwischen Luft und Sumpf wie zwischen Leben und Tod, und
es ging nicht weiter, in keiner Richtung, nicht nach oben und nicht
nach unten - und die Zeit um ihn herum stand still.
Etwas packte seine Hand, und dann wurde aus dem etwas ein jemand,
und Imon wußte, daß es Shen war. Doch der Griff war
nicht fest, berührte nur seine Finger und glitt wieder ab,
noch bevor Imon zurückpacken konnte. Shen zog ihn nicht aus
dem Sumpf. Imon wollte nicht weinen, doch die Tränen quollen
von selbst aus seinen Augen, und sie wuschen den Sumpf aus seinen
Wimpern, daß er sich endlich getrauen konnte, sie zu
öffnen. Selbst wenn ihm dann der Schlamm von der Stirn
hineinrann - es konnte doch wirklich nicht mehr schlimmer werden,
als es schon war. Imon öffente die Augen, den Kopf weit in den
Nacken gelegt, über ihm die Schwärze. Er konnte sein
eigenes Licht nicht mehr sehen. Es leuchtete nicht nach oben. Und
unten im Sumpf, in Wasser und Schlamm, konnte es leuchten und
leuchten, soviel es wollte - es war niemand da, um es zu sehen.
Imon hustete und spuckte. Dann sah er Shens Gesicht, nicht weit
von seinem entfernt und doch weit fort im Dunkel. Gerade so eben
konnte Imon noch raten, daß Shen vor ihm auf dem Boden
kniete, daß er ihm eine Hand hinhielt, die Imon nicht
ergreifen konnte, so fern war sie. Shen sagte etwas. Imon sah die
Bewegungen seines Mundes, ahnte die seines Unterkiefers, doch er
hörte immer noch nichts als sein eigenes Herz, und er konnte
die Worte nicht raten. Er schüttelte den Kopf, wagte nicht
einmal zu sagen, daß er nichts hören konnte. Wenn er
auch nur seine Zunge bewegte, füllte der Geschmack des Todes
seinen ganzen Kopf aus. Mit weit aufgerissenem Mund, röchelnd,
wo er den Atem nicht mehr anhalten konnte, deutete Imon fahrig auf
seine Ohren.
Shen nickte. Er zeigte Imon erst seine Handflächen, dann rieb
er sie gegeneinander, immer wieder, drehte sie dabei hin und her -
er wollte, daß Imon es ihm nachtat. Den Schleim abstreifen.
Imon gehorchte, fühlte sich noch dümmer als
kläglich, daß er selbst nicht darauf gekommen war. Aber
er war hilflos, er was das hilflose kleine Kind, das zu werden Imon
ihm verboten hatte. Dann mit den Handflächen an den Ohren
vorbei, und wieder abstreifen. Über das Gesicht, und
abstreifen - es half immer nur ein wenig, der Schleim saß an
den Fingerspitzen, auf dem Handrücken, zwischen den Fingern.
Aber selbst wenn es nur ein wenig half, war das schon etwas. Shens
Gesten sagten noch etwas anderes, etwas, das Imon auch ohne Worte
verstehen konnte: Ruhig. Keine Angst. Alles wird gut.
Aber es war nicht gut. Imon steckte mit den Füßen fest,
so fest, daß er keinen von ihnen frei bekam, so sehr er auch
zerren mochte - je mehr er es versuchte, desto mehr schien er sich
zu verfangen in immer dickerem Schlamm, und von der Bewegung
rutschte er wieder tiefer, und sein Kinn geriet wieder ins Wasser,
und es biß ihn in den Nacken - das einzig Gute, falls man
irgend etwas gut nennen konnte, war, daß um Imon herum nun
die Wasserfläche offen lag und nicht mehr soviel von der
schleimigen Schicht da war, aber das lag doch wohl nur daran,
daß die jetzt ganz an Imon hing. Imon zappelte und tauchte
und schluckte schlammiges Wasser, und er konnte Shen nicht mehr
sehen -
»Hör auf!« Wie laut mußte Shen
brüllen, daß seine Stimme bei Imon ankam? »Halt
still!«
Imon schnappte nach Luft und Wörtern. »Ich sitze
fest!« brachte er hervor, hustend und schnaubend. »Ich
komme nicht raus, nicht von selbst!« Aber er konnte jetzt
besser sprechen und hören, in seinen Ohren war nur noch
Wasser, das alles dämpfte, doch Imon war nicht mehr ganz aus
der Welt ausgeschlossen. Und auch in Nase und Mund war nichts mehr
ekliges saures Wasser. Zumindest hoffte Imon das. Er konnte sein
Herz weiter hämmern hören. Vor Anstrengung, nicht vor
Angst. Imon durfte keine Angst haben.
»Ich versuche es mit dem Stab«, hörte er Shen
sagen. »Halt dich daran fest!« Und dann schob er Imon
das Ende des Stabes hin. Imon packte es, so wie er zuvor versucht
hatte, die Hand zu packen. »Zieh nicht!« rief Shen.
»Nur festhalten, sonst reißt du mich auch
hinein!«
Panisch ließ Imon den Stab wieder los. Wenn Shen auch in den
Sumpf fiel, dann waren sie verloren - dann gab es nichts und
niemanden, der sie wieder dort rausziehen konnte.
»Nein, halt dich fest!« Shens Stimme war hektisch.
»Ich will, daß du den Kopf über Wasser
hältst! Hast du Boden unter den Füßen?«
Imon versuchte zu nicken und gleichzeitig den Kopf zu
schütteln. »Ich sacke darin in ein«, schaffte er
zu sagen. Und schnell hinterherzusetzen: »Aber ich versinke
nicht noch weiter.« Shen sollte sich keine Sorgen machen.
Vielleicht konnte er das. Imon konnte das nicht.
»Gut«, sagte Shen, etwas ruhiger. »Imon,
hör mir zu, hör mir gut zu. Beweg dich nicht von der
Stelle. Du bist am Rand eines Sumpflochs. Du ertrinkst nicht, da wo
du jetzt bist. Aber wenn du zu sehr strampelst, kannst du nach
hinten wegrutschen. Das Wasser ist dort tiefer. Halt den Stab fest,
halt den Kopf über Wasser, und tu sonst nichts. Vor allem hab
keine Angst. Ich hole Hilfe.«
»Nein!« schrie Imon. Egal ob sein Kopf über oder
unter Wasser war, die schwarze Furcht schlug über ihm
zusammen, kälter und schwerer als das schwärzeste Wasser.
»Nein! Nein!« Mehr konnte er nicht mehr
hervorbringen.
»Was ist?« fragte Shen scharf. »Willst du im
Sumpf bleiben? Für immer?«
»Nein!« schrie Imon wieder. »Geh nicht weg! Du
darfst nicht weggehen!«
Imon wußte nicht, wie alt er war. Er war kleiner als Shen,
und größer, als er sich fühlte. Aber er konnte
nichts dagegen tun, nichts. Und wenn er auch wußte, daß
er sich dumm und kindisch verhielt, war der Teil von ihm, der es
wußte, nicht der Teil, der ihn beherrschte. Nur ein
Aufblitzen von Verstand in einem Meer aus Angst.
Shen hockte sich vor ihm hin, beugte sich so weit zu Imon
hinunter, wie er es wagen konnte, ohne selbst hineinzufallen.
»Ich kann dich nicht rausziehen«, sagt er leise.
»Selbst wenn wir ein Seil hätten - ich bin zu
schwach.«
»Dann bleib nur bei mir!« heulte Imon und streckte
seine Hand nach ihm aus. Er griff ins Leere. Shen war zu weit
für Imons kurze Arme.
Shen nickte nur, und stand wieder auf. »Ich hole
Hilfe.«
»Nein!« schrie Imon. »Bleib hier! Bleib
hier!«
Shen schüttelte den Kopf. »Wir könnten das jetzt
noch endlos so fortführen, es wird sich nichts ändern,
bis zu dem Moment, wo deine Kraft dich verläßt und du
verhungerst. Ich werde nicht lange fort sein, aber ich werde
fort sein. Du bleibst hier, du rührst dich nicht, bis ich
wieder da bin.«
Imon konnte nur noch den Kopf schütteln. Verzweiflung
würgte ihn. Er bekam keine Luft mehr. Er würde hier
sterben. Bis Shen wiederkam, war Imon lange tot, allein, im
Dunkeln. Geräusche kamen aus seinem Mund, aber es war nur ein
jämmerliches Quieken, von dem nicht einmal er selbst
wußte, was es bedeuten sollte. Doch, er wußte es. Shen
sollte bei ihm bleiben. Bis zum Ende.
»Ich gehe jetzt«, sagte Shen. »Fürchte dich
nicht. Du wirst gleich die Flöte hören. Rühr dich
nicht, und schließe deine Augen was immer auch geschieht, bis
ich wieder da bin. Rühr dich nicht, und laß die Augen
geschlossen. Dann wird dir auch nichts geschehen.« Seine
Stimme verwehte, als er sich entfernte. »Du hast nichts zu
befürchten. Nicht den Sumpf, und nicht das Dunkel. Alles, was
du hier fürchten darfst, ist das Licht.«
Und dann war er fort. Fort war seine Stimme, und fort war seine
Flöte. Ob er sie spielte oder nicht - Imon hörte sie
nicht. Er war allein. Ganz allein. Er rührte sich nicht, beide
Hände um den Stab gekrampft, die Augen zugekniffen daß
es schmerzte. Alles andere ging unter in seinem rasselnden
Schluchzen. Und in seiner Angst.
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